Winzerlegende: Stephen und Prue Henschke, Südaustralien
Schönes Leben mit 600 Grossvätern
Text: Thomas Vaterlaus, Fotos: Henschke
Seit fünf Generationen pflegen die Henschkes ihre um das Jahr 1860 geborenen «Grossväter», die Shiraz-Stöcke bei der Gnadenberg-Kirche im australischen Eden Valley. Die elementare Kraft, die von diesen Methusalem-Reben ausgeht, ist für die Henschkes eine permanente Motivationsquelle.
Es ist eine biblische Szenerie. Obwohl in einer offenen Landschaft liegend, schwebt über dem Hill of Grace eine stille, fast in sich gekehrte Spiritualität. Der Ort hat eine Aura, die über das hinausgeht,was man mit seinen Sinnen direkt wahrnimmt. Vielleicht liegt es an den «Grandfathers», diesen vor exakt 154 Jahren gepflanzten Shiraz-Stöcken, die sich wie mächtige Elefantenfüsse aus dem rötlichen Schwemmsandboden winden und eine fast greifbare Vitalität ausstrahlen.
Am Ende dieses Rebberges, hinter einem strahlend weiss gestrichenen Holzzaun, thront die Gnadenberg-Kirche, so, als wolle sie diesen Rebberg beschützen, aber auch die Winzer stets von neuem an die Botschaft der Bibel erinnern. Und dann ist da auch noch der kleine Friedhof mit den verwitterten Steinplatten im Gras, welche an die Rosenzweigs, Paschkes und eben Henschkes erinnern, die dieses fruchtbare Land bestellt haben, im Tal mit dem verheissungsvollen Namen Eden Valley, wo der Besucher am Strassenrand mehr Grabsteine als lebende Menschen antrifft.
Die Dreifaltigkeit von Kirche, Friedhof und Rebberg ist gewissermassen das persönliche Patrimonium der Henschke-Familie. Ihr Vorfahre Johann Christian Henschke war 1841 von Brandenburg aus, wo die Altlutheraner damals zunehmend diskriminiert wurden, mit seiner Familie nach Südaustralien emigriert, wie Hunderte ihrer Glaubensbrüder auch. Während der hunderttägigen Reise starben seine Frau und zwei seiner Kinder. Mit den zwei verbliebenen Kindern siedelte er in den Adelaide Hills und gründete eine neue Familie. 1862 konnte er jenes Stück Land in North Rhine (später in Keyneton umbenannt) kaufen, auf dem die heutige Henschke-Kellerei steht. Es war sein Sohn Paul Gotthard, der hier 1891 jenen Rebberg übernehmen konnte, der später als Hill of Grace in die Geschichte eingehen sollte.
Rund um diesen Weingarten hat es so viel freien Raum, dass sich die Frage stellt, ob die Wahl des Anpflanzungsortes damals tatsächlich auf weinbauspezifischem Detailwissen beruhte oder ob nicht eher der Zufall Regie führte. Wäre Letzteres der Fall, könnte das heissen, dass der unnachahmliche Charakter des Hill of Grace wohl in erster Linie auf dem Alter der Rebstöcke beruht und nicht auf einem einzigartigen Terroir. «Klar sind die alten Reben ein entscheidender Faktor, aber eben nur im Zusammenspiel mit diesem Boden und diesem Mikroklima», sagt Stephen Henschke.
Neue Power für die Grossväter
Prue und Stephen Henschke haben in den letzten 35 Jahren das Kunststück geschafft, die individuelle Charakteristik des Hill of Grace zu erhalten und diesen Cru doch subtil weiterzuentwickeln. Dabei agierten sie mit der Präzision von Schweizer Uhrmachern. Die Begrünung des Rebberges mit heimischen Gräsern, der Einsatz von biodynamischen Kompost und Düngpräparaten, die Abdeckung des Bodens mit Strohmulch, um die Feuchtigkeit zu binden – all diese Massnahmen tragen ebenso zum guten Zustand der «Grossväter» bei wie die Drahtrahmen-Hilfen, die nicht nur die Belüftung der Traubenzone fördern, sondern auch den alten Stöcken helfen, ihre jährliche Last an vegetativem Wachstum und an Trauben besser zu tragen.
Im zweckmässig eingerichteten Keller, der sich in den letzten Jahrzehnten kaum verändert hat, setzen die Henschkes auf minimale Interventionen, das bedeutet Vergärung mit Naturhefen in offenen Betonbecken, Verzicht auf Filtrierung und zurückhaltende Schwefelung. Ja, im stillen Keyneton hatten Prue und Stephen Henschke die Naturwein-Diskussion schon lange, bevor sie in aller Munde war, geführt, und daraus ihre eigenen Schlüsse gezogen. Die wichtigste Veränderung im Keller war wohl die Umstellung von amerikanischem auf französisches Eichenholz.
Im Vergleich zum ebenfalls hervorragenden, aber oft etwas üppigeren und würziger erscheinenden Mount Edelstone ist der Hill of Grace in jeder Beziehung ein Unikat, das sich einer Einordnung im stupiden Raster Alte Welt – Neue Welt verweigert. Zu den dunkel-, aber eben auch rotbeerigen Aromen gesellen sich stets auch Noten von Kräutern, Minze, Pfeffer, grünen Oliven, Speck und Erde. Und am Gaumen überrascht dieser enorm vielschichtige Grand Cru mit seiner festen Struktur, basierend auf einem betont kernigen Gerbstoff und einer präsenten, saftigen Säure.
Ein Gut mit drei Winzerlegenden
Das Phänomen Henschke beruht nicht auf einer Winzerlegende, sondern auf deren drei. Der charismatische Cyril Henschke (1924 bis 1979) hat die Farm ab den 50er Jahren vom Mischbetrieb in ein Weingut umfunktioniert, konzentrierte sich auf den Anbau von trockenen Weinen und brachte die Lagenselektionen Mount Edelstone und Hill of Grace auf den Markt. Eine enorme Leistung, wenn man bedenkt, wie unterentwickelt die australische Weinbauszene zu jener Zeit noch war.
Sein jüngster Sohn Stephen und dessen Frau Prue haben das Henschke-Projekt konsequent weiterentwickelt. Es gibt kaum ein anderes Weingut, das so konsequent gleichberechtigt geführt wird, wie es Prue (die den Weinbau überwacht) und Stephen Henschke, der Kellermeister, vorzeigen. Entscheidend war wohl auch, dass sie in den Boomjahren nicht der Versuchung des schnellen Wachstums erlegen sind. Obwohl auch die Henschkes heute im Eden Valley und in den Adelaide Hills bis zu 30 verschiedene Weine abfüllen, sind sie Winzer geblieben, die mit beiden Füssen in ihren Rebbergen stehen.
Stephen Henschke übernahm das Weingut im Jahr 1979 unter tragischen Umständen. Seine Mutter, die nach einem Autounfall in psychiatrischer Behandlung war, tötete ihren Mann Cyril unter starkem Medikamenten- und Alkoholeinfluss. Der Unfall geschah an einem frühen Dezembermorgen, als Doris Henschke durch den Lärm von Papageien und Katzen geweckt wurde und ihrem Mann ein Gewehr ans Bett bringen wollte, damit dieser die Tiere damit verscheuche. Als sie am Bett stand, löste sich dann ein verhängnisvoller Schuss…
Vielleicht lag es auch an diesem nicht fassbaren Schicksalsschlag, dass Stephen und Prue die visionäre Arbeit von Cyril Henschke mit so viel Engagement fortführten – als Tribut und um sein Erbe lebendig zu halten.
Sauerkraut und Lektüre
Wer die Henschkes in Keyneton besucht, wird mit einem herzhaften «Waauuu» von Lotti, dem dreijährigen deutschen Dackel, begrüsst. Schnell wird klar, dass das deutsch-schlesisch-lutheranische Erbe auch 170 Jahre nach der Emigration womöglich hier stärker präsent ist als bei Familien, die damals zu Hause geblieben sind. So kann man mit Prue Henschke stundenlang über den Unterschied zwischen vergorenem schlesischem Sauerkraut und dem frisch zubereiteten Henschke-Dämpfkraut mit Speck diskutieren, zu Letzterem empfiehlt sie übrigens einen Innes Vineyard Pinot Gris aus ihrem Gut in den Adelaide Hills.
«Es gibt kaum etwas Schöneres, als durch die Hügel des Eden Valley zu fahren und dabei Klaviermusik von Ravel zu hören.»
Stephen Henschke
Auch die Verbindung zur lutherischen Kirche ist ungebrochen. Der Messwein für die Gnadenberg-Kirche ist ein echter Henschke-Klassiker, nämlich ein Drei-Generationen-Blend im Stile eines Tawny Ports.
Jeweils im Oktober findet auch im Weingut selber ein Gottesdienst statt, bei dem der Wein direkt aus den Fässern in grosse Keramikkrüge gefüllt wird. Die idyllische Abgeschiedenheit von Keyneton, wo man sich oft ausserhalb des Mobilfunknetzes bewegt, mag Prue und Stephen Henschke geholfen haben, sich kompromisslos auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Langweilig ist es ihnen nicht geworden. Für Stephen Henschke ist es noch heute ein Privileg, durch die Hügel des Eden Valley zu fahren und dabei Ravel oder Tschaikowsky zu hören. Oder abends in aller Ruhe ein Buch zu lesen, etwa Sachbücher des amerikanischen Evolutionsbiologen Jared Diamond über die verschiedenartigen Entwicklungswege menschlicher Kulturen.
CA Henschke & Co - Ausgewählte Weine
Ihr Shiraz hat sie weltberühmt gemacht, doch heute keltert die Familie Henschke jährlich rund 25 Weine aus über zehn verschiedenen Rebsorten. Neben exklusiven Icon-Weinen steht der Name Henschke auch für Selektionen mit vorzüglichem Verhältnis von Preis und Qualität.
Weine des Winzers
1 Julius Riesling 2013 Eden Valley
17 Punkte | 2014 bis 2020
Sehr klare Aromen von Limette, frischen Kräutern und Blüten, unterlegt von dezent traubenwürzigen Noten. Am Gaumen sehr geradlinig und dicht strukturiert. Ein überaus frischer, ja knackiger Riesling mit weniger als 12 Volumenprozent Alkohol und 7,5 Gramm Säure.
2 Lenswood Giles Pinot Noir 2012 Adelaide Hills
16.5 Punkte | 2014 bis 2018
Intensive, temperamentvoll wirkende Aromatik mit Erdbeere und Himbeere, dazu eine Spur Minze und Rauch. Am Gaumen dicht gewoben und kernig. Getragen von einer präsenten, sehr frischen Säure.
3 Henry’s Seven 2012 Barossa Valley
16.5 Punkte | 2014 bis 2020
Ein Blend aus Shiraz, Grenache, Mourvèdre und etwas Viognier. Aromen von roten und dunklen Beeren, dazu Sauerkirsche, Lakritze und Garigue-Kräuter. Am Gaumen dicht und kräftig, mit einer geballten Ladung an gutem Gerbstoff .
4 Keyneton Euphonium 2010 Barossa Valley
17 Punkte | 2014 bis 2020
Ein typischer Barossa-Schmeichler mit dunkler Waldbeeren- und Cassisfrucht, dazu eine Spur von Minze und gut integrierte Würznoten. Am Gaumen voll und kräftig, mit einem Anflug von süsslichem Extrakt und angepasster Säure.
5 Mount Edelstone Shiraz 2010 Eden Valley
18 Punkte | 2014 bis 2025
Verschwenderische Aromen von Schwarzer Johannisbeere, Brombeere und Pflaume, dazu eine Spur Minze und Pfeffer. Am Gaumen mächtig, mit ebenfalls viel dunkler Frucht. Obwohl ein Schwergewicht, fehlt es diesem Cru aus hundertjährigen Reben nicht an Frische und Struktur.
6 Hill of Grace Shiraz 2008 Eden Valley
18.5 Punkte | 2014 bis 2030
Vielschichtige, noch elegant-zurückhaltende Aromatik mit Brombeere, schwarzer Kirsche und Heidelbeere, dazu rotbeerige Komponenten. Auch Noten von Lakritze, getrockneten Kräutern, etwas Weihrauch und Pfeffer. Am Gaumen enorm dicht und vielschichtig strukturiert. Nach einem Anflug von Extraktsüsse von viel frischem Gerbstoff und einer präsenten Säure getragen. Eigenwilliger, höchst ausdrucksstarker Wein mit enormem Potenzial.