Winzerlegende: Marie-Thérèse Chappaz
La Grande Dame
Text: Thom Held
Der eigenwillige Urgesteincharakter der Marie-Thérèse Chappaz macht ihre Weine nicht nur zum Vermächtnis einer neuen Zeitrechnung für Schweizer Wein, sondern sollte weiterhin Antrieb für die jungen Nachkommen sein.
Ungestüm und bellend rennt ein schwarzer Hund auf mich zu. «Ganz ruhig!» Und tatsächlich, das Bellen geht über in herzliches Begrüssen. Der Hund ist eine junge Hündin, sie heisst Marlaguette und ist der Chefin auf dem Hof Liaudisaz nach fünf Monaten bereit sinnig ans Herz gewachsen.
Marie-Thérèse Chappaz begrüsst einen strahlend, mit unverbrauchter Natürlichkeit. Sie ist von charismatischer Direktheit und Herzlichkeit, voller Energie, auch wenn sie entschuldigend betont, sie sei sehr müde nach der Ernte. Doch dies ist relativ. «À vigne!», dorthin wo ihr Lebensmittelpunkt zu sein scheint. Wir fahren mit ihrem Arbeitsgerät Auto los. Sie erzählt vom sauren Urgestein Granit und Gneiss des Chamonix-Massivs, auf dem Fully und die Rebberge stehen, wie auch der Hain mit den mächtigen Kastanien oberhalb des Dorfes, den wir gerade passieren. Hier sei das Dorf «un peu sauvage». Das liebt sie, sagt sie. Es ist nicht das letzte Mal, dass sie vom Natürlichen, Wilden schwärmt.
Wer sie kennt, den überrascht das nicht: Sie ist selbst von einer Spur Wildheit beseelt, woraus ein instinktgesteuerter Tatendrang zu erwachsen scheint. Oberhalb der Weinberge geht’s zu Fuss los. Und wie! Sie, die Müde, stürmt los, ja sie springt fast wie ein Reh von Parzelle zu Parzelle, von Terrasse zu Terrasse, über Treppen und Trampelwege, stets umtänzelt von Marlaguette. Was für eine Freude, den beiden hinterherzuhecheln.
J’ai beaucoup de force
Wir sehen Chasselas, Païen, den Savagnin Blanc, der im Wallis auch Heida genannt wird, Gamay, Syrah, Cabernet Sauvignon, Merlot, Petite Arvine, Marsanne Blanche, im Wallis Ermitage genannt. Der Pinot Noir wächst auf der anderen, kühleren Talseite. Später erzählt sie, dass sie zu viele Weine habe und neuerdings noch Completer – die schwierige «Malanser-Traube» – angebaut habe. Verrückt, die Frau!
Der innere Impuls und die Neugier scheinen stärker zu sein als die Vernunft. Sie ist eine impulsive Macherin, packt an vorderster Front selbst an, ein beeindruckendes Energiebündel. Sie musste den gemieteten Weinkeller verlegen, was viel Arbeit bedeutete. Ich werfe ein, sie habe ja keine Angst vor der Arbeit. «Moi? Non!» Schon vor Jahren liess sie mich wissen: «J’aime le travail physique. J’ai beaucoup de force.» Daran hat sich nichts geändert. Auch nicht ihre Begeisterung.
«Du änderst die Vision, dann den Ausbau, und erst dann, mit dem wachsenden Wissen und den Erfahrungen, kommen das Vertrauen und die Erkenntnisse.»
Noch hängen ja die Trauben für die Süssweine an den Reben: die gelbeMarsanne Blanche bereits mit einem Hang ins Bräunliche und die autochthone Petite Arvine heller, mit einem Stich ins Bläuliche und Grüne. Die Traubenfarben spiegeln bereits die Weincharakteristik wider: die etwas voluminösere, säurearme, süsslich-gelbfruchtige Marsanne neben der etwas frischeren und helleren Petite Arvine.
Man muss widerstehen können
Marie-Thérèse Chappaz strahlt immer wieder: «Regarde, c’est magnifique!» Dann wieder: «Regarde, les raisins doux.» Sie kostet immer wieder, mit einer kindlichen Freude. Auch Marlaguette hat die süssen Verführungen entdeckt sie schmaust an den Trauben. Die Chefin staunt, lächelt und weist die Hündin zurecht. Dann wieder: «Regarde!» Sie zeigt, wie sie die Mauern flickt ein Mann aus Belp lehrte sie das Handwerk des Trockensteinmauerbaus. Sie weist darauf hin, wie sie kleine Rampen in die Terrassen eingebaut hat, um mit kleinen Geräten in die Weinberge kommen zu können. Manchmal sind es nur drei Reihen Petite Arvine, dann eine Mauer und wieder drei Reihen. Immens, diese Arbeit.
Unten angekommen, haben wir fast unzählige Rebparzellen gesehen, so viele waren’s, und statt müde zu sein, ist etwas von ihrer Energie übergesprungen. Ich erinnere mich an Worte von früher: Auf Liaudisaz strahlt Lebenskraft. Der wichtigste Impuls zu mehr Lebenskraft neben der Chefin selbst – war das Kennenlernen und Anwenden der Biodynamie vor zehn Jahren. Sie wusste nichts davon, bis sie den berühmten Pionier Michel Chapoutier an «der nördlichen Rhône» Frankreichs kennenlernte. Sofort überzeugt, leitete sie die Umstellung ein und würde nie mehr zurückkehren.
«Wenn man mal Appetit bekommen hat und sieht, wie gut es schmeckt, will man nicht mehr anders.» Sie möge das sehr, Teil einer Evolution zu sein. In den ersten Jahren sei es gut angelaufen, dann musste sie Lehrgeld bezahlen, auch wegen Dehydrierung. Heute geht nichts mehr ohne Bewässerung - der Klimawandel schickt einen Gruss hinterher. Die Weine seien zwischendrin etwas rustikal gewesen, meint die Winzerin, die ihre Weine immer äusserst kritisch beurteilt. «Du änderst die Vision, dann den Ausbau, und erst dann, mit dem wachsenden Wissen und den Erfahrungen, kommen das Vertrauen und die Erkenntnisse.»
Heute sagt sie von sich: «Die Richtung, die ich gehe, ist gut. Immer der Natur nah.» Man merkt es an der Art, wie sie’s sagt, oder wenn man sie in den Weinbergen erlebt, sie erzählen hört, wie sie die biologisch-dynamischen Präparate zum Spritzen und Ausgiessen herstellt: Das ist kein Marketingspruch; sie ist eins mit sich und dem eingeschlagenen Weg, der ihr so sehr entspricht. Sie mag auch nicht über andere reden, erst recht nicht deren Andersartigkeit bewerten, nein, sie macht ihr Ding, ohne damit als Frau von Welt wortreich philosophierend predigen zu gehen. Ihre Welt sind das Wallis, La Liaudisaz und ihre Rebterrassen. Das Einzige, was sie als Statement abgibt: «Das Wallis hat die Kraft für Differenz. Nicht für das einheitlich Gefällige, Weiche und Runde. On doit résister!» La Liaudisaz ist ein solcher Ort der alltäglichen «Résistance». Ungeachtet, was drumherum geschieht, wird hier nach der eigenen Überzeugung gehegt und produziert. Und das Resultat ist umwerfend, besser denn je.
Angesichts der kühlen Nachmittagstemperatur lädt sie uns in ihr Büro zur Degustation ein. Eine Selektion ihrer 22 Weine vom Jahrgang 2012 ist vorbereitet. Ihre Mitarbeiterin Valérie Lovay sitzt hinter Pflanzen, Büchern, Ordnern am Computer. Auch hier drin: keine Designstube; fast alles auf Liaudisaz verweist darauf, dass gearbeitet wird. Zettel, Unterlagen, Geräte. Unprätentiös einfach und gemütlich. Einfach und gut sind auch ihre Basisweine. Auch wenn ich kein Chasselas-Liebhaber bin, ziehe ich meinen Hut vor dem «Walliswein» Fendant vom Côteaux de Plamont. Besonders Chasselas sei etwas schwierig mit der Biodynamie.
Es folgen die weissen Vins de Garde: Petite Arvine Grain Blanc, Ermitage Grain d’Or und der Grain Cinq, eine Assemblage aus Pinot Blanc, Paien, Sylvaner, Petite Arvine und Ermitage. Der Letzte erzählt von der Wärme des Wallis, kein «Flatteur», breit ausladend. Ein Wein, der Zeit benötigt und wohl nie mein Liebling wird, weil weissen Assemblagen meist etwas die Identität abgeht. Der Langlebigste, der Ermitage, zeigt noch viel Holz. Sie zweifelt: «Trop barrique, trop beurre!» Meine Begleitung und ich nehmen’s gelassen: einfach nur warten. Was daraus an grossem Wein werden kann, zeigen nebenstehende Degustationsnotizen eines reiferen Jahrgangs. Der 2012er Petite Arvine zeigt bereits Flagge: Das ist MTC!
Von den Roten verkosten wir den Dôle, den klassischen Grain Pinot, den Humagne Rouge Grain Sauvage, den Grain Cornalin und ein Masterpiece eines Grain Syrah. Die Idee mit den Rotweinen war stets, eher aus dem Fruchtigen, Frischen heraus zu kommen. Keine überhitzten Brummer. Jetzt zeigt sich immer deutlicher, wie sehr sich diese Herangehensweise bewährt: Die Weine sprechen immer besser auf die Biodynamie an, werden noch lebendiger, komplexer und tiefgründiger, nie überladen, nie mit zu hohem Alkoholgehalt: 13 Volumenprozent reichen aus.
Eine klare Ansage
Der Cornalin und der Syrah aus dem mittelmässigen Jahrgang 2012 sind nun eine klare Ansage: Chappaz ist nicht nur gross bei den Weissweinen und edelsüssen Grains Nobles, nun auch bei den Roten! Unsere Begeisterung für ihren Syrah freut sie sehr. Er sei lange nicht ihr «vin préféré» gewesen, er war halt da, vom Grossonkel vermacht, doch irgendwann habe sie sich mit ihm versöhnt. Je länger wir probieren, diskutieren, notieren, umso hingerissener sind wir als erfahrene Syrah-Trinker. Sie freut’s ungemein, das täte ihrem Herzen gut, auch die Art des Sich-Zeit-Nehmens mit den Weinen. Nicht einfach nur: «Oui, c’est bon.» Daraus lässt sich herauslesen: Sie hat eigenständig und eigenwillig ihre Welt erschaffen, gerade deswegen benötigt auch sie von aussen eine sorgfältige Reaktion auf ihr Schaffen.
Nun möchte ich von ihr wissen, welches ihr roter Lieblingswein ist, emotionell. «Emotionell?» Sie zeigt mit einem Lächeln im Gesicht sofort auf den Humagne Rouge. Diese aus dem Valle d’Aosta stammende Traubensorte sei nicht die edelste, nein, vielmehr eine empfindliche, mit wenig Säure, sehr schwierig dahin zu führen, dass der Humagne Rouge nicht wie so oft wie eine Suppe wirkt, sondern neben dem Fleischigen auch frische Waldbeer-, Erdbeer- und Sauerkirscharomen hat. Wir probieren mehrmals. Ein wilder Kerl! Wie wir wissen: Sie mag das Schwierige und das Wilde, deshalb nennt sie ihn nicht ohne Stolz auch «Grain Sauvage». So schliesst sich der Kreis, in dessen Mitte immer auch eine Spur Wildheit und Urgesteincharakter dazugehört, woraus dann erst die edlen Weinschönheiten entstehen, die in der Schweiz ihresgleichen suchen. Sie ist’s und bleibt’s: die «wilde» Königin aus dem Wallis.
Vins de Garde Vitalisés - Chappaz, Schweiz
Voilà! Drei trockene sowie zwei süsse Walliser Weine von internationaler Klasse: frisch und salzig der eine, gereift und dennoch frisch der andere.
Weine des Winzers
1 Petite Arvine Grain Blanc 2012
18.5 Punkte | 2015 bis 2027
Der Duft ist von feiner Dichte, klar und sehr hell: zitrusartig, aromatisch, mit dem speziellen Salz vom Gneiss und Granit. Am Gaumen ein typischer Petite Arvine von MTC: Frische, fast prickelndes Salz, das Helle, viel Stoff, aber nicht träge, sondern mit Zug und einer gewissen Herbheit. Genau die Struktur für einen Klassewein in zehn Jahren.
2 Ermitage Grain d’Or 2006
18.5 Punkte | 2014 bis 2020
Würze und feines, weich anmutendes Harz und Wachs zu Beginn, dann zieht einen der Duft in die Tiefe: saftende Mirabellen und Aprikosen, viel Quitten, von Harz durchsetzt und mit stolzem Rückgrat. Am Gaumen ein dichtes Bündel an Aromen, umgeben von reifem Schmelz, durchtrieben von einem ungestümen Prickeln eines würzigen Krauts. Ein Urgestein-Marsanne.
3 Grain Syrah 2012
19 Punkte | 2014 bis 2023
Eine dunkle Aromatik liegt im Duft und eine süssliche Note. Zudem pfeffrig, wie ein Syrah sein muss, jedoch: weisser Pfeffer! Darunter eine feine Specknote und Veilchen. Weich und cremig hin und her wogend und zum wiederholten Schnuppern einladend. Am Gaumen frisch, klar, zeigt dieser Syrah Griff, 2012er-Herbheit und Tiefgründigkeit, vor allem aber ganz viel Leben: ein hochstrukturierter Wein, der trotzdem vor Vitalität hüpft wie MTC und ihre Hündin Marlaguette im Weinberg, mit feinem Schmelz. Eine Offenbarung in Rot!
4 Marsanne Blanche Grain Noble 2004
19.5 Punkte | 2014 bis 2023
Was für ein traumhafter Duft, hellsaftig, fast tropfend, mit intensiver, aber nicht überladener Süsse und einer umwerfend zarten Säure. Woher holt die säurearme Marsanne diese Frische? Am Gaumen weich wie ein Daunenbett, den ganzen Mund fein auskleidend. Eine herrlich zarte Frische bis hin in den Ausklang, etwas Schwarztee- und Kaffeenoten, mit einer Mandelherbheit ausgestattet. Süsse Weltklasse.
5 Marsanne Blanche «Macérée» Grain Noble 2011 (Fassprobe)
20 Punkte | 2023 bis 2060
Von diesem Experiment (zehn Tage auf den Trauben vergoren) wird es nur hundert Liter geben. Das verleiht dieser Fassprobe eine ungemeine Kraft und Dichte, umgarnt von einem feinstgewobenen, samtigen Nektar und durchsetzt mit Aromen wie von Datteln, Feigen, getrockneten Birnen und Orangenkonfitüre. Unfertig und doch bereits ein 20-Punkte-Erlebnis – königlich!