Vignobles Decelle, Roussillon, Bordeaux

Und dann waren es schon vier

 

Text: Barbara Schroeder, Fotos: Rolf Bichsel

  • Château Jean Faure

Das Leben und Streben des Olivier Decelle – das ist die ungewöhnliche Geschichte eines klugen Unternehmers mit Raubtierinstinkt. Mit 50 Jahren hat er zurück zur Natur gefunden, zu einem Dasein als Biowinzer.

 

Auf den festen Händedruck vor dem frisch herausgeputzten Schlösschen Jean Faure folgt wie aus der Pistole geschossen die erste Frage: «Haben Sie meine Hühner gesehen?» Etwas verwirrt – schliesslich bin ich es, die gewöhnlich die Fragen stellt – blicke ich Richtung Weingarten, wo ein paar mit Rebscheren bewaffnete Menschen an Rebreisern herumschnitzen. «Nein, nicht dort, dort ist meine Frau, die eben einen Kurs in ökologischem Rebschnitt nimmt», meint mein Gegenüber lachend. Der Ton für das Gespräch mit Olivier Decelle, Exunternehmer in Sachen Tiefkühlkost und mit 66 Jahren Jungwinzer, wie er sich selbst bezeichnet, steht fest.

Auf dem Gut gibt es nicht nur einen farbigen Gockel, der emsig in den Herbstblättern scharrt, ohne sein weibliches Hühnergefolge aus den Augen zu verlieren, sondern auch eine ganze Sammlung an japanischem Ahorn. «Ah, meine Bäume», sagt Olivier verschmitzt, «die folgen mir seit 20 Jahren.» Die Wanderlust hat den Besitzer der bekannten Tiefkühlkette Picard von Paris nach Südfrankreich geführt, wo er 1999 in Maury Mas Amiel kaufte. Zwei Jahre später fand er sich in der einsamsten Ecke des Bordelais wieder, auf Château Haut-Maurac im Médoc, um schliesslich, nach einem kurzen Zwischenhalt auf Château Haut Ballet in Fronsac, das er nur wenige Monate nach Haut-Maurac erwarb, 2004 auf Jean Faure in Saint-Émilion anzukommen. «Bei Picard habe ich eines gelernt: Es gibt keine schlechten Terroirs. Es gibt nur Produkte, die am falschen Ort angebaut werden. Der beste Kopfsalat wächst draussen auf dem freien Feld und nicht in Wattekörben mit Bewässerungskatheter. Wichtig ist die rasche Verarbeitung nach der Ernte. Der Respekt vor dem Terroir beginnt mit dem Respekt vor dem Konsumenten. Darauf gründete der Erfolg unseres Unternehmens, das mit zwei Dutzend Läden begann und heute 500 Verkaufsstellen in ganz Frankreich besitzt», erklärt Decelle.

Man weiss dabei nicht so recht, ob er immer noch von Gemüse und Brathühnchen spricht oder einen Übergang zum eigentlichen Thema sucht, dem Wein. Angesichts der Leidenschaft, mit der er von seinem ersten Leben spricht, fragt man sich, warum er dieses gegen das harte Weinmacherdasein eingetauscht hat. «Das frage ich mich auch», antwortet er mit einem feinen Lächeln. «Vielleicht, weil mir die Büros zu eng wurden und die Stadt zu laut. Ich brauche die Nähe zur Natur, zur Produktion. Hier lebe ich im Grünen, umgeben von Reben, Pferden, Hühnern. Das fehlte mir bei Picard.»

Der Übergang geschah nicht von heute auf morgen. Nach dem Kauf von Mas Amiel führte Decelle erst einmal eine Art Doppelleben zwischen Tiefkühltruhen und Eichenfässern. Doch er musste sich rasch eingestehen, dass die Arbeit in Maury nicht am Wochenende erledigt werden konnte. Er liess Picard fallen und wurde Vollzeitwinzer. «Auf Mas Amiel fand ich meine Freiheit wieder. Doch ein Kleinunternehmen zu steuern, ist etwas anderes, als eine multinationale Firma zu leiten. Hier muss man die Übersicht behalten und delegieren können – dort allein an allen Fronten gleichzeitig kämpfen.»

Neue Appellation Maury Sec

Es begann mit der ominösen Frage nach dem richtigen Produkt. Mas Amiel produzierte ausschliesslich süsse Weine. Bodenstudien ergaben, dass man hier ebenso gut trockene Rote erzeugen konnte – «von der Qualität eines Côte-Rôtie!», wie Decelle trotzig einwirft. Bloss liessen die Regeln der Appellation dies nicht zu. Decelle warf sich dennoch in die Schlacht und produzierte trockene Landweine, dem Spott und dem Gelächter der Nachbarn zum Trotz. «Heute sind sie mir dafür dankbar.» Dank seiner Entschlossenheit wurde 2011 eine neue Appellation ins Leben gerufen: Maury Sec für trockenen Rotwein aus Maury. Heute betrachtet Decelle Maury als essenzielle Lebenserfahrung. Er hatte demerfolgreichen Geschäft seines Vaters den Rücken gekehrt, da durfte er in dieser Wüste aus 200 Hektar Schiefer und Geröll, über die 200 Tage im Jahr der Wind mit 100 Stundenkilometern fegt, nicht scheitern. «Heute hätte ich nicht mehr die Kraft, mich in ein solches Abenteuer zu stürzen. Doch damals entsprach das meinem Raubtierinstinkt: geduldig warten und dann blitzschnell handeln, wenn sich eine Gelegenheit bietet.»

Nach Bordeaux kam er dank Jacques Boissenot, dem Bordelaiser Önologen, den er in den späten 1990er Jahren kennen und schätzen lernte. «Als auf Mas Amiel das Schlimmste überstanden war, begann ich von Bordeaux zu träumen. Ich wollte kein edles Prestige-Gut mit Swimmingpool, den man jedes Wochenende schrubben muss. Nur ein Fleckchen Erde, wo ich Wein anbauen konnte.» Boissenot riet zu Haut-Maurac und später zu Jean Faure, das der Önologe als das «letzte noch bezahlbare Juwel unter den klassierten Gütern des rechten Dordogne-Ufers» bezeichnete. Decelle unterschrieb den Kaufvertrag, ohne das Gut überhaupt zu besichtigen.

Einmal mehr folgte auf den guten Traum das böse Erwachen. Trotz seiner hervorragenden Böden war auch Jean Faure in erbärmlichem Zustand. Aufbauarbeit und Konsolidierung sollten fast zehn Jahre dauern: Instandsetzung der Weingärten, Drainage und schliesslich, ab 2014, die Umstellung auf biologischen Anbau. Dazwischen liegt die vielleicht wichtigste Etappe: die Anerkennung als Grand Cru Classé im Jahr 2012. «Erst ab diesem Zeitpunkt schauten mich die alteingesessenen Bordelaiser nicht länger als Fischstäbchenfabrikanten an, der sich als Winzer versucht», bekennt er mit ein wenig Wehmut und viel leisem Spott in der Stimme.

Weine des Winzers

 

Château Jean Faure 2012

Cabernet Franc (50%), Merlot (45%), Malbec (5%) | 2015 bis 2025

In der Nase dezente Holzaromatik mit hübschen Beerennoten. Im Mund herb und dicht, vollmundig, rassig, herbes, frisches Tannin. Stiltreu und in sich stimmig, weil moderat gekeltert.

Mariage: Passt zu Lamm mit Thymian, Wildgeflügel und Pilzen, Weichkäse

 

Château Haut Ballet 2012

Merlot (100%) | 2015 bis 2021

Kräftiges, dunkles Rubin. In der Nase verführerisches Bouquet von schwarzen Beeren, im Mund dicht und voll, reifes, knackiges Tannin, endet auf fruchtigwürzigen Noten.

Mariage: Schmorbraten, Tournedos oder Entenbrust

 

Château Haut-Maurac 2012

Merlot (60%), Cabernet Sauvignon (35%), Malbec (5%) | 2015 bis 2025

Leuchtendes Kirschrot. In der Nase etwas verschlossen, nach Belüftung Noten von roten Beeren. Im Mund fruchtigherb, mittlere Dichte, etwas aufgerautes Tannin, insgesamt ausgewogen.

Mariage: Gegrilltes Rindfleisch, Wild, Nachtisch mit Schwarzen Johannisbeeren