Vosne-Romanée
Mekka der Weinkultur
Text und Fotos: Rolf Bichsel
Im Juli 2015 wurden die Climats des Burgund von der UNESCO als Kulturgut der Menschheit anerkannt. Berühmteste Dorflage der Region ist Vosne-Romanée aber schon seit vielen Hundert Jahren.
Der Corton-Hügel ist schöner. Gevrey-Chambertin bekannter. Das Clos Vougeot zieht mehr Touristen an. Doch weder da oder hier noch dort, sondern im schmalen Schatten eines Kreuzes mitten in den Reben über Vosne, langweilig lindgrüne Reben, die einfach aussehen wie langweilig lindgrüne Reben, versammeln sich Kenner und solche, die es werden wollen, und starren wie hypnotisiert auf die Böden, die den teuersten Wein der Welt ergeben. Und was sehen sie? Krümelige braune Tonerde, ein paar einsame Kalksplitter, etwas Unkraut und Reben, die halt eben Reben gleichen, im Frühling wie Reben kleine, fast unsichtbare Blüten tragen, die verhalten duften wie alle Rebenblüten, aus denen im Juni grüne Träubchen werden, die im September oder Oktober auf die Kelter kommen. Nur die Andacht der Besucher weist auf die Besonderheit des Ortes hin.
Jede Religion kennt ihre Ketzer. Die steigen dann über das Mäuerchen oder nehmen wie ich ganz einfach dreist die Bresche ein paar Meter weiter. Und jedes Mal, wenn ich mich mit schussbereitem Fotoapparat seitwärts in die Reben schlage, feuert garantiert irgendein Mensch empört eine Schimpf-Schrapnell in meine Richtung: Pouvez pas lire?/Können Sie nicht lesen?/Didn’t you read this, sucker? Weil ich kein Russisch kann und alle anderen Sprachen nur, wenn ich will, flattere ich gemeinhin einfach müde mit den Schulterflügeln und stampfe unbeirrt weiter die Rebzeilen entlang und ignoriere tapfer alle bösen Blicke, die mir Fragezeichenlöcher in den trotzig gekrümmten Rücken brennen. Und tue so, als hätte ich die Tafel nicht gesehen, auf der weiss auf braun zu lesen steht: «Bitte auf der Strasse bleiben und auf keinen Fall in die Reben eindringen.»
Climat-Geheimnisse
Romanée-Conti. Genau 1,8051 Hektar gross. Im Alleinbesitz der gleichnamigen Domäne. Die legendärste Weinlage, der teuerste Wein der Welt. Grand-Cru-Herz, das dem unscheinbaren Dorf mit Vornamen Vosne den Takt vorgibt und den Eigennamen nach. Kaaba im Al Haram des Mekkas jedes Weinhadschis, der angesichts der Unscheinbarkeit des Ortes nur schwer seine Enttäuschung verbergen kann. Dafür hat er nun seine beschwerliche Pilgerreise in Angriff genommen, hat Staus auf dem Karawanenweg in den Süden überwunden, ist Radarfallen entgangen, hat «Geld oder Leben» skandierenden Wegelagerern getrotzt, die ihm falsche Ray-Bans, aber echte Rhinozeroslederportemonnaies und anderen Wüstentand aufdrängen wollten?
Frust und Enttäuschung lässt er dann ganz folgerichtig an mir Giaur aus, der es einfach nicht lassen kann, Dingen auf den Grund zu gehen, Informationen aus dritter Hand mit den Füssen tritt und emsigen Ameisen, die nach Delikatessen suchen, mit denen sie ihre Königin gebärfreudig stimmen können, auf den Deckel und gut erzogenen Besuchern aus aller Welt auf den Schlips. Denen bleibt wenigstens ein Trost: Auch mir ist es in langen, verbrecherischen Vandalenzügen durch die Reben von La Romanée, Richebourg, La Tâche oder Echézeaux nicht gelungen, dem Geheimnis dieser Climats auf die Schliche zu kommen. Nichts, aber auch wirklich gar nichts ist hier besonders. Nicht der Boden (Lehm über Kalk), nicht der Ort in der Mitte des unspektakulären Hangs, der weniger Neigung aufweist (keine vier Prozent) als die Kuppe, an der ich Ski laufen lernte, bevor ich auf zwei Beinen stehen konnte.
Bei meinem ersten Besuch suchte ich die Spitzenlagen weiter oben am Hang, dort, wo in Tat und Wahrheit Premier-Cru- und Village-Weine wachsen. Mein erstes publiziertes Bild von Romanée-Conti zeigt das Climat Les Petits Monts –gemerkt hat das bis heute niemand und auch ich nur durch viel Zufall. Was zum Teufel ist denn das Besondere an der ominösen Lage und ihren Grand-Cru-Geschwistern? Wie ist es möglich, dass Les Malconsorts oder La Tâche erkennbar anders gebaute Weine ergeben als Richebourg oder Les Suchots, aber draussen im Rebberg kein Mensch merken würde, dass er den einen verlässt und den anderen betritt, hätten mitleidige Kobolde nicht vor einigen Jahren überall hübsche Tafeln angebracht, die dafür sorgen, dass Irrtümer wie meiner endgültig der Vergangenheit angehören?
Es gibt jede Menge intelligente Antworten auf die Frage, aber eine hundertprozentig überzeugende gibt es nicht. Und das ist ganz gut so. Die Besonderheit der grossen Burgunder Lagen ist eines der letzten Geheimnisse unseres Zeitalters der allwissenden Google-Search-und-Wikipedia-Piraten (unter denen ich, ich gebe es gerne zu, die Rolle eines Jack Sparrow spiele). Mit den Lagen des Burgund im Allgemeinen und den Grands Crus von Vosne-Romanée im Besonderen ist es wie mit dem Schnurren eines Katers: Jeder kann es hören, doch bis heute weiss niemand, wie es entsteht.
Terroir-Musik
Selbst ein ungeübter Verkoster kann sich davon überzeugen, dass ein Romanée-Saint-Vivant anders schmeckt als ein Echézeaux, ein Beaumont sich von einem Petits Monts unterscheidet und ein Richebourg von einem Grande Rue. Ich habe vor Jahren bei einer Verkostung mitgemacht, wo es galt, sechs Vosne-Cru-Namen blind sechs Weinen zuzuordnen. Die durchschnittliche Trefferquote lag bei vier, und zwei Mitspieler hatten alle richtig. Bei einer ähnlichen Übung mit allen Premiers Crus des Médoc – anwesend waren einige der sogenannten erfahrensten Verkoster der Welt, darunter meine Weinigkeit, und drei Besitzer/Weinmacher der nämlichen Güter – lag die durchschnittliche Trefferquote unter eins, und gerade zwei Verkoster brachten es mit viel Mühe auf zwei richtige Resultate (der eine war ich, aber auch nur, weil ich zwei Namen durcheinander brachte – tumb und Tor, aber Glück im Spiel).
Was ist denn das Besondere an Vosne-Romanée und seinen Climats? Erstes erkennbares, erschnüffelbares Merkmal ist der je nach Lage unterschiedliche, immer aber präsente Fruchtausdruck. Man mag dem Kirsche, Erdbeere, Johannisbeere, Griotte oder Cassis nachsagen oder von mir aus frischen roten im Frühtau zu Berge geernteten Berner Rosenapfel in Holundergelee mit einem Hauch Vanille, Zimt und Safran – die Fruchtigkeit ist immer vorhanden, aber nie so gaumenfällig wie in einem Fixin, nie so ausgeprägt wie in einem Morey, im Gegenteil zurückhaltend, dezent, delikat, mit einer fast unmerklichen Waldbodennote. Mit der Reife kommen dann (wie in allen grossen Weinen) Noten von Moschus, Steinpilz, Leder, Trüffel dazu und ein Hauch verblühte Rose. Dann ist da die Qualität der Tannine. Kernig in einem Malconsorts (die Lage stösst nicht von ungefähr an Nuits-Saint-Georges), lückenlos dicht und von einmaliger Konsistenz im benachbarten La Tâche, schon fast cremig im Grands Echézeaux (der zwar zu den Grands Crus von Vosne gezählt wird, aber auf den Böden der Gemeinde Flagey liegt, die einen Keil zwischen Vosne und Vougeot geschoben hat, und «gross» heisst, in Tat und Wahrheit aber flächenmässig weit kleiner ist als der eigentliche Echézeaux – beide spricht man trotz Accent aigu «Echözo» aus, gleich drei hübsche Stolperfallen im Dschungel der Burgunder Cru-Klassierung, Coke in der Nase aller Besserwisser, die Unbedarften so ihr Weinwissen in den Ausschnitt niesen können) und sich an das Clos Vougeot schmiegt, leicht kräuterwürzig, aber nie aggressiv in einem Village, nie breit, immer dicht, präzise, mineralisch, was immer das auch heissen mag – ein Vosne lässt sich nicht leicht in Worte fassen. Weniger wuchtig als ein Corton, nie auffällig extraktreich, gleichzeitig lückenlos vollmundig und dicht und mit perfekt sitzendem Süsskomplex, der nur selten wahrnehmbar wird und doch immer vorhanden ist, hallen grosse Vosne, die immer auch Frische zeigen, ewig lang im Gaumen nach. Kein Wunder, besitzen alle Vosne, selbst der Village, ein gutes Reifepotenzial, das bei Grands Crus fast ewig anhält.
Das Verblüffendste, was ich je in einem Glas hatte, war ein La Romanée 1865 aus den Schatzkellern von Louis Jadot. Der Wein liess in puncto Frische und Fruchtigkeit, Eleganz und Komplexität Youngster aus den 20er Jahren hinter sich: Ich hätte ihm nicht mehr als 40, 50 Jahre gegeben. Die Handschrift eines Produzenten äussert sich (von technischen Mängeln, wie sie immer seltener werden, abgesehen) vor allem im Ein- und Ausdruck des zum Ausbau verwendeten Holzes. Blumig bei Chantal Lescure, sehr präzis bei Bouchard, leicht rauchig bei Champy, würzig bei Louis Max. Doch immer begleitet dies nur die Typizität der Lage. Ja, Vosne ist die Quadratur des Burgunder Climat-Zirkels.
Falsche Römer, echte Mönche
Natürlich heisst Vosne-Romanée heute Vosne-Romanée, weil da schon die alten Römer wohnten und sich wonnig im Rotwein wälzten, bevorzugt deren Chefs, Staatsmänner, Kaiser, Generäle. Denkste. Der Name taucht erst 1651 zum ersten Mal auf, wie uns Jacky Rigaux, einer der wenigen einschlägigen Autoren, der weiss, was echtes Quellenstudium bedeutet, in seinem Büchlein «Grands Crus de Bourgogne» lehrt, das sich jeder halbwegs an Wahrheit interessierte Burgunder-Freund besorgen sollte.
Vierhundert Jahre früher, im Jahre 1241, läuteten ein Dutzend Brüder des Klosters Saint-Vivant eine Generalversammlung ein, bei der sie einstimmig beschlossen, sich vom westlichen Teil ihres Clos Saint-Vivant zu trennen, das sie hundert Jahre zuvor vom Herzog des Burgund zugesprochen erhalten hatten. Dank dieser Transaktion (und dank der unermüdlichen Schnüffelarbeit von Jacky R.) wissen wir, dass die Parzelle von knapp zwei Hektar damals den Namen Cros des Cloux trug. Cloux steht für Clos (das Clos Saint-Vivant) und Cros (Creux) ist eine Delle. Richtig berühmt wurde die Parzelle erst, als sie 1760 vom Prinzen von Conti erworben wurde, für eine absolut astronomische Summe, die nur noch mit dem verglichen werden kann, was neureiche Chinesen heute für Rebland hinblättern.
Die wenigen Tausend Flaschen Jahresproduktion putzte Louis François de Bourbon Conti, Cousin des französischen Königs (Ludwig XV.), ewig in Geldnöten steckender Höfling, Parlamentarier, Frondeur, General der französischen Armee, Freidenker, Atheist, Propst des Ordens Saint-Jean von Jerusalem (oder des Malteser Ordens), Exkommunizierter, Beschützer von Rousseau und Bewunderer von Mozart, in der Folge alle selber weg: Betuchte Geniesser der damaligen Zeit mussten sich neidisch mit La Tâche begnügen, der so zum besten erhältlichen roten Burgunder aufstieg. Nicht zuletzt damit trug Conti, der trotz reichlichem Romanée-Genuss im Alter von 58 Jahren verstarb, einiges zum Ruhm des Weines bei, der als Medizin für Leidende galt, seit er Ludwig XIV. von einer Fistel befreit haben soll. Conti hat seinen Namen für alle Zeiten mit dem der Lage liiert, mit deren Bezeichnung sich später auch das Dorf schmückte, und sich so die Unsterblichkeit verdient.
Mit dem Qualitätsweinbau begonnen haben auch in Vosne die Mönche der umliegenden Klöster, Saint-Vivant (die heutigen La Romanée-Conti, Romanée Saint-Vivant und Richebourg) und Cîteaux vor allem. Die Lage Echézeaux Bas, das heutige Grands Echézeaux, bestellten die Zisterzienser seit dem 12. Jahrhundert. Deren Ernte wurde zwar in den Kellern ihres Clos Vougeot zu Wein verarbeitet, doch immer vom eigentlichen Clos getrennt, ein Hinweis auf die immense Terroir-Kenntnis des Ordens. Erworben soll dieser den Echézeaux Bas zum Trost darüber haben, dass ihm der Grossteil des Musigny entging (der über dem Clos Vougeot liegt und zu Chambolle gehört, die andere «beste» Rotweinlage des Burgund) – er konnte nur den heute als Petits Musignys bekannten Teil ergattern. Vielleicht ist das der Grund, warum er sich wieder vom Echézeaux trennte.
Der Herrschaft des Adels und der Kirche über die besten Weinbergslagen bereitete die Französische Revolution ein jähes Ende. Der Grossteil der heutigen Premier- und Grand-Cru-Lagen wurde aufgeteilt und als Staatsgut an den Meistbietenden verschachert. In den darauffolgenden Jahrzehnten kam es zu häufigen Besitzerwechseln, denn nicht alle «Citoyens» und neureichen Kinder der Restauration sahen sich imstande, Rebgärten zu unterhalten. So gelang es Louis Liger-Belair zwischen 1815 und 1826, mehrere kleine Parzellen über dem eigentlichen Romanée-Conti zu erwerben, die zum heutigen La Romanée wurden. Bereit sals die Saint-Vivant-Mönche sich vom heutigen Romanée-Conti trennten, gehörte La Romanée («au sentier du prêtre» genannt, später als «au-dessus de la Romanée» oder «en la Romanée» bekannt) nicht – oder nicht mehr – dazu.
Mit dem Erwerb des Climats Romanée-Conti erfüllten sich 1869 die Vorfahren der aktuellen Besitzer einen langgehegten Traum. La Tâche, bis zur Revolution im Besitz der Kirche von Nuits, ist heute ein Monopol der Domaine dela Romanée-Conti. Richebourg, Grands Echézeaux und Romanée-Saint-Vivant wurden nach und nach auf mehrere Besitzer aufgeteilt. 1937 wurden zehn Parzellen um die drei Hektar grosse Lage Echézeaux Hauts mit dieser zum heute rund 37 Hektar grossen Grands Echézeaux. La Grande Rue, Monopol der Domaine François Lamarche, wurde erst 1992 zum Grand Cru aufgewertet. Besitzer kamen und gingen – doch die Faszination für die aussergewöhnlichen Lagen bleibt, und das seit fast tausend Jahren.