Staatskellerei Zürich
«New Wave» mit Tradition
Text: Thomas Vaterlaus
Es ist ein spiritueller Ort: Die ehemalige Klosterinsel ist heute vor allem eine Musikinsel, es gibt aber auch ein Haus der Stille. Auf der Landseite treibt die Stiftung Fintan ihre ökologisch-sozialen Visionen voran, und im neu eröffneten Restaurant «Augarten» wird Bier gebraut. Mittendrin in diesem farbigen Kosmos aus Kloster-Tradition und Innovation keltert die Staatskellerei Zürich ihre zeitgenössischen Gewächse.
Wer rausfährt ans Ende vom Weinland und auch ans Ende der Schweiz, wo der Rhein nicht nur eine spektakuläre Doppelschleife vollführt, sondern auch jene Insel geschaffen hat, auf welcher das Kloster Rheinau thront, erwartet vielleicht ländliche Abgeschiedenheit und Stille. Aber an einem sommerlichen Samstagmorgen ist auf dem Klosterplatz so viel los wie wohl kaum je zuvor in der rund 1000-jährigen Geschichte dieses Ortes. Im Hofladen der Stiftung Fintan werden Gemüse, Salate, Obst, Fleisch, Käse, Kräuter, Honig und vieles andere verkauft, was auf dem 125 Hektar umfassenden Gutsbetrieb wächst. Im Groove Club übt wohl ein Schlagzeuger für den abendlichen Auftritt. Im Musikhotel im alten Kloster wird über die Weekends in allen 16 Proberäumen gespielt und im Haus der spirituellen Weggemeinschaft gebetet.
Fast alle Gebäude in Rheinau haben während der bewegten Geschichte dieses Ortes mehrfach eine neue Funktion erhalten, nur im Klosterkeller wird seit 1588 ununterbrochen Wein produziert. Heute werden hier die Trauben von rund 100 Winzern aus 26 Zürcher Gemeinden vinifiziert, zu so neuartigen Gewächsen wie dem weissen und dem roten Éo, die mit Fruchtfülle und Charme überzeugen. Besondere Innovationen sind die kontrolliert biodynamisch angebauten Spezialitäten aus pilzwiderstandsfähigen Sorten wie der weisse Solaris und der rote Lunaris (aus Cabernet Jura und Monarch). Die Trauben dafür reifen nur wenige hundert Meter vom ehemaligen Kloster entfernt im steil zum Rhein abfallenden Weinberg Chorb, der zu den eindrücklichsten und seit der Neukonzeption auch fortschrittlichsten Rebgütern im Kanton Zürich gehört. So wurden die 3,8 Hektar nach der Übernahme durch die Stiftung Fintan terrassiert und ausschliesslich mit PIWI-Sorten wie Solaris, Cabernet Jura oder Monarch bestockt.
Die Bewirtschaftung erfolgt nach den Richtlinien von Demeter. In der neu im Kellergebäude eingerichteten Vinothek der Staatskellerei, wo sich einst die Sirup-Manufaktur der Mönche befand, können heute Gruppen auf entsprechende Voranmeldung hin ausgewählte Weine aus dem breiten Sortiment geniessen. Die neue Verkostungszone liegt gleich neben dem historischen Gewölbekeller, über den man vom Klosterplatz her über eine breite Treppe hinuntersteigt. Hier schlummern in kühler Kellerruhe bis zu 400 000 Liter Wein ihrer Genussreife entgegen.
Die unterirdische «Bibliothek»
Der gewaltige alte Keller-Schlüssel, dessen Bart die Form der Zahl Fünf hat, ist noch der gleiche, mit dem einst schon die Mönche ihren flüssigen Schatz vor allzu durstigen Kehlen bewahrten. Dass der Klosterwein von Rheinau schon früher ausgezeichnet mundete, bestätigte unter anderem der deutsche Dichter Joseph Victor von Scheffel (1826 bis 1886), der eines schönen Junitages auf einem Waidling vom Schaffhauser Wasserfall aus auf dem grünen Rhein talabwärts fuhr, um im Kloster Rheinau «sowohl die überirdische als auch die unterirdische Bibliothek» zu besuchen. Vor allem Letztere prüfte er dabei gründlich, wobei er es nicht schaffte, aus allen Stückfässer, «denn es waren zwei mal 40», zu kosten. Sein Fazit: «Wer einmal den Rebensaft, der auf dem Korb gedeiht, mit Überlegung gekostet, der vergisst sein nicht wieder», notierte der Verfasser des berühmten «Ekkehard»-Romans. Weil das Gründungsdatum im Jahr 778 und wenig später auch das Auftauchen des irischen Wandermönchs Fintan, der mit seinem asketischen Lebenswandel die Klostergemeinschaft inspiriert haben soll, nicht wirklich belegt werden können, gilt die Weihe der romanischen Basilika im Spätherbst 1114 als erstes gesichertes Ereignis in der Kloster-Geschichte.
Belegt ist auch, dass hier seit dem Bau des Klosterkellers in den Jahren 1585 bis 1588 permanent Wein gekeltert wird. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts dauerte die Blütezeit des Klosters, dann folgte im Zuge der Französischen Revolution und der daraus resultierenden Säkularisierung der Niedergang. 1862 mussten die letzten Mönche die Insel verlassen. In seiner Funktion als Staatsschreiber und Weinliebhaber verfügte der Dichter Gottfried Keller («Die Leute von Seldwyla») im gleichen Jahr die Zusammenlegung des Klosterkellers Rheinau mit dem Zürcher Spitalamtskeller und stellte den fusionierten Betrieb unter kantonale Verwaltung. Die Kellerei hatte nun die Aufgabe, die Spitäler und Anstalten im Kanton Zürich mit Wein zu beliefern. Während die Patienten offensichtlich bescheidene zwei Deziliter pro Tag bekamen, erhielten die Angestellten bis zu eineinhalb Liter, und zwar als Bestandteil ihres Lohnes. 1932 endete das kantonal verordnete Weintrinken endgültig und der Betrieb entwickelte sich zur klassischen Handelskellerei, die sich im Markt so gut wie möglich behaupten musste. 1997, also vor genau 20 Jahren, wurde die Staatskellerei privatisiert und ist seither eine Tochtergesellschaft der Mövenpick.
Wer heute unten im Keller vor den alten Holzfässern, das älteste stammt aus dem Jahre 1811, steht, glaubt für einen Moment, die Zeit sei hier stehengeblieben. Oben auf dem Klosterplatz holt einen das lebendige Treiben mit seinem Mix aus Landwirtschaftsmarkt, Kulturevents und Gastronomie schnell in die Gegenwart zurück. Damit steht dieser charismatische Ort für die gleichen Werte wie früher: Schon die Benediktiner, die hier über Jahrhunderte wirkten, vereinten landwirtschaftliches und geistig-kulturelles Schaffen. Und gastfreundlich sollen sie auch schon gewesen sein.
Garant für Fülle und Charme
28 verschiedene Weine aus 26 verschiedenen Sorten keltert die Staatskellerei heute im idyllischen Rheinau. Nebst klassischen Gewächsen wie Riesling-Sylvaner, Chardonnay oder Pinot Noir gehören auch pilzresistente Neuzüchtungen wie Solaris, Cabernet Jura oder Monarch dazu. Kellermeister Fabio Montalbano und Geschäftsführer Christoph Schwegler streben reichhaltige, ausgewogene Weine mit ausgeprägter Frucht an.
Compleo Secco, AOC Zürich
16 Punkte | 2017 bis 2018
Frische und schön heraus gearbeitete Aromatik mit Rosenblättern, Pfirsich, Muskat, Minze und Quitten. Im Gaumen zeigt sich der im Tankverfahren hergestellte Schäumer, der rund 20 Gramm Restzucker aufweist, sehr ausgewogen, mit schönem Spiel zwischen Fruchtsüsse und einer knackigen Säure.
ÉO Blanc 2016, AOC Zürich
17 Punkte | 2017 bis 2022
Reichhaltiger und komplexer Chardonnay, erinnert von der Stilistik an Crus aus der Neuen Welt. Zu 50 Prozent in neuen Barriques aus Zürcher Eiche ausgebaut. Aromen von Zitrusfrüchten, Blüten und Vanille. Dazu auch buttrige und leicht harzige Noten. Im Gaumen dicht gebaut und füllig, die saftige Säure sorgt für die nötige Frische.
Compleo Cuvée Noire 2015
16 Punkte | 2017 bis 2022
Füllige, fast schon mediterran warm anmutende Cuvée aus Pinot Noir, Gamaret und Cornalin. Süsslich anmutende Beerenfrucht, vor allem Kirschen und Pflaumen. Auch im Gaumen viel Extraktsüsse. Ein Charmeur wie aus dem Bilderbuch, sehr rund, charmant und gefällig.
Lunaris 2013, AOC Zürich
16.5 Punkte | 2017 bis 2022
Innovative, biodynamisch angebaute Cuvée aus den pilzresistenten Sorten Cabernet Jura und Monarch, die in der Prestigelage Chorb in Rheinau reifen. Temperamentvolle Beerenfrucht, vor allem Waldbeeren und Kirschen, dazu herbale Noten, weisse Blüten, Pfeffer und Schokolade. Im Gaumen noch etwas ungestüm, mit süsslichem Extrakt und präsentem Gerbstoff. Hat viel Charakter.
ÉO rot 2014
17.5 Punkte | 2017 bis 2002
Ungewöhnliche, die Landesteile übergreifende Cuvée aus 75 Prozent Gamaret aus dem zürcherischen Rafz und 25 Prozent Merlot aus dem Wallis. Noch etwas ungestüm wirkende Aromen von roten und dunklen Beeren, dazu Minze, Teer und Pfeffer. Im Gaumen dicht gewoben, mit kernigem Tannin und einer angepassten Säure. Langanhaltend.
Pinot Noir Tête de Cru 2011, AOC Zürich
17 Punkte | 2017 bis 2020
Helles Kirschrot. Subtile Aromen von roten Beeren, Maggikraut, weissen Blüten, Minze und Marzipan. Im Gaumen sehr geradlinig strukturiert, geprägt von einem kernigen, noch jugendlich wirkendem Gerbstoff. Wirkt auch nach sechs Jahren noch erstaunlich jugendlich und temperamentvoll.