Weinszene Berlin

SCHÖNER SAUFEN

Text und Fotos: Manfred Klimek

Berlin hat die lebendigste Weinszene Deutschlands. Hippe Gastronomen, schräge Händler und neugierige Trinker haben eine Weinwelt geschaffen, die wie angegossen zu ihrer Stadt passt. Die Metropole feiert den demokratisierten Genuss.

Die Sonne ist schon vor drei Stunden aufgegangen, und ihr Strahl dringt durch die Häuserzeilen auf den trockenen Asphalt. Es ist Sonntagfrüh, und in der Grossen Hamburger Str. 32, in Berlins berauschter Mitte, macht sich ein Dutzend trunkener Gäste in der «Cordobar» bereit, ein paar verbliebene offene Flaschen zu leeren. Willi Schlögl und Stefan Grabler haben zwar schon das dritte Mal die letzte Runde eingeläutet, doch ihre Gäste machen wenig Anstalten, nach Hause zu gehen. Da muss Schlögl deutlicher werden: «Jetzt ist mal wirklich Schluss, Leute! Kommt, geht heim!» So geht es seit einem Jahr fast jeden Tag. Dienstags bis samstags ist die «Cordobar» von 19 Uhr an bis zum Morgengrauen der lebendigste Hotspot einer neuerdings weinverliebten Metropole. Wie nirgendwo auf der Welt wird hier Genuss mit Szene verbunden. Doch der Ruf Berlins, nun auch noch die Weinhauptstadt Deutschlands zu sein, stützt sich lediglich auf einige wenige erfolgreiche Etablissements. Diese sind zudem völlig anders aufgestellt als ähnliche Lokale im Rest der Republik; anders auch als in Paris und London, in New York und Shanghai.

Berlins Weinszene gleicht vor allem Berlin: Sie ist eine Interpretation, es gibt kaum Konstantes. So ist die «Cordobar» auch nur eine Erscheinung, aber kein Beweis. Eine Anlauf- und Volllaufstelle, aber kein Garantieschein. Dass Berlin eine sehr lebendige Weinszene hat, hätte man schon vor Jahren feststellen können. Doch es waren die Leute der «Cordobar», die den Zeigefinger hoben und auf ihr Destillat hinwiesen. Der weinverliebte Musikverleger Christof Ellinghaus (City Slang), der Regisseur Jan-Ole Gerster («Oh Boy»), der Sommelier Gerhard Retter (Hotel «Adlon», «Fischerklause») und sein Partner Willi Schlögl («Adlon»-Gruppe), brachten zustande, was ihren Vorreitern keinen Punkt hinter dem Komma wert war: die ultimative Zusammenführung von hoch qualitativem Saufen, sehr guter Küche (grandios: Lukas Mraz), guter Musik und ausgelassener Stimmung.

Trinken, ohne zu denken

Manch einer mag das Wort «saufen» nicht gerne hören, handelt es sich beim Weintrinken ja um Genuss, nicht um das besinnungslose Hinunterstürzenvgrossartiger Rebensäfte. Doch folgt die «Cordobar» eben nicht dem Prinzip des analytischen Weintrinkens, sondern propagiert das Hemmungslose, Archaische, Sexuelle und Denkbefreite der Trinkkultur.

So hat die «Cordobar» die letzte Schwellenangst vor Wein und der wichtigtuerischen Weinszene genommen, hat Händler, Journalisten und Blogger düpiert, die sich die Wahrheit über das Weintrinken zu eigen machten – freilich, um sich selbst zu erhöhen. Kann so etwas auch anderorts in Deutschland funktionieren? Wahrscheinlich nicht, denn es ist die Berliner Gemengelage, die die Berliner Weinszene ausmacht. Exzess zählt hier selbst im breiten Bürgertum als partiell gesellschaftsfähig, die Ausgehkultur ist weltweit einzigartig, die Mieten der Geschäftslokale sind immer noch niedrig und die Verhältnisse bewusst prekär. Gerade vom Prekären können alle Gastronomen hier ein Lied singen.

Doch es gibt nicht nur Gastronomen. Am anderen Ende des Spektrums dieser Berliner Weinbereitschaft stehen Menschen wie Martin Zwick, der in seiner gediegenen Charlottenburger Wohnung regelmässig einen Weinsalon ausrichtet und Weinkenner zu Probierrunden an den grossen Tisch bittet. Die Verkostungen tragen den Titel «Wein-Cup», und das Panel wählt einen Gewinner unter Guts- oder Kabinettweinen und Grossen Gewächsen. Das Angenehme an Zwick: Der geheimnisvolle Privatier macht sich nicht wichtig, stellt seine Person hinter die seiner Gäste. So wurde sein Salon einer der wichtigsten Zusammenkünfte in Sachen Wein.

Für immer Punk

Wein und Berlin? Das ist immer noch eine relativ junge Geschichte. Noch Jahre nach dem Mauerfall bekam man gute Weine lediglich im Ka-DeWe, in ein paar Charlottenburger, Schöneberger und Wilmersdorfer Vinotheken und in ausgesuchten Restaurants. Die erste brillante Weinkarte verdanken die Berliner dem Bad-Gasteiner-Gastronomen Josef Laggner, der im «Lutter & Wegner» am Gendarmenmarkt eine Weinstube einrichtete. Bemerkenswert ist auch heute noch die Auswahl französischer Weine. Aber Laggner verschlief, wie viele andere, den Aufbruch der deutschen Winzer, verschlief, dass Rheinhessen und die Pfalz in Sachen Riesling zum Überholen ansetzten, verschlief die Auferstehung des Rheingaus und die neue Mosel, verschlief das rote Württemberg und fast die gesamte Avantgarde. So wanderte die Weinszene in andere Lokale.

Allen voran in das «Weinstein» von Roy Metzdorf, einem Pankower Punk, der sich als Erster in den Nischen umsah und auch heute noch eine fixe Grösse für eigenwillige Auswahlkriterien darstellt – eine Weinkoryphäe, an der man nicht vorbeikommt. Provokant: Metzdorf fördert auch US-Winzer (Ridge) und den umstrittenen Grossproduzenten Markus Schneider. Von Dogmen will er nichts wissen, die Weine müssen seinen Ansprüchen genügen, das Besondere vermitteln und einfach gut schmecken.

Im Westen ist es die Familie Wu, die in ihrem unscheinbaren Chinarestaurant «Hot Spot» die besten Flaschen Deutschlands und der Welt bereitstellt. Herr Wu ist ein fanatischer Rieslingtrinker, die Weinkarte zählt Hunderte Positionen zu sehr moderaten Preisen. Doch so gut die Weine sind, so wohlschmeckend in beiden Lokalen gekocht wird – die Etablissements haben inzwischen ordentlich Patina angesetzt. Design ist und bleibt ein Fremdwort; «Weinstein» und «Hot Spot» sind Relikte des Nachwende-Berlins, sie stützen ihr Image auf ihren guten Ruf und leben von der stets wiederkehrenden Stammklientel.

Es gab aber auch einen dritten Mitspieler in dieser Aufbruchsrunde, und er sprach vor allem eine ausgewiesen moderne Klientel an. Lars Rutz gründete 1999 in der Chausseestrasse seine gleichnamige «Weinbar» und wurde zur Anlaufstelle jener, die mit grossem kulturellen Interesse ausgestattet und ohne wichtigtuerische Belehrung mehr über Wein erfahren wollten. Rutz’ plötzlicher Tod 2003 liess die neue Klientel lange ratlos nach Ersatz suchen. Erst Billy Wagner brachte das «Rutz» wieder ins Gespräch, der Mann, der die Vin-Naturel-Welle nach Berlin geholt hat und aus sich und seinem Weinverständnis eine Marke machte. Doch das «Rutz» ist inzwischen längst keine erweiterte Weinbar mehr, sondern eines der besten Restaurants Europas; die experimentelle Sterneküche von Marco Müller spielt sich völlig zu Recht in den Vordergrund. Wagner wusste das und ahnte, dass er eine eigene Bühne braucht. Dieses Frühjahr machte er sich selbstständig, gemeinsam mit seinem Koch sucht er noch nach dem passenden Lokal für den Neubeginn.

Naturwein-Mekka

Orange- und Naturel-Weine haben in Berlins Weinszene inzwischen eine andere Heimat gefunden, die Weinbar «Maxim» des Schweizers Maxime Boillat. Der studierte Archäologe fand über das Berliner Nachtleben in die Weingastronomie, so strahlt auch das «Maxim» jene abgefuckte Gelassenheit aus, die Berlin ausmacht. Viele der originellen Weine hier holt Boillat vom Weinhändler Holger Schwarz, der in seinem Charlottenburger Laden «Viniculture» eine Menge guter Bio-, Orange- und Naturweine liegen hat. Typisch für Berlin: Weder Boillat noch Schwarz sehen aus, wie man sich ausgewiesene Öko-Freaks gemeinhin vorstellt. Typisch auch: Beide wollen nicht belehren und bekehren, sondern ergänzen und überzeugen.

Was macht eigentlich die Berliner Weinszene aus? «Die Neugier der Leute.» Das sagt nicht nur Maxime Boillat, das sagen auch Andreas Rink, Manuela Sporbert, Jürgen Hammer und Frank Böhm. Sie alle sind weitere Schlüsselfiguren in dieser jungen Berliner Weinszene. Und sie haben ähnliche, im Detail jedoch sehr unterschiedliche Konzepte. Andreas Rink ist ein grosser, gestandener Mann, der als Koch lange Jahre mit Sängern und Bands auf Tournee ging. Nach dem Ende der wilden Jahre kehrte der gelernte Winzer der Pfalz den Rücken und eröffnete in Kreuzberg das «ottorink», eine «echte Weinbar», wie Rink sagt, in der es zum Wein nur Wurst und Käse gibt. Rink hat eine verblüffend einfache Ausrichtung, er kramt in den Nischen der zweiten Reihe. Zu viele Restaurants und Händler, so seine Meinung, orientieren sich nur an den bekanntesten Winzern Deutschlands. Rink hingegen sucht im Westen des Landes nach jungen, unentdeckten Weinmachern, die einfach nur guten, teilweise sogar aussergewöhnlichen Wein machen, denen aber das Rüstzeug fehlt, sich nach oben zu spielen. Bei diesen Winzern kauft Rink auch so manche ältere Flasche Riesling ein oder einen explizit trinkfreudigen Saufwein, den er für 3,80 Euro auf den Tisch stellt – ideale Einstiegsgläser für die geringer Betuchten, ideale Einstiegsgläser für Berlin.

Manuela Sporbert und Jürgen Hammer springen ohne Ideologie durch Gebiete und Stile. Herkömmlich oder alternativ? Günstig oder teuer? Alles im Keller. Das Paar führt seit drei Jahren die «Hammers Weinkostbar» in der Nähe des Kreuzberger Südsterns. Hierher kann sich schon mal ein Punk verirren, doch man sollte sich nicht wundern, dass selbst gesellschaftliche Randfiguren Lust auf Genuss entwickeln. Bei Hammer stehen mehr als 400 Weine auf der Karte. In einem privaten Hinterraum bietet das Paar Seminare für Einsteiger und Fortgeschrittene an; dort treffen die unterschiedlichsten Leute aufeinander, die Altersunterschiede sind enorm. Doch es wäre nicht Berlin, wenn nicht zusammenginge, was anderswo getrennt bleibt.

Nur wenige Hundert Meter Richtung Bergmannskiez steht Frank Böhm hinter dem Tresen seiner grossen und schicken Weinbar «not only riesling». Der Mittvierziger übersiedelte vom Rheingau nach Berlin, wo erlange Jahre die Gastronomie einer bekannten Burgruine ausrichtete. Bill Clinton war sein Gast. Und auch Gerhard Schröder. Doch das Lokal konnte ihn nicht glücklich machen, und er ging in die Hauptstadt, um hier einen Weinhandel aufzubauen. Sich neu erfinden: das Motto der meisten Zuwanderer. Böhms Weinhandel boomt, er kann sogar eine Filiale in Charlottenburg eröffnen. Doch etwas unerwartet wurde die Bar extrem gut angenommen und Böhm zum Teilhaber einer Bewegung, von der er eigentlich nichts wusste. Nun sitzen die Weintrinker abends lässig auf dem Bürgersteig vor seiner Bar und lassen sich eine gute Flasche aufziehen. Von dieser Szene ist es nur ein kleiner Schritt zur richtigen Szene, zu den Institutionen «Grill Royal» und «Pauly Saal», wo man für das Reserviere neines Tischs eine Menge Geduld braucht. Und eine flexible Zeiteinteilung.

Im «Grill Royal» ist Andrea Kauk für den Wein zuständig; im «Pauly Saal» Florian Seufer. Beiden gemein ist eine sehr individuelle Linie, die im grossen Ganzen perfekt zueinander findet. Nirgendwo sonst gibt es zwei bessere, umfangreichere und derart aufeinander abgestimmte Weinkarten; nirgendwo sonst kann man so viele grosse Weine trinken, oft für vergleichsweise wenig Geld; nirgendwo sonst kommt die Weinkultur auf höchstem Niveau so wohltuend respektlos daher. Kein Geschwätz, kein Brimborium. Folglich ist es auch nicht verwunderlich, dass beide Lokale regelmässig kritisiert werden. Von Zeremonienmeistern, die nicht verstehen, dass Berlin keine Zeremonien braucht.

Zurück in die Grosse Hamburger Strasse, zurück an die Tür der inzwischen geschlossenen «Cordobar». Willi Schlögl prüft ein letztes Mal, ob auch wirklich alles verschlossen ist. Der Reinigungsdienst hat morgen wieder jede Menge leere Flaschen zu entsorgen und sonst noch einiges, was in dieser Nacht liegen blieb. Wie lange kann das noch so gehen? Wie lange hält der Hype? «Keine Ahnung», sagt Schlögl in breitem steirischem Dialekt, «in der Stadt ist schnell mal was anders.» Sprach’s und ruft sich ein Taxi, das ihn an diesem Morgen noch in ein anderes Lokal bringt. Schlafen wird überbewertet. Wein vielleicht auch.

Die besten Weinlokale in Berlin

Cordobar

Die «Cordobar» hat sich binnen weniger Monate zum absoluten Highlight der Berliner Weinszene entwickelt. Schuld daran tragen die «Moderatoren», allesamt des Steirischen mächtig und so genussfreudig versoffen wie ihr Publikum. Ein Muss!

www.cordobar.net

KaDeWe

Für alle, die auch eine Flasche ins Hotel mitnehmen wollen: Im KaDeWe finden sich fast alle grossen Weinkreationen dieser Welt, und auch die Nischen sind gut dargestellt. Leider kann man die Flaschen nicht in die Fresszone mitnehmen und dort leeren.

www.kadewe.de

Maxim

Ein brasilianischer Topkoch, der mediterrane Küche zelebriert und in Berlin seine Heimat gefunden hat. Dazu jede Menge ausgefallene Weine, die man sonst nicht bekommt. Heisser Tipp für alle, denen die «Cordobar» der Tick Szene zu viel ist.

www.maximeboillat.com

ottorink

Wunderbare kleine Weinbar, die auf Nischenweine setzt und deswegen beim Kreuzberger Publikum sehr beliebt ist. Unweit des brutal hässlichen Drogenumschlagplatzes Kottbusser Tor in einer Oase spannender Lokale eingebettet. Das kann nur Berlin.

www.ottorink.de

Pauly Saal

Wenn der Sommelier Seufer heisst und aus Österreich kommt, so sind das Indizien dafür, dass man hier einen Abend mit spannenden und wenig alltäglichen Weinen verbringt. Die Küche ist sternegekrönt und stützt sich auf Produkte des Umlands.

www.paulysaal.com

Viniculture

In der Vinothek von Holger Schwarz findet man derzeit Deutschlands reichste und spannendste Auswahl an Bio-, Naturel-, und Orange-Weinen. Das Ganze erfreulich designt und ohne dämlichen Zeigefinger. Hier wird vermittelt und erklärt statt erzogen und belehrt. Grazie mille!

www.viniculture.de

Weinstein

Muss man gesehen haben. Die Bude am Prenzlauer Berg ist inzwischen ordentlich abgeranzt, die Küche von Marc Metzdorf aber richtig gut. Im Keller liegen auch ältere Rieslinge, und die Auswahl an restsüssen Weinen sucht ihresgleichen. Patron Roy Metzdorf ist ein alter, radikaler Punk. Man kann hier unvergleichliche Stunden erleben. Wenn man durchhält.

www.weinstein.eu

vinum+

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