Der Magiervon Madeira

Winzerlegende Ricardo Diogo V. Freitas, Madeira, Portugal

Text: André Dominé, Fotos: z.V.g.

Er ist ständig auf der Suche nach neuen Ausdrücken von Madeira anhand der Vielfalt an jüngeren, alten und uralten Weinen, die ihm zur Verfügung stehen und die er mit unglaublichem Einsatz in ihrer Entwicklung begleitet. Seine Blends sind wie die Gemälde eines grossen Künstlers, der das Interesse an seinem letzten Werk verliert, weil ihn das nächste unweigerlich anzieht.

Der Airbus wackelte hin und her. Links auf einer Höhe mit nahen Häusern am grünen Berghang. Dann brachte der Pilot ihn in die Waagerechte und setzte sofort auf. Applaus. Wie vor 35 Jahren, als der Pilot die Boing wie ein Sportflugzeug manövrierte, um auf den ersten Metern der (inzwischen verlängerten) Landebahn aufzusetzen. Sonst hätte sie nicht ausgereicht. Damals traf ich Ricardo Freitas im Diogo’s, dem Weinladen von Barbeito in Funchal. Er schenkte mir einen 1795er Terrantez ins Probierglas. Ein unvergessliches Erlebnis. Der älteste Wein, den ich jemals probierte.

Dieses Mal treffe ich ihn im neuen Firmengelände, hoch oben über Camara de Lobos. Barbeito zog 2008 um in Gebäude mit moderner Kellertechnik, die nicht nur die Arbeit enorm erleichtert. Mit ihr erzielt Ricardo Präzision, und sie ermöglicht Experimente, mit denen er den Ausdruck seiner Madeiras weitertreibt. Aber das Herzstück ist das von ihm selbst konzipierte Lagerhaus. Das Dach besteht teilweise aus Zinkblech, das sich im Sommer stark erwärmt, teilweise aus Beton. Folglich ist ein Teil wärmer, der andere kühler. Im ersten reifen die Weine in ihren Fässern schneller, der Zucker konzentriert sich stärker. Im anderen vollzieht sich die Reifung langsamer, die Weine bewahren mehr Frische, zeigen mehr Eleganz. «Mein Ziel: kältere Temperaturen als die Tradition», betont Ricardo, «was dem Stil meiner Weine entspricht.»

«In Madeira haben wir dieses Wunder: Wir möchten flüchtige Säure erhalten.»

Beim Madeira spielen die nicht klimatisierten Lagerkeller des Canteiro-Systems eine ausschlaggebende Rolle. Die sommerliche Hitze beschleunigt Konzentration und Oxidierung. Jedes Lagerhaus wirkt anders auf die Weine, sogar innerhalb der Lagerhäuser gibt es unterschiedliche Effekte. «Ich habe jedes einzelne Fass im Computer, getrennt nach unseren drei Lagerhäusern», erklärt Ricardo. «Jeden Wein probiere ich 3 bis 5 Mal pro Jahr. Dann muss ich den entstandenen Eindruck zur Lage des Fasses in Bezug setzen können, damit ich die Entwicklung des Weins verstehen kann.» Für jede Verkostung werden die Proben in seiner Weinbibliothek erneuert. Diese ermöglicht es Ricardo zudem, wann immer er will, Blends zu kreieren, wobei Computer und Erinnerung die Richtung weisen. Nach der Verkostung entscheidet er über den weiteren Werdegang jedes Weins. «Ich kann Fässer umlegen, wenn ich die Konzentration verbessern will, kann sie in ein anderes Lagerhaus bringen oder den Wein von niedrigem Niveau auf höheres bewegen. Es herrscht ständig Bewegung.» So verfolgt er die Entwicklung der Weine kontinuierlich. Hier ist er in seinem Element, hier beweist er sein Genie. Indem er dem Potenzial der Weine gerecht wird, hat er eine Fülle von Blends unterschiedlichen Alters kreiert, aber auch als Erster in Madeira Abfüllungen von Single Casks und Single Vineyards herausgebracht. Immer nur in Auflagen von wenigen hundert Flaschen

Zu Anfang eine Katastrophe

Als seine Mutter Ricardo 1991 bat, ihr im Büro zu helfen, kam es zu einem peinlichen Zwischenfall. Eine Lieferung von Barbeitos 3 Years Old an die Supermarktkette Sainsbury’s in England war «wolkig» und wurde zurückgewiesen. Ricardo war zutiefst beschämt. Der alte Kellermeister wurde gefeuert. Nun musste er – ohne jedes Wissen über Weinbereitung – einspringen, doch den Grosskunden hatte Barbeito verloren. Innerhalb von zwei Jahren gelang es ihm, die Produktion des Einstiegsweins, der damals zwei Drittel ihres Umsatzes ausmachte, ganz in den Griff zu bekommen. Die nächste Herausforderung bestand darin, einen neuen Vorrat an alternden Weinen aufzubauen. Ab 1993 hielt er bei jeder Weinlese 30 Prozent der eingekauften Menge zurück. So konnte er 1998 einen ersten eigenen 5 Years Old und 2003 den 10 Years Old lancieren. Ein Durchbruch.

Viel Aufsehen erregte 2004 der erste Malvasia 20 Years Old, denn niemand machte damals einen solchen Blend. Bei allen seinen Blends besteht das Geheimnis darin, dass sie eine Komposition aus jüngeren und älteren Weinen sind. Nach dem Madeira Wine Institute müssen sie nur entsprechenden Alterscharakter besitzen. «In diesem Blend habe ich fünf verschiedene Weine, drei sind 50, 60 und 70 Jahre alt, zwei sind Malvasia von São Jorge 2007 und 2009. Dabei sind die jüngeren Weine extrem wichtig (denn sie balancieren die oft eher aggressiven, aber höchst komplexen alten Weine aus). Gemeinsam werden sie in der Flasche immer besser. Ich sage gern: ‹Ich bin der Pfarrer, und die Flasche ist der Trauring.›»

Zu Mannie Berk von Rare Wine Co. in den USA hat Ricardo eine enge freundschaftliche Beziehung. Am Anfang ihrer Zusammenarbeit beglich Berk ihm drei Jahreslieferungen zur Weinlese im Voraus, sodass Ricardo das Geld hatte, Trauben und Leute zu bezahlen. Bei seinen Besuchen in den USA hielt er Vorträge, in denen er die historische Bedeutung der Madeiras in den Staaten erläuterte, ihrem Hauptabsatzmarkt zwischen 1750 und 1850. Der Import erfolgte über Baltimore. Der dritte USPräsident Thomas Jefferson bezog seinen «eigenen » Madeira, und auch sein Amtsvorgänger George Washington war Madeira-Fan. Daraus entstanden mit Berk die Historic Series, Weine, die sich auf historische Personen, Städte und ihre Vorliebe für Madeiras beziehen. Hier konnte Ricardo seine Liebe zur Geschichte einbringen. Obendrein kreierte er Blends, die im Geschmack den Persönlichkeiten und Orten entsprachen. Rainwater war damals der beliebteste Madeira-Stil in den Staaten. Vor Jahren hatte Ricardo Gelegenheit, einen Rainwater aus dem Jahr 1825 zu probieren, basierend auf Verdelho, der damals verbreitetsten Rebsorte auf der Insel. Das brachte Ricardo 2014 auf die Idee, einen Verdelho speziell zu präparieren. «Statt ihn in einem Fass zu altern, in dem die Konzentration schnell vorangegangen wäre, benutzte ich ein Fuder von 2800 Litern Volumen. » So erzielte er eine geringere und langsamere Oxidierung und damit einen leichteren Stil. 2023 abgefüllt, spricht dieser neue Kunden an und begeistert Sommelier

Ricardo Grossstädte besucht, wo er Seminare und Masterclasses hält, bucht er immer einen zusätzlichen Tag. Dann streift er aufs Blaue los und fotografiert. Ein anderes unerschöpfliches Motiv für ihn sind Weingärten. Wir fuhren zur Nordküste, was dank des Tunnels zu einem Kinderspiel geworden ist. Vor São Vicente bogen wir rechts ab, hinauf in die Hänge. Hier wurde viel Tinta Negra neu angepflanzt, die Ricardo zum grossen Teil übernimmt. Längst hat er bewiesen, dass man aus der roten Sorte exzellente Madeiras machen kann, wenn man ihr die gleiche Sorgfalt zukommen lässt wie den weissen Sercial, Verdelho, Boal und Malvasia. Direkt an der wilden Küste haben sich im malerischen Sexial jetzt Mitte Januar zwei Dutzend Touristen am grauschwarzen Strand ausgestreckt und baden. Mitten im Dorf steht das staatliche Haus einer der drei Familien, die schon mit seinem Grossvater befreundet waren und an Ricardo mit der Bitte herantraten, die alten Weine in ihren Lagerhäusern zu verwalten. Direkt beim Haus gibt es einen schönen Weingarten mit Verdelho. Aus einem Teil der Trauben keltert Ricardo einen sehr gelungenen mineralischen Weisswein. Näher am Meer steht das Lagerhaus der Familie. Am Hang darüber kraxeln wir zu alten kleinen Terrassen, wo die besten Verdelhos und Sercials der Insel wachsen, die den Madeiras einen salzigen Akzent verleihen. Ihnen schenkt Ricardo besondere Aufmerksamkeit. Dann kehren wir im «Baia de Juncas» bei São Vicente ein und beschliessen unser Wiedersehen mit einem unvergleichlichen Eintopf vom hier «Polvo» genannten Oktopus.


Kaleidoskop aus Madeira

Bei Barbeito führt «Tradition mit Passion» durch kreative Innovation zu einmalig komplexen, ewig alternden Weinen – Monate haltbar nach dem Entkorken.

Barbeito – Rainwater Verdelho Lote Especial Medium Dry

92 Punkte | Ab 2025 

85% Verdelho 2014, 15% Sercial 2017, nur leicht oxidierter Stil wie 1825. Grünlich goldener Ton. Elegante, dezent süsse Nase mit getrockneten Aprikosen und gebrannten Mandeln. Intensiv, sehr saftig, feine Süsse, tolle Säure, kandierte Zitronen, köstlich, sehr ausgewogen und animierend.

 

Sercial Colheita 2015

93 Punkte | Ab 2025 

Nur Trauben aus Sexial, nach Verstärkung drei Monate auf den Schalen, in warmem Lagerhaus gereift. Floral, gelbe Früchte, feine Rösttöne. Salzig, fast samtige Textur, viel Dynamik, trocken, sehr lang und originell.

 

Verdelho 1994 Frasqueira

95 Punkte | Ab 2027

Aus demselben Weingarten in Seixal, die Hälfte dort, die andere in Funchal gereift. Goldener Bernstein. Sehr komplex, Rancio, Nuss, Tabak, tanzt am Gaumen. Sercial 1978 aus Seixal, grossartiger Charakter mit Salz, Jod, Rancio, irre Frische – ein absoluter Liebling von Ricardo.

 

Barbeito – 20 Years Old Malvasia

96 Punkte | Ab 2026

Aus verschieden alten Weinen geblendet. Wunderschöner Bernsteinton. Gegrillte Ananas, Feigen, Früchtekuchen in der Nase. Samtige Textur, dicht, sehr komplex, reizvolle Säure, sehr ausgewogen, elegant, ewig lang, stimulierend.

 

40 Years Old Malvasia Vinho do Reitor

98 Punkte | Ab 2025

Die drei ältesten Weine aus dem Besitz des früheren Hochschulrektors plus zwei über 50 Jahre alte aus Barbeitos Canteiros. Bernstein. Sehr intensiv, Gewürze, Trockenfrüchte, Karamell. Verblüffende Frische, Pepp, unaufhörliche Nuancen. Flüssige Geschichte.

 

50 Years Old Três Amigos Medium Sweet

100 Punkte | Ab 2025

Genialer Blend aus 30% Extra Dry Verdelho der 1950er, 48% Boal 1978, 15% über hundert Jahre alt plus 7% Malvasia, die 40 Jahre in Demijohns lagerte. Rötlicher Bernstein. Unglaublich komplex mit irrem Rancio. Sehr intensiv, feine Süsse, tolle Dynamik, grossartige Säure, Charakter, Finesse und ewiger Nachklang.

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