WINZERDÖRFER
#02 EPESSES
Text: Eva Zwahlen, Illustration: Alexandra Klobouk, Fotos: Stephan Engler
Epesses liegt mitten im Lavaux, in atemberaubender Landschaft am Genfersee, direkt neben den AOC-Grand-Cru-Lagen Dézaley und Calamin. Kein Wunder, halten die Winzer der Urwaadtländer Rebsorte Chasselas auf ewig die Treue.
Epesses gehört mit Aigle und Féchy zu den drei Waadtländer Winzerdörfern, die jedes Kind kennt. Sogar in der Deutschschweiz. Das kleine Dorf thront selbstbewusst auf halber Höhe des steilen, terrassierten Rebhangs zwischen Lausanne und Montreux, in der Region Lavaux, die 2007 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Der Name Epesses (von lateinisch «spissa» = Rottanne) verweist auf eine längst vergangene Zeit, als die Ufer des Lac Léman noch von Wald bedeckt waren. Eine Zeit also vor dem 12. Jahrhundert, denn damals begannen die Zisterziensermönche, diese vom Rhonegletscher abgeschliffenen Bergflanken zu roden und zu terrassieren, mit Steinmauern zu stützen und mit Reben zu bepflanzen.
Heute ist Epesses ein hübsches, etwas verschlafenes Strassendorf. Der Besucher tut gut daran, sich auf den Verkehr zu konzentrieren, denn die durchfahrenden Automobilisten haben es trotz Enge und schmucken alten Winzerhäusern fürchterlich eilig. 2011 fusionierte Epesses, das rund 350 Einwohner zählt, mit den Nachbardörfern Cully, Grandvaux, Riex und Villette zur politischen Gemeinde Bourgen-Lavaux mit insgesamt mehr als 5000 Personen. Die Bäckerei? Den Metzger? Das Lebensmittelgeschäft? Sucht man vergebens. Sie alle haben längst aufgegeben. Seit kurzem steht sogar das Schulhaus leer, die Kinder werden per Schulbus nach Cully zum Unterricht kutschiert.
Schwierige Zeiten
«Aber immerhin sind wir das Dorf mit der grössten Winzerdichte in der Waadt», meint Blaise Duboux und beginnt, seine Kollegen aufzuzählen. Er kommt auf 25. Früher waren es allerdings noch deutlich mehr. Das stolze Epesses erlebt momentan schwierige Zeiten. Nach drei kleinen Ernten in Folge sind die Keller leer, Finanzlage und Nerven der Winzer angespannt. Auch wenn das natürlich niemand zugeben würde. Man ist schliesslich jemand in Epesses. Gemäss einem alten Bonmot unterscheidet man «die von Cully», «die Leute von Riex» und «die Herren von Epesses». Um dazuzugehören, muss man seit mindestens drei Generationen hier verwurzelt sein. Noch besser seit 17 Generationen, wie Blaise Duboux, der dabei ist, seinen Betrieb auf biologischen Anbau umzustellen. «Seit diesem Jahr werden die Reben im ganzen Lavaux vom Helikopter aus nur noch mit nicht synthetischen Mitteln gespritzt, vorher war an eine Umstellung gar nicht zu denken.» Blaise sitzt im Wohnzimmer seines gemütlichen alten Winzerhauses, vor einer reich bestückten Bücherwand und trinkt genüsslich einen Grand Cru... nein, keinen Wein: Tee! «Ich habe keinen guten Ruf bei meinen Kollegen», scherzt er, «ich trinke zu wenig Wein…» Und schlürft ungerührt seinen Oolong.
«Wir sind ein waschechtes Winzerdorf: Im Sommer, wenn die meisten Touristen zu uns kommen, ist Epesses wie ausgestorben, dann arbeiten wir alle in den Reben.» Abhilfe soll eine trendige Weinbar mitten im Dorf schaffen, die er mit anderen Winzern (nicht nur) aus Epesses plant. Auch ein kleines Filmfestival ist in Vorbereitung. Blaise Duboux sprüht vor Ideen. Doch sein Kerngeschäft ist und bleibt der Wein. Nicht umsonst ist er berühmt für seine feinen, ziselierten Charakterweine. «Wir besitzen absolut aussergewöhnliche Terroirs», kommt er ins Schwärmen. Die AOC Grand Cru Calamin, 16 Hektar mit schweren, kompakten Lehmböden, die kraftvolle, gut strukturierte Weine ergeben, liegt auf dem Territorium von Epesses. Die AOC Grand Cru Dézaley mit ihrem kalkreichen Terroir gehört zwar zu Puidoux, doch die meisten Rebbesitzer stammen aus Epesses.
Unbestrittener König in Epesses und im ganzen Lavaux ist mit rund 80 Prozent unangefochten der Chasselas. Die diskrete Sorte, die hier am Lac Léman ihren Ursprung hat, vermag wie wenige sonst das Terroir, auf dem sie wächst, im Wein zum Klingen zu bringen. Leichtere Böden ergeben feine, rassige Weine, schwere Lehmböden charaktervolle mächtige Gewächse. Die Winzer im Lavaux waren so klug, ihr die Treue zu halten, als andere sie ausrissen – heute mangelt es an Chasselas.
«Im Sommer Epesses trinken, zu Weihnachten Dézaley»
Ebenfalls ein waschechter Epesses-Winzer und zugleich Experte für die Hagelversicherung, begeisterter Skifahrer und einst gefeierter «Chapeau Noir» (die höchste Auszeichnung der Waadt für hervorragende Degustatoren) ist Frédéric Hegg. Was Epesses für ihn bedeutet? «Das ist das Synonym für den besten Wein der Welt!», lacht er. Schnell wird er wieder ernst: «Neuerdings darf man ja in der Waadt alles Grand Cru nennen, was ein paar Öchslegrade mehr auf die Mostwaage bringt als der Durchschnitt, doch ein echter Grand Cru muss an ein aussergewöhnliches Terroir gebunden sein, ein Terroir wie das des Dézaley oder des Calamin.» Ein Wein wie sein Dézaley La Gruyre, vielschichtig, tiefgründig und voller Finesse, trägt das Attribut zu Recht. Doch ist er leider immer viel zu schnell ausverkauft. «Eigentlich sollte man den Sommer durch Epesses trinken, dann ab September Calamin und erst zu Weihnachten einen Dézaley öffnen.» Falls man, im Gegensatz zu unserem Winzer, bis dann noch ein paar Flaschen im Keller hat.
Seit 1552 ist die Familie von Patrick Fonjallaz in Epesses verankert. Der Vertreter der 13. Generation fühlt sich allerdings eher als Spross der weltoffenen École Nouvelle, in der er seine Schul- und Internatszeit verbracht hat, als des engen Winzerdorfes, das ihm, dem umtriebigen Geschäftsmann, bisweilen Steine in den Weg legte. «Ich wohnte zehn Jahre in Saint-Saphorin. Als ich nach Epesses zurückzog, fragte mich eine Nachbarin, wie das auszuhalten gewesen sei in Saint-Saphorin.»
Die Zeiten haben sich geändert. Auch was die Traubenpreise betrifft, die innerhalb von 25 Jahren um fast die Hälfte gesunken sind. «Nur dieser protestantische Geist, die Eifersucht und der Neid sind gleich geblieben», merkt Fonjallaz trocken an. Allerdings: Der Name Epesses hat landesweit einen guten Klang. «Dass das so ist, verdanken wir visionären und dynamischen Unternehmern wie etwa den Massys.» Fonjallaz, der rund 35 Hektar Reben bewirtschaftet, 4,5 davon im prestigereichen Dézaley, kauft bei Produzenten der Region Trauben zu. «Im Moment allerdings mangelt es überall an Wein. Wir hoffen alle auf eine gute und reichliche Ernte 2016.» Als wichtige Nebenaktivität vermietet er Räumlichkeiten für rauschende Feste, inklusive Catering und Wein. Allein schon der romantische Garten mit stilvollem Gartenhäuschen hoch über dem See könnte ein Heiratsgrund sein. Sein wichtigster Wein? «Kommerziell sicher der Epesses, emotional dagegen der Calamin. Ich bin davon überzeugt, dass der Calamin noch besser altert als der Dézaley.» Kein Zweifel: Beim Wein entpuppt sich selbst Patrick Fonjallaz als stolzer Bürger von Epesses.
Unser letzter Besuch gilt Luc Massy, quasi einem «Neuling» im Dorf, denn erst sein Grossvater hat sich in Epesses niedergelassen. Visionär Albert Massy hatte eine gute Nase, kaufte er doch mit dem Clos du Boux ein wahres Schmuckstück, den einzigen Clos des Dorfes mit zwei prachtvollen Herrschaftshäusern, das eine um 1620, das andere um 1800 erbaut. Die Massys mit ihren 10 Hektar Reben, 4 davon im Dézaley, gehören zu den Grossen in Epesses, in jeder Beziehung; ihr Dézaley Chemin de Fer ist einer der bekanntesten Weine der Schweiz. «Man lebt gut in Epesses», sagt Luc Massy, «man kennt sich, es ist ein Dorf mit einer Winzerseele.» Wer hier lebe, sei stolz darauf. «Jeden Morgen finde ich es einfach nur schön. Ich bin lieber Winzer in Epesses als in Lutry. Dort verdienen sie ihr Geld, indem sie ihre Rebberge als Bauland verkaufen.» Wie die meisten Winzer hat auch Luc Massy Rotweine im Sortiment, doch das Herzstück sind die aus Chasselas gekelterten Weissen. «Mit Epesses, Calamin und Dézaley haben wir drei sehr unterschiedliche Weine von sehr unterschiedlichen Terroirs: Der Epesses ist leichter und süffiger als der charaktervolle Calamin und der edle Dézaley – die beiden Grands Crus trinkt man nicht jeden Tag.»
Mittlerweile wird Luc Massy von seinem Sohn Benjamin unterstützt, und auch Grégoire, der Erstgeborene, ist aus der Deutschschweiz zurückgekehrt, um im Familienbetrieb einzusteigen. Liebäugelt Luc Massy also mit der Pensionierung? «Gott bewahre», meint er und hebt abwehrend die Hände, «ich arbeite ja nicht, ich lebe nur meine Passion aus!» Unverkennbar: ein richtiger Monsieur d’Epesses!
UNSERE WEINTIPPS AUS EPESSES
Luc Massy, Epesses Clos du Boux AOC 2014
17 Punkte | 2016 bis 2021
Der Clos du Boux ist der einzige Clos im Produktionsort Epesses, ein klar umgrenzter Rebberg von 1,7 Hektar auf tiefgründigen Lehmböden. Helles Gelb. Strahlende, frische Nase mit würzigen und floralen Noten sowie Anklängen von Zitrusfrüchten. Klarer Auftakt, runder, harmonischer Körper von feiner Eleganz, ansprechender Präsenz und greifbarer Mineralität, sehr langes Finale auf schönen, strukturierenden Bitternoten und einer Prise Salz.
Patrick Fonjallaz, Calamin AOC Grand Cru 2014
17 Punkte | 2016 bis 2023
Helles Gelb mit grünlichen Reflexen. Offenherzige, leicht zugängliche Nase mit schönen Noten von weissfleischigen Früchten sowie floralen Akzenten. Frischer, von Kohlensäure getragener Auftakt im Gaumen, dann mittlere Fülle, geschmeidig, rund und getragen von einer feinen Mineralität, die lange ausklingt. Ein durchaus schmeichelnder Calamin, der seinem Terroir trotzdem treu bleibt. Man kann ihn bereits mit Genuss trinken, aber auch noch lagern.
Frédéric Hegg, Dézaley La Gruyre AOC Grand Cru 2015
17.5 Punkte | Ende 2016 bis 2023
Im Stahltank ausgebauter Dézaley mit hellem Gelb und zartgoldenen Reflexen. Verführerisches, traubiges Bouquet mit Noten von reifen, gelbfleischigen Früchten, Melonen und einer blühenden Blumenwiese. Weicher, runder Auftakt im Gaumen, ausladend, aber trotzdem elegant und saftig, mit süsser Frucht, feiner Würze, viel Schmelz und einer schönen Mineralität. Sehr feine, edle Terroirnoten im Finale.
Blaise Duboux, Calamin Cuvée Vincent AOC Grand Cru 2015
18 Punkte | Ende 2016 bis 2026
Mittleres Gelb. Intensive, schöne Nase mit Anflügen von frisch gepresstem Traubensaft, nach Belüftung reife gelbe Früchte, Feuerstein und weisse Blüten. Rassiger Auftakt, kompakter, stoffiger Wein von schöner Komplexität, kraftvoll, dicht strukturiert und getragen von einer markanten Mineralität mit charakteristischen, edlen Bitternoten und einer leichten Salznuance im Finale. Ein Charakterwein mit beträchtlichem Potenzial!