Schlemmen in Südfrankreich
Nimm’s gelassen, Fremder!
Text und Fotos: Rolf Bichsel
Die Kunst des Müssiggangs ist die wichtigste Nebensache im Leben und Nîmes die beste Schule dieser verkannten Wissenschaft. Kleiner und beschaulicher als Montpellier, Marseille oder Avignon, hat sich die Stadt mit dem kurzen Namen und der langen Geschichte heimlich zum südfranzösischen Geniessermekka gemausert.
Unholde, so scheint es, kehren immer wieder an den Ort ihrer Schandtat zurück. Ich komme immer wieder nach Nîmes. Was ich dort verbrochen habe? Geht keinen was an. Darüber ruht der Mantel des Vergessens, schwebt der Schleier der Vergangenheit. Was mich anzieht und dorthin zieht mit der Kraft eines Magneten? Die Aufforderung zum Müssiggang. «Nimm’s gelassen, Fremder», sagte der Landstreicher zu mir, der eine Ecke des Boulevard Victor Hugo zum Revier erkoren hatte und gemütlich mit dem nackten Zeh Kreise in den Bausand zeichnete, während ich nervös in allen Hosentaschen nach Münzen kramte, «für das Sandwich zum Lunch», und setzte damit gleich doppelt Zeichen. In Nîmes ist Gemächlichkeit Programm. So wie das «s» hinten im Namen. Nîmes ist Mehrzahl. Nîmes heisst nehmen, was es gibt, und geben tut es reichlich für alle und jeden.
Gemäss der Sage hat Nemausus, Sohn des Herkules, den Flecken entdeckt. Die Historiker sehen das prosaischer. Als die Phönizier um 600 vor Christus hier strandeten, sei der Ort bereits besiedelt gewesen, monieren sie und machen die Volques Arécomiques dafür verantwortlich. Hinter dem komischen Namen verstecke sich eine gallische Sippe, die sich hier rund um eine Quelle niedergelassen und sich nach und nach mit anderen keltischen Stämmen und später mit Griechen und Römern vermischt habe. Kaiser Augustus taufte die aufblühende Stadt Colonia Augusta Nemausus und machte daraus ein zweites Rom. Ihm werden die Zeugen der illustren Vergangenheit oft zugeschrieben, die Nîmes heute zum beliebten Touristenziel machen: das beeindruckende Amphitheater, das Belagerungen, Raubzügen, Erdbeben und Pest getrotzt hat, Einwohnern in bösen Zeiten Schutz gewährte, eine Zeit lang eine Stadt innerhalb der Stadt bildete, mit eigener Verwaltung und einer Miliz, den Chevaliers des Arènes, die für seine Verteidigung sorgten. Das Maison Carrée, Tempel der Jagdgöttin Diana, ebenfalls zwei Jahrtausende alt und doch praktisch faltenlos. Reliquien alter Befestigungen und zweier Stadttore. Der gewaltige, weltberühmte Aquädukt Pont du Gard im Nordosten der Stadt, der das römische Nîmes mit Trinkwasser versorgte, das bei Uzès gefasst wurde. Eigene Geldmünzen, die im historischen Museum zu bewundern sind, geprägt mit dem Bild eines an einen Baum gefesselten Krokodils, das an die Ägyptenfeldzüge samt Mark Anton, Cäsar und Kleopatra erinnern soll und damit an Elizabeth Taylor und Richard Burton und Joseph L. Mankiewicz und zum Symbol der Stadt wurde, und anderes mehr.
Architekturmekka
Doch auch da legen die fantasielosen Historiker ihr Veto ein. Die Bauwerke seien verschiedenen Epochen zuzuordnen: An Nîmes hätten mehrere Generationen römischer Honoratioren gestrickt. Die Einwohner von Nîmes scheint das wenig zu berühren. Wichtig ist, dass die Monumente bestehen und für Leben und Umtrieb sorgen. Die Nîmoiser sind stolz auf ihre zahlreichen Attraktionen. Die jüngste davon ist eben im Bau. Sie nennt sich sinnig Musée de la Romanité und wurde von Elizabeth und Christian de Portzemparc entworfen. Sie soll bald das Gegenstück zum Carré d’Art (ein paar Hundert Meter weiter) bilden, von Sir Roman Foster erdacht, einem anderen Stararchitekten.
In der Glasfront, hinter der sich das Museum für moderne Kunst verbirgt, spiegelt sich das andere Viereck, das Maison Carrée des Dianatempels. Am Stadtrand konnte sich endlich auch Jean Nouvel, der dritte grosse Häuserbauer, ein Denkmal setzen, nachdem er im Wettbewerb um das Carré d’Art den Kürzeren gezogen hatte. Der revolutionäre Bau nennt sich Nemausus 1 und enthält 114 grosszügig gestaltete HML-Logis (HML = Habitation à Loyer Modéré, Wohnung mit günstiger Miete, die in diesem Fall allerdings so gering nicht ist).
Wein-Eldorado
So weit ein klitzekleiner Einblick in das, was Nîmes Freunden alter Geschichte und neuer Architektur zu bieten hat. Doch Nîmes ist auch eine Stadt des Weins. Als die Stadtregierung im Jahr 1359 eine neue Festungsmauer bauen wollte, um den Ort gegen die Invasion der Engländer zu schützen, wurde zur Finanzierung des Projekts eine Steuer auf den Rebensaft erhoben, der seit der Römerzeit hier reichlich floss. Die Costières de Nîmes, die sich im Süden der Stadt ausstrecken und bis an die kleine und grosse Camargue reichen, sind AOC seit 1986. Geografisch Teil des Languedoc, gehören sie weinverwaltungsmässig zu den Côtes du Rhône. Clairette de Bellegarde (Weissweine), die Landweine (IGP) des Gard und der Cevennen und die neue Côte-du-Rhône-AOC namens Duché d’Uzès liegen ebenfalls im Einflussbereich der Stadt, bis Tavel und Lirac und Châteauneuf ist es auch nicht weit, und wem das nicht reicht, der kann von hier von mir aus auch den südöstlichen Teil des Languedoc unsicher machen. Nîmes regiert folglich über ein wahres Schlaraffenland des Weins, in dem Feinschmecker die besten Preis-Spass-Säfte des Landes auftreiben können.
Die kommen auch anderweitig voll auf die Rechnung. Camargue, Costières und Cevennen-Ausläufer sind ein eigentlicher, vom Klima und Boden verwöhnter Garten Eden. Zahlreiche Mühlen pressen Olivenöl und bieten Olivenpaste (Tapenade), eingemachte Oliven und andere Konserven an. Uzès liefert je nach Saison reichlich schwarze und Sommertrüffeln, die Camargue Reis, das nahe Mittelmeer Meerwolf und Seeteufel und Petersfisch und andere Schätze des Meeres und die Costières grünen Spargel, zarte Artischocken, süsse Erdbeeren, Kirschen oder Aprikosen. Zwei Spezialitäten der Stadt haben es zu Weltruhm gebracht: das Petit Paté de Nîmes, eine schmackhafte Fleischpastete, und die Brandade de Nîmes, eine sämige Stockfischpaste.
Dass sich, angesichts dieses Füllhorns an hochkarätigen regionalen Produkten, auch die Meister des Kochlöffels nicht lumpen lassen, versteht sich fast von selbst. In Nîmes selber, aber auch in der näheren und ferneren Umgebung stehen eine ganze Anzahl begabter Köche am Herd und bieten sonnige Küche für jeden Geldbeutel und Gaumen. Man isst ausgezeichnet sowohl in der einfachen Brasserie als auch in den überraschend dicht gesäten hochklassigeren Speisetempeln.
Schlenderparadies
Diese masslose Aufzählung raubt den Atem nur dem, der diese Herrlichkeiten in einem Vierstundenmarathon ablaufen will. Nîmes ist keine Zwischenstation. Nîmes ist Endziel, Nîmes ist zu schmecken, zu sehen und zu leben, ein paar gemächliche Tage lang. Darum stelle ich jedes Mal, wenn ich in dieses wasserloses und doch immer kleiner und autofreier werdendes Venedig komme, zuerst meinen Wagen ein, am besten in einer bruchsicheren Hotelgarage. Zurzeit sind in Nîmes Arbeiten im Gang, die einen weiteren Teil der Stadt in ein Fussgängerparadies verwandeln sollen. Davon profitieren mehrere Boulevards und Plätze, die eben fertiggestellt werden. Die Arbeiten, die auch dem Ausbau von Tram-/Buslinien dienen, sollten Ende 2016 abgeschlossen sein.
Doch bereits zum Zeitpunkt der Publikation dieses Artikels kann man ungestört durch einen grossen Teil der Altstadt schlendern. Genau das tue ich in Nîmes am liebsten: mich einfach den ganzen Tag lang treiben lassen, den kühlen Schatten der Platanen und Zurgelbäume geniessen (der barbarische Name bezeichnet den typischen Provence-Baum Micocoulier), auf einer Bank in den Jardins de la Fontaine in einem virtuellen Reiseführer googeln, der mich darüber informiert, dass es sich bei dieser 15 Hektar grossen Parkanlage mit ihren Statuen und Brücken und Wasserbecken und Mittelmeerpflanzen um den ältesten öffentlichen Park Europas handelt, 1745 auf Befehl des französischen Königs Ludwig XV. ins Leben gerufen. Hier sind die Ursprünge der Stadt zu suchen und zu finden; hier entspringt die ominöse Quelle des Nemausus; hier stand ein römisches Sanktuarium, Kaiser Augustus gewidmet; und hier nehmen alle Nîmoiser Kinder im Kinderwagen ein erstes Sonnenbad und lernen später laufen und auch Fahrrad fahren.
Weiss ich alles oder jedenfalls genug, um meine Tour fortsetzen zu können, marschiere ich strammen Schrittes Richtung Arena oder Tempel, streiche durch die engen Gassen der Altstadt, bis ich Blasen an den Füssen habe, drücke mir an den Schaufenstern der Bäckereien und Feinkostläden und Souvenirboutiquen und Kleidershops die Nase platt, mache in der Halle des Marktes Rast und geniesse dort erneut das wilde Ballett der Düfte von Gewürzen, Fisch, Backwaren, Käse, Früchten, Gemüsen, frischem Fleisch und Trockenwürsten. Den aufkommendenHunger stille ich draussen im Freien unter einem bunten Sonnenschirm in einer der vielen Brasserien, mit einer Handvoll Luques oder Picholines, einheimischen Olivenarten und Toastbrot mit Brandade de Nîmes, begleitet von einem Glas kühlem Rosé. Und ringe mich, leicht benebelt vom Wein und von den Düften und dem Ambiente dieses ewigen, friedlichen Südens, zu guter Letzt doch zu einem Geständnis durch: In Nîmes habe ich einst mein Herz verloren. Und finde es hier immer wieder.
Ab in die Garrigue!
Château Mourgues du Grès ist nicht nur eines der führenden Weingüter der Costières. Anne Collard, in einem anderen Leben Städteplanerin, hat mit viel Liebe und Aufwand (und mit Hilfe von Ehemann und Weinmacher François) einen rund fünf Kilometer langen Parcours durch Reben und Heide zusammengestellt, dicht besät mit Tafeln, welche die reiche, intakte Natur illustrieren und die Geschichte der eindrucksvollen Landschaft erläutern. Der Parcours kann zu Fuss oder per Mountainbike (Reservierung direkt im Betrieb) angegangen werden: Ein Teil ist für gehbehinderte Personen aufbereitet. Der Parcours ist gratis. Jeden Mittwoch von Mai bis September (Reservierung spätestens bis 15 Uhr am Vortag) ist ferner ein begleiteter Rundgang möglich, der mit einem kleinen Picknick auf dem Gut endet, natürlich begleitet von einem Glas gutseigenem Wein, und, für Kinder, einem Glas Kirschsaft aus eigener Produktion (23 Euro pro Person, alles inklusive). Und wer gar nicht mehr weg mag, kann hier sogar übernachten: Auf dem Gut stehen (auf Anfrage) zwei Gästewohnungen zur Verfügung. Anfahrt über die D38 auf halber Strecke zwischen Saint Gilles und Bellegarde, dann den Schildern folgen.
Château Mourgues du Grès
François & Anne Collard
1055, chemin des Mourgues du Grès | F-30300 Beaucaire
Tel. +33 (0)466 59 46 10 | www.mourguesdugres.com
Auf nach Nîmes
Nîmes ist der ideale Stützpunkt zum Erkunden der Region für Leute, die von der Infrastruktur einer Stadt profitieren, aber sich nicht stundenlang durch Vororte quälen wollen, um die Umgebung zu entdecken. Die umliegenden Weingebiete liegen in rund 30 Minuten Entfernung. Das Mittelmeer ist eine knappe Stunde entfernt, das Gleiche gilt für Uzès, Avignon, Châteauneuf-du-Pape, Orange, Arles, die Camargue oder Montpellier. Einige empfehlenswerte Adressen:
Hotel Imperator****
15, rue Gaston Boissier | F-30900 Nîmes | Tel. +33 (0)466 21 90 30 | www.hotel-imperator.com
Dieses gediegene und tadellos geführte Jugendstilhotel mit Innenhof, Hemingway-Bar und historischem Aufzug (keine Angst, er funktioniert) ist eine eigentliche Institution in Nîmes. Zentral in der Altstadt gelegen,sichere Garage und komfortabler Autoservice, geräumige, komfortable Zimmer (besser den kleinen Aufpreis für Zimmer mit Blick auf den Garten bezahlen), zuvorkommendes Personal, unschlagbar im Preis: unsere Lieblingsadresse seit Jahren.
Restaurant Skab
7, rue de la République | F-30000 Nîmes | Tel. +33 (0)466 21 94 30 | www.restaurant-skab.fr
Daniel Sanchez, Schüler von Meister Jerôme Nutile (siehe Mas de Bourdan), steht am Herd, Alban Barbette, der seine Sporen unter anderem bei Joël Robuchon und bei Pierre Gagnaire abverdient hat, ist für den Wein zuständig. Südliche Küche aus erzfrischen Zutaten (der beste Saint-Pierre, den ich je gegessen habe), mit Pfiff und Präzision präsentiert, gute Karte regionaler Weine und ein Sommelier, der sein Handwerk versteht. Sterneniveau, stimmig im Preis.
Moulin des Costières
Oliveraie Jeanjean 2373, chemin des Loubes | F-30800 Saint Gilles | Tel. + 33 (0)466 87 45 09 | www.oliveraie-jeanjean.com
Die Familie Jeanjean bestellt seit 1994 biologisch 10000 Olivenbäume, deren Früchte (sieben verschiedene Varietäten) in der eigenen Mühle kalt gepresst werden. Der Shop, täglich von 9 bis 12 Uhr und von 14 bis 18 Uhr geöffnet (ausser sonntags), ist ein wahres Schlaraffenland für Produkte auf Olivenbasis, mehrere Sorten Öle für jeden Geschmack, Olivenpasten in zahlreichen Varianten, aber auch andere regionale Konserven.
La Nîmoise
18, rue Emile Jamais | F-30000 Nîmes | Tel. + 33 (0)434 28 67 43 | www.lanimoise.fr
Christophe Mouton ist der preisgekrönte König der Stockfischpaste Brandade de Nîmes. Er bereitet sie in vier Varianten zu, entweder frisch (ohne Konservierungsmittel und Zusätze)oder (für den Transport unerlässlich) als Vollkonserve. Zwischen zwei Kunden nimmt er sich auch gerne die Zeit, die interessante Geschichte dieser Spezialität zusammenzufassen. Ein zweites Verkaufslokal befindet sich in der Rue de l’Horloge in Nîmes (La Maison de la Brandade).