Okanagan Valley, Westkanada
Pionierland der Extreme
Text: Ursula Heinzelmann
Eisbären, Eishockey, Eiswein... ja, natürlich gehört das zu Kanada. Aber auch: Schwarzbären, Strand und grossartige trockene Weine, die den internationalen Vergleich nicht zu scheuen brauchen. Von Riesling über Cabernet Franc bis hin zu Syrah – eine Weinreise ins Okanagan Valley in der kanadischen Provinz British Columbia.
Nordamerika, Westküste. Ein kurzer Shuttleflug von Seattle über die Grenze nach Kelowna in Kanada, am nördlichen Ende des Okanagan Valley. Vom Flughafen direkt zu Tantalus Vineyards, keine 20 Minuten Fahrt durch die trockene Sommerhitze. Die Strasse führt den Hang hinauf, bald wird der fantastische Blick auf den See und die Berge am gegenüberliegenden Ufer frei, und schon stehe ich mitten in den Reben. Ein Teil davon ist bereits 1927 gepflanzt worden und gehört zum ältesten Rebbestand des Gebiets, doch die Gebäude könnten kaum moderner wirken. Weiss leuchtend und glaslicht schwebt der Tantalus Tasting Room förmlich in der Landschaft. Kellermeister David Patterson, wie viele hier in der Branche gebürtiger Neuseeländer, zeigt mir die Bienenstöcke am Waldrand, berichte von dem verstärkten Einsatz biodynamischer Präparate, Abwasseraufbereitung und Solarpanel-Projekt: «Unser Ziel ist ein ausgewogenes Ökosystem mit den Trauben als Umsatzbringer.»
Auf den 3500 Hektar des langgezogenen Tals sind rote und weisse Sorten beinahe gleichmässig vertreten; flächenmässig dominiert Pinot Gris vor Chardonnay und Gewürztraminer, Merlot vor Pinot Noir, Cabernet Sauvignon und Franc. Auch wenn immer wieder marketingbedachte Rufe nach einer Leitsorte laut werden, liegt die eigentliche Stärke des Okanagan Valley genau im Gegenteil: nämlich in seiner Vielfalt und der Fähigkeit, Extreme einzufangen. Offiziell gibt es bis dato nur eine Subregion,
die als besonders frostsicher geltende Golden Mile Bench. Doch sind Bestrebungen des Winzerverbands im Gange, zusätzlich vom kühleren Norden hin zum wärmeren Süden in Kelowna/ Lake Country, Naramata/Penticton, Okanagan Falls/North Oliver, Golden Mile und Black Sage/Osoyoos zu differenzieren.
Der helle Norden des Tals hier bei Kelowna ist für mich gleichbedeutend mit säureklaren, nahezu schneidenden und doch alles andere als grünen Rieslingen wie hier bei Tantalus. Der erste Schluck vom 2013er Old Vines, 1978 auf den kargen Böden gepflanzt, fegt sofort alle Reisestrapazen beiseite. Der Wein ist eine Studie in Zitrone, die 13 Volumenprozent Alkohol von der Säure schwerelos getragen. Wenige Tage später wird genau das die internationale Fachwelt beim Riesling Rendezvous in Seattle in anerkennendes Staunen versetzen. Doch damit nicht genug: Es gibt dieses gelbe Feuerwerk auch in einer mit der eigenen Restsüsse versekteten, zwei Jahre auf der Hefe gelagerten Form als 2013er Natural Brut. Pattersons 2013er Traditional Method Blanc de Noir übersetzt Pinot Noir ebenso feinmineralisch in altgolden leuchtende Himbeerfrucht – Bubbles sind die heimliche Spezialität des Okanagan, und ich überlege bereits bei diesem ersten Stopp meiner Reise, nach British Columbia auszuwandern.
Riesling-Klon von der Mosel
Bei Sperling Vineyards, keine zehn Minuten Autofahrt entfernt, verkosten wir im Freien. Auch hier gibt es Spitzen-Bubbles, Spark ling Brut aus Weissburgunder und Brut Reserve aus Pinot Noir und Chardonnay. Es folgt grossartig gereifter Riesling aus 2009, der im Tal weit verbreitete Klon vom Moselwinzer Nik Weis: Limettencreme, rauchige Quitte und superlebendig. Als Überraschung dann etwas ganz anderes, der 2015er Natural Amber Pinot Gris, komplett spontan, zum Teil mit den Schalen vergoren und unfiltriert – eine neue Seite des Okanagan Valley. Gleich darauf zwei ebenso überzeugende Weine, die eher dem Klischee entsprechen: Eiswein, bananencremig aus Vidal (2015) und waldboden-, sojasaucen-, umamiwürzig aus Pinot Blanc (2013). Denn die Temperaturen im Okanagan Valley können zwar im Sommer 40 Grad Celsius erreichen, im Winter aber durchaus auch auf minus 20 Grad fallen. Die Summe der Wachstumsgradtage, an denen das Thermometer während der Vegetationsperiode mindestens zehn Grad anzeigt, liegt allerdings über denen des Rheingau und der Champagne. Kanada und seine Weine begreift nur, wer mit offenem Geist reist und für ständige, überraschende Updates alter Ansichten aufgeschlossen ist.
Dies ist Pionierland, hier ist immer noch alles in Bewegung. Die Weingeschichte des Okanagan Valley reicht nicht sehr weit zurück: 1859 die ersten Missionare, 1907 erste ernsthafte Ausbauversuche, bald unterminiert von Prohibition und Hybridpflanzungen. Erst das sogenannte Becker Project, von dem Geisenheimer Rebzüchter Dr. Helmut Becker initiierte Vinifera-Versuchspflanzungen, sorgte ab Ende der 1970er Jahre zusammen mit Reformen der Alkoholpolitik und der Öffnung zum Weltmarkt durch das GATT-Abkommen für den allmählichen Durchbruch. 1995 gab es etwa 30 Weingüter in British Columbia (wozu neben dem Okanagan Valley vor allem auch Vancouver Island und die Gulf Islands sowie das Fraser Valley gehören), 2014 waren es über 230, Tendenz steigend.
Ölgeld aus Alberta, Weintourismus und Altersruhesitz
Die sozialen und ökonomischen Voraussetzungen dafür sind gut. Das Okanagan Valley ist beliebter Altersruhesitz mit entsprechendem Immobilienboom, hierher schwappt viel Ölgeld aus Alberta. Weintourismus und Direktverkauf sind wichtig, da der Vertrieb durch das Staatsmonopol eingeschränkt und mühsam ist. Das beeinflusst auch den Weinstil: Wie in vielen aufstrebenden neuen Weingebieten war und ist das Bemühen zu beobachten, sich durch Power im Glas bei den Kunden und in der Weinwelt Respekt zu verschaffen. Das kann durchaus beeindrucken und überzeugen, wie beim Red Icon von Painted Rock oder beim Oculus der Mission Hill Winery. Mission Hill liefert auch die entsprechende Kulisse: Zu der imposanten Anlage gehört eines der besten Restaurants der Region, und der von Einheimischen ungern gehörte Vergleich mit dem Napa Valley lässt sich einfach nicht vermeiden. In puncto landschaftlichen Reizes liegt Okanagan allerdings deutlich vor Napa.
Bei der Summerhill Pyramid Winery herrscht bodenständigerer Trubel. Ob Aquarium, Minigolf oder die Riesensektflasche, die sich ohne Unterlass in ein übermenschen grosses, silbernes Glas entleert, Anspruch auf Eleganz oder Ästhetik wird hier nicht erhoben. Stephen Cipes geht es um innere und spirituelle Werte: Summerhill ist seit 2012 der erste Demeterzertifizierte Betrieb im Gebiet. Mit langen Locken und runden, rosafarbenen Brillengläsern könnte der Anfangsiebziger als Bruder von John Lennon durchgehen. Wozu passt, dass er eine grosse Pyramidegebaut hat - seine Vision, sagt Sohn Ezra, der 2008 die Geschäftsführung übernommen hat. Der in der Pyramide gelagerte Wein präsentiere sich eindeutig besser, Weinmachen sei eben nicht rational. Er schenkt mir drei Sekte ein, die über jeglichen Zweifeler haben sind. Cipes Brut NV, der meistprämierte Wein Kanadas, vereint belebende Rieslingfrucht mit Weissburgunderschmelz und etwas Chardonnaymuskeln. Der 2010er Blanc de Blanc aus Chardonnay aus Osoyoos, dem warmen Süden, schmeckt mineralischherb, mit langem Kräuterfinish, während sich der 1998er Cipes Ariel aus Pinot Noir und Chardonnay mit einem Hauch Pinot Meunier sehr anspruchsvoll gibt, nach Luft verlangt, um Frucht und oxidative Noten zu vereinen und sich schliesslich herb und charaktervoll zu sammeln. Trotz allen Trubels zeigen solche leiseren Töne im Glas: Wein-Kanada wird erwachsen. Weiter geht es Richtung Süden.
Kanada und seine Weine begreift nur, wer mit offenem Geist reist und für ständige, überraschende Updates alter Ansichten aufgeschlossen ist.
Vor zehn Jahren hat Jak Meyer in den Okanagan Falls hoch über dem Skaha Lake neben der Banker-Karriere mit dem Weinmachen begonnen. Heute gehört Meyer Family Vineyards mit seinen ungemein eleganten Weinen zu den besten Erzeugern Kanadas. Chardonnay und Pinot Noir wirken trotz 13,5 Volumenprozent Alkohol schlank und sehnig, die Tannine feinkörnig und herb, ohne jede laute Aufdringlichkeit. Stundenlang könnte ich mich mit ihnen beschäftigen. Doch keine fünf Minuten entfernt erwartet mich eine weitere Riesling-Hochburg, das von Alan Dickinson aus dem Nichts beharrlich hochgepäppelte Syncromesh. In den Weinen, spontan vergoren und durchweg mit etwas Restsüsse belassen, kommt die Entschlossenheit des Winzers zum Ausdruck, den Reben durch niedrige Erträge grösstmöglichen Charakter zu entlocken. Neben Riesling setzt er auf Cabernet Franc, dessen blaurote Frucht ähnlich wie in den besten Weinen von der Loire trotz 14 Volumenprozent Alkohol schmetterlingleicht wirkt. Dann, noch abgelegener: Le Vieux Pin. Ein französisches Weingut, von iranisch stämmigen Kanadiern gegründet? Doch die Landschaft wirkt wild wie am Fusse der Pyrenäen, Önologin Sévérine Pinte stammt aus dem Languedoc. Und in ihren Syrah-Weinen vereinen sich, hier wie dort, voller Duft und steinigstaubige Tiefe. Coup de Coeur, Volltreffer, notiere ich und muss mich wiederum losreissen, denn Pinte "kann" auch Weisswein, alskargsteinigen Sauvignon Blanc oder verführerisch vermouthartige Ava-Cuvée aus Viognier, Roussanne und Marsanne.
Vom traditionellen Obstbau zum Weinexperiment
Grosse Teile des Okanagan Valley waren und sind dem Obstbaugewidmet, jetzt im Hochsommer locken und leuchten überall Pfirsiche und Kirschen. Auf eben jene hatte sich Chris Jentsch von C.C. Jentsch spezialisiert, als er ab 2004 begann, auf Trauben umzustellen und mit eigenem Wein zu experimentieren. Mit Amber Pratt engagierte er schliesslich eine äusserst talentierte Kellermeisterin. Ihr Syrah stellt mit Räucherspeck und Muskeln das südliche Gegenstück zu den stilistisch an die nördliche Rhône erinnernden Vieux-Pin-Weinen dar, der 2014er Small Lot Cabernet Franc lockt wie ein Herbstabend am Feuer. Ich denke schon wieder über Auswanderung nach.
Als ich am nächsten Morgen von Osoyoos nach Westen abbiege, wird meiner Städterseele aber klar, was das wirklich bedeuten würde. Umgeben von hohen Felswänden zieht sich das abgelegene Similkameen Valley am gleichnamigen Fluss entlang. Die Strassenschilder an der einsamen Strasse nach Keremeos quietschen im Wind. Die Talböden sind von Kalksedimenten und Granit geprägt, die Luft ist noch trockener als im Okanagan, der nächtliche Wind kühl. Pilzkrankheiten sind in den 265 HektarWeinbergen selten, Öko-Anbaumethoden weit verbreitet. Bei Orofino demonstrieren John und Virginia Weber mit drei charaktervollen Einzellagen-Rieslingen, saftig-fruchtigem Syrah sowie einer komplexen roten Cuvée namens Beleza das Potenzial dieser Gebirgslandschaft. Corcelettes Winery ergänzt die Palette mit eher zartem Chasselas und Gewürztraminer, während Rhys Pender MW und Alishan Driediger mit der Little Farm Winery die Natural-Wine-Richtung erkunden.
Meine Woche im Okanagan Valley vergeht wie im Flug. Wild Goose Vineyards in einem Kessel hoch über den Okanagan Falls beglückt mich mit Stoney Slope Riesling, aber auch säuretransparentem Mystic River Pinot Blanc und im Okanagan seltenen Botrytis-Süssweinen. Gleich nebenan dann wiederum grossartige Bubbles bei Blue Mountain und schliesslich, schon beinahe auf dem Weg zurück zum Flughafen, die betonvergorenen, unfiltrierten Haywire-Weine bei Okanagan Crush Pad. «Wir versuchen, kanadische Weine zu machen», sagt Mike West. Wein-Kanada wird immer spannende.