Weinlese
Der ideale Erntezeitpunkt
Text: Alexandre Truffer
Über die Jahrhunderte betrachtet variierte der Zeitpunkt der Weinlese überraschend stark. Er hängt von den klimatischen Gegebenheiten, aber auch von der Einstellung des Winzers ab. In letzter Zeit wurde die optimale Reife zum absoluten Credo erhoben. Doch viele Erzeuger denken nun um.
Bei der Vorstellung von Eclat, dem weissen Pendant zu Electus, erklärte der Kellermeister von Provins, Damien Carruzzo: «Wir wollten einen frischen, straffen, mineralischen Wein kreieren, dessen Potenzial auf Dauer erhalten bleibt. Deshalb haben wir in den besten Parzellen der Rebsorten Petite Arvine und Païen (Heida) ziemlich früh mit der Lese begonnen.» Carruzzo hatte in den Jahren zuvor festgestellt, dass Weine aus klassisch vollreif geernteten Trauben bei der Flaschenabfüllung druckvoll und sehr aromatisch sind, sechs Monate später aber stark an Intensität verlieren. Es geht ihm nicht darum, welche Methode nun besser ist, vielmehr möchte er den optimalen Lesezeitpunkt für die angestrebte Stilistik bestimmen. «Bei Weinen, die schnell getrunken werden, kann man mit der klassischen Methode Vielfalt und Intensität der Aromen fördern. Eine frühere Weinlese sorgt dagegen für Frische, spürbare Mineralität und verleiht jenen Cuvées, die zur Alterung bestimmt sind, ein grösseres Potenzial.»
Dies bestätigt auch Robert Taramarcaz von der Domaine des Muses. Er versucht, Trauben mit höchstens 94 Öchslegrad zu ernten, um Weine mit nicht mehr als 13 Volumenprozent Alkohol zu erzeugen. Vor allem wenn Taramarcaz Weine in der Barrique ausbauen will, ist ihm dies wichtig: «Der Ausbau verleiht den Weinen Schmelz und Volumen. Für die Ausgewogenheit des Weines ist dann eine relativ hohe natürliche Säure von ganz wesentlicher Bedeutung.» In einem Anbaugebiet, wo seit zehn Jahren ein möglichst hoher Reifegrad angestrebt wird, ist diese Sichtweise noch untypisch. Lesebeginn und Lesedauer hängen aber nicht einzig und allein von der Philosophie des Winzers ab. Das Klima spielt eine entscheidende Rolle.
Klimabeobachtungen
Bereits in seinem 1870 erschienenen Werk «Notes sur le Problème de la Variation du Climat» untersuchte Louis Dufour, Professor für Physik an der Akademie Lausanne, der heutigen Universität, den Lesezeitpunkt. Er geht vom logischen Prinzip aus, dass die Ernte in wärmeren Jahren früher und in kälteren Jahren später beginnt. Seine These: Aus dem Mittelwert der verschiedenen Lesezeitpunkte könnten sich Rückschlüsse auf die Entwicklung des Klimas ziehen lassen. Dabei stützte sich der waadtländer Forscher auf die offiziellen, behördlich festgelegten Erntedaten. Die Lese wurde ab einem bestimmten Datum genehmigt, weil man davon ausging, dass die Trauben zu jenem Zeitpunkt ihre optimale Reife erreicht hatten. Diese Festlegung des Erntebeginns konnte der Professor weit in die Vergangenheit zurückverfolgen.
Dufour stellte eine Dokumentation zusammen, die zeigt, dass erstmals 1480 der Lesetermin von offizieller Stelle festgelegt wurde. Diese im französischen Sprachgebrauch «Ban des Vendanges» genannten amtlichen Bekanntmachungen wurden ab 1480 jährlich niedergeschrieben und archiviert. Leider hielten einige davon dem Zahn der Zeit nicht stand, vor allem im 15. und 16. Jahrhundert. Die offizielle Ernteerlaubnis wurde damals für Lausanner Weinberge proklamiert, die es heute nicht mehr gibt. Sie fielen vor über einem Jahrhundert der Urbanisierung zum Opfer. Dabei ging es um die Parzellen in Ouchy (früheste Lese), Paleyre, Contigny und Saint-Laurent (spätester Erntebeginn, ein bis zwei Tage nach jenem in Ouchy). Bei Nichteinhaltung des «Ban des Vendanges» drohte ursprünglich eine Strafe, doch im Laufe der Jahrhunderte verlor das Gesetz an Bedeutung. 1792 erlaubten die Behörden den Eigentümern «früher zu lesen, vorausgesetzt, sie benachrichtigten den Zehnteintreiber und gingen nicht ohne Erlaubnis über anderer Grundbesitz».
Louis Dufour berücksichtigte in seinem Werk auch den Kalenderwechsel: Bis zur Reformation im Jahre 1536 wurde das Datum von den kirchlichen Feiertagen bestimmt, die 1701 im Kanton Waadt dem gregorianischen Kalender angepasst wurden. Die auf der folgenden Seite aufgeführten Erntedaten wurden darum entsprechend korrigiert und der heutigen Zeitrechnungen angepasst.
Warme Renaissance
Die 247 Daten des Lesebeginns in der Stadt Lausanne (von insgesamt 388 Jahrgängen) weisen beeindruckende Schwankungen auf. Der früheste Erntebeginn fand am 16. September 1822 in Ouchy statt, am spätesten begann dort die Lese am 12. November in den Jahren 1698 und 1816. Dabei fällt auf, dass zwischen den zwei Extremen nur sechs Jahre liegen. Louis Dufour untersuchte in seinem Werk auch die Lesezeitpunkt ein Aubonne (ab 1551), Lavaux (ab 1557) und Veytaux (ab 1742). Interessanterweise begann die Weinlese in La Côte im 16. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zwischen zehn und zwanzig Tage später als in Lausanne. Ab dem 19. Jahrhundert beträgt der Unterschied dann allerdings nur noch fünf bis sechs Tage.
«Im 17. Jahrhundert wurde die Weinlese weit hinaus-geschoben. Bis zu 15 Tage in Aubonne und 20 im Lavaux.»
Louis Dufour, 1832 bis 1892 Professor für Physik
Und noch etwas fällt auf: Während zwischen 1480 und 1600 bei einem Drittel aller Jahrgänge der Lesebeginn in den September fiel, war eine derart frühe Weinlese im 18. Jahrhundert schon die Ausnahme (auf hundert Jahrgänge begann nur eine Weinlese im September). Die von Professor Dufour über 30 Jahre errechneten Mittelwerte ergaben, dass die Weinlese in Lausanne, Aubonne und im Lavaux im Verlauf des 17. Jahrhunderts weit hinausgeschoben wurde. In Lausanne begann die Weinlese durchschnittlich zehn bis zwölf Tage später, in Aubonne 15 Tage und im Lavaux gar 20 Tage. Ende des 18. Jahrhunderts startete die Weinlese wieder früher, jedoch immer noch später als eineinhalb bis zwei Jahrhunderte zuvor.
Im 16. Jahrhundert fand die Ernte übrigens auch in Genf sehr früh statt. Historische Quellen belegen, dass dort durchschnittlich fast 15 Tage früher als zu Lebzeiten Dufours (Ende 19. Jahrhundert) geerntet wurde. Diese Informationen geben zwar interessante Einblicke in den Weinbau vergangener Jahrhunderte, stellen aber keinen Beweis für einen Klimawandel dar. Louis Dufour selbst wies in seiner Studie darauf hin, dass die Erntezeit nicht allein vom Wetter bestimmt wird: «Der Reifezeitpunkt hängt auch von den Rebsorten ab, die angebaut werden. Werden in einer Region mehr frühreife Trauben anstelle von später reifenden Sorten gepflanzt, findet die Weinlese im Schnitt auch früher statt. Zudem nimmt auch die Anbauart Einfluss: Je nachdem, wie viel und welchen Dünger der Winzer verwendet, reifen die Trauben früher oder später. Und vielleicht spielen auch Geschmack, Sitten, Bräuche und Gewohnheiten eine gewisse Rolle.»
Start der Weinlese von 1480 bis 1868 Stadt Lausanne
Die Übersicht zeigt, an welchem von den Behörden offiziell festgelegten Datum die Weinlese im Gemeindegebiet Lausanne begann. Zwischen der frühesten und der spätesten Ernte liegen fast zwei Monate.
Weinlese in Lausanne vor 1500
5 Datumsangaben überliefert
• 18. Oktober 1480
• 14. Oktober 1496
• 23. September 1497
• 4. Oktober 1498
• 5. Oktober 1499
Weinlese in Lausanne zwischen 1500 und 1550
27 Datumsangaben überliefert
• Frühester Zeitpunkt: 17. September 1503
• Spätester Zeitpunkt: 21. Oktober 1511
• Insgesamt siebenmal im September und 20 Mal im Oktober
Weinlese in Lausanne zwischen 1550 und 1600
35 Datumsangaben überliefert
• Frühester Zeitpunkt: 17. September 1559
• Spätester Zeitpunkt: 22. Oktober 1583
• Insgesamt zwölfmal im September und 23 Mal im Oktober
Weinlese in Lausanne zwischen 1600 und 1650
6 Datumsangaben überliefert
• Frühester Zeitpunkt: 22. September 1619
• Spätester Zeitpunkt: 10. November 1617
• Insgesamt dreimal im September, zweimal im Oktober und einmal im November
Weinlese in Lausanne zwischen 1650 und 1700
26 Datumsangaben überliefert
• Frühester Zeitpunkt: 22. September 1660
• Spätester Zeitpunkt: 12. November 1698
• Insgesamt zweimal im September, 21 Mal im Oktober und dreimal im November
Weinlese in Lausanne zwischen 1700 und 1750
48 Datumsangaben überliefert
• Frühester Zeitpunkt: 2. Oktober 1726
• Spätester Zeitpunkt: 6. November 1740
• Insgesamt 43 Mal im Oktober und fünfmal im November. Es ist kein Datum im September aufgeführt.
Weinlese in Lausanne zwischen 1750 und 1800
50 Datumsangaben überliefert
• Frühester Zeitpunkt: 22. September 1704
• Spätester Zeitpunkt: 30. Oktober 1770
• Insgesamt einmal im September und 49 Mal im Oktober
Weinlese in Lausanne zwischen 1800 und 1850
50 Datumsangaben überliefert
• Frühester Zeitpunkt: 16. September 1822
• Spätester Zeitpunkt: 12. November 1816
• Insgesamt fünfmal im September, 43 Mal im Oktober und zweimal im November
Weinlese in Lausanne zwischen 1850 und 1868
18 Datumsangaben überliefert
• Frühester Zeitpunkt: 24. September 1868
• Spätester Zeitpunkt: 22. Oktober 1860
• Insgesamt dreimal im September und 15 Mal im Oktober