Kalifornien
Frische Crus vom wilden Pazifik
Text: Thomas Vaterlaus
«Freie Seesicht für Reben» heisst die Losung. Nördlich von San Francisco rücken immer mehr Winzer zum kühlen Pazifik vor. Hier gelingen die filigransten Chardonnays und Pinots der Neuen Welt. Und der Küstenweinbau bekommt immer exaktere Konturen.
Alles ganz einfach: Nach der Golden Gate Bridge, stadtauswärts fahrend, geht’s links weg auf den gemütlichen Highway 1, der einen direkt zur wilden Sonoma Coast führt. Vorbei an der Bodega Bay, wo Alfred Hitchcock seinen Thriller «Die Vögel» gedreht hat. Der fengshuimässig beste Platz, um für einen Abend oder ein paar Tage ins neue Weinküsten-Feeling einzutauchen, ist das 120 Kilometer nördlich von San Francisco gelegene Jenner. Der winzige Küstenort mit seinen lustig in den Hang «hingewürfelten» Holzhäuschen liegt da, wo der Weinfluss Russian River in den Pazifik mündet. Während die einen im hippen, nicht weit entfernten Yountville im Napa Valley in dünnen Seidenshirts draussen ihren Dom Pérignon schlürfen, spazieren hier einsame Gestalten und sich gegenseitig wärmende Paare in dicken Strickpullovern zwischen mächtigen Felsen am einsamen Strand und verstehen ihr eigenes Wort nicht mehr, wenn im Minutentakt die Big Waves ans Land donnern.
Zum Glück haben sie im «River’s End Restaurant & Inn» schon das Feuer im Kamin angemacht. Die bunt zusammengewürfelte Truppe, die sich jeden Abend zufällig in dieser weit abgelegenen, aber gemütlichen Lodge trifft, die wie ein Adlernest über dem Strand thront, trinkt das erste Glas meist draussen auf der Veranda. Nicht selten ist es ein Chardonnay «Russian River Ranches» von Sonoma-Cutrer. Die Crus dieser legendären Kellerei werden in den USA von Parker und Konsorten eher moderat bewertet. Für die Gäste hier ein nützlicher Hinweis dafür, dass sie es mit einem trinkbaren Chardonnay zu tun haben. Einem Wein, bei dem sich die Flasche viel zu schnell leert und den man gerne wieder bestellt, wenn man ihn das nächste Mal auf einer Weinkarte sieht. Auf jeden Fall aber ist so ein Chardonnay von Sonoma-Cutrer immer ein idealer Ausgangspunkt für grundlegende Diskussionen. Warum beurteilen amerikanischeKritiker diesen Wein oft als etwas dünn,während ihn Europäer mehrheitlich für burgundisch elegant halten. Nun: Für Mächtigkeitstrinker ist sie sowieso ungeeignet, die Sonoma Coast. Doch auch in Amerika wächst die Zahl derer, die nach Eleganz im Glas Ausschau halten. Darum mischen sich jetzt immer mehr Weinfreaks unters Küstenvolk, in dem aber immer noch Wellenreiter, Bio-Bauern, Alt-Hippies und New-Age-Aktivisten den Ton angeben.
Am Anfang war ein Hirsch
Den Anfang machte der heute 70-jährige David Hirsch. Als er sich 1978 in den Bergen oberhalb von Fort Ross niederliess und 1980 die ersten Rebberge anlegte, von denen aus man den Pazifik sehen konnte, lebten er und seine Frau ziemlich weit weg von allem. «Allein die Fahrt zum Postfach dauerte eine halbe Stunde. Ich musste unterwegs fünf Kuhgitter öffnen und schliessen. Und die asphaltierte Strasse endete sechs Kilometer vor der Farm», erinnert er sich. Wer damals hierher zog, war automatisch Teil der Land-Hippie-Bewegung. Doch damit hatten die neuen Sonoma-Coast-Winzer keine Probleme. Marie Hirsch etwa, in der längst verschwundenen Tschechoslowakei aufgewachsen, ist Architektin, Lichtdesignerin, Schmuckmacherin, Künstlerin, Grafikerin und Yogalehrerin. Im protzigen Napa Valley hätte sie sich eh nie wohl gefühlt. Und so ist es heute noch: Das Napa Valley steht für Schickimicki und wuchtige Neue-Welt-Cabs, die Sonoma Coast für bodenständiges Farmerleben, freien Geist und filigrane Crus aus Chardonnay und Pinot Noir.
Auf dieses «burgundische Potenzial» der küstennahen Lagen wurde erstmals ein grösseres Publikum aufmerksam, als international renommierte Kellereien wie Kistler und William Selyem in den 90er Jahren damit begannen, Chardonnay und Pinot-Selektionen aus dem Hirsch Vinyard separat abzufüllen und zu vermarkten. Die beiden Kellereien sind denn auch die wichtigsten Wegbereiter eines burgundischen Cru-Konzeptes in der weitläufigen Sonoma Coast mit ihren unzähligen Mikro-Terroirs. Sie bringen folgerichtig jedes Jahr eine Reihe von Einzellagen-Weinen auf den Markt, die meist nach den Eignern der betreffenden Rebberge benannt sind. So sind Familiennamen wie Hirsch, Drake, Allen, Dutton oder McCrea in den USA längst zu Synonymen für filigrane Crus aus Pinot und Chardonnay geworden. Gerade der Mc-Crea Vineyard Chardonnay von Kistler, der oben in den Sonoma Mountains auf einem Mix aus Kalk- und Vulkanböden reift, erinnert an einen geradlinigen Chablis. Auf der anderen Seite kommt Sonoma-Cutrer das Verdienst zu, dass heute ein grösserer Kreis von Weinliebhabern die neue Sonoma-Finesse kennt.
Eine Kellerei – zwölf Crus
Dass die Sonoma Coast endgültig zum «Burgund der North Coast» avancierte, ist auch das Verdienst des heute 55-jährigen Ted Lemon. Dieser studierte Önologie in Dijon und arbeitete danach für Domänen wie Georges Roumier, Bruno Clair, de Villaine oder Dujac. Er war der erste Amerikaner überhaupt, der ein burgundisches Topweingut, nämlich die Domaine Guy Roulot, führte. Mitte der 80er Jahre kehrte er in die USA zurück und arbeitete international als Wine-Consultant. 1992 fuhr er mit seiner Frau Heidi mit dem Auto von Seattle bis Santa Barbara. Sie waren auf der Suche nachdem besten Platz für ihr eigenes Weinprojekt. Am Schluss fiel ihnen die Entscheidung leicht. Nur im Einflussbereich der kühlen Sonoma Coast sahen sie die Möglichkeit, dem Chardonnay und dem Pinot eine Finesse abzuringen, die an die Originale aus dem Burgund erinnert.
Littorai Wines vinifiziert heute Selektionen von zwölf Einzellagen aus dem Anderson Valley und von der Sonoma Coast, dazu gehört auch der legendäre Hirsch Vineyard. 2003 kauften sie eine 15 Hektar grosse Farm im westlichen Sonoma, die sie zu einem biodynamischen Musterbetrieb umstrukturierten. Hier werden die Hornkiesel- und Hornmistpräparate, aber auch die Düngerzusätze (Schafgarbe, Kamille, Brennnessel, Eichenrinde, Löwenzahn) eigenhändig produziert – inklusive der dazu nötigen Tierhaltung. Die Kellerei wurde nach streng ökologischen Kriterien gebaut. Es gibt wohl zurzeit kein anderes Weingut weltweit, das die einstige Forderung des Biodynamie-Begründers Rudolf Steiner nach einem geschlossenen Bewirtschaftungskreislauf so konsequent umsetzt wie Littorai. Für Heidi und Ted Lemon ist es eine Grundvoraussetzung, um ihren Crus so viel individuellen Ausdruck zu verleihen wie möglich.
Neue Ursprungsbezeichnungen
Der enorme Effort, mit dem heute die Küstenwinzer an ihren Lagenweinen feilen, hat engagierte Diskussionen um die Ursprungsbezeichnung ausgelöst. Die 1987 auf Initiative von Sonoma-Cutrer geschaffene Appellation (in Kalifornien AVA für «American Viticultural Area» genannt) umfasst ein weitläufiges Küstengebiet. 2007 wurde mit dem Green Valley eine erste Subregion geschaffen. Und mit Fort Ross-Seaview kam 2012 eine zweite Subregion dazu. Die Küstensiedlung Fort Ross wurde 1812 von russischen Pelztierjägern gegründet, die über Alaska südlich der Küste folgten. Noch heute gibt es hier Holzkirchen im russisch-orthodoxen Stil. Das Weinbaugebiet im hinter der Küste liegenden Hügelland hat sich zum eigentlichen Hotspot entwickelt. Kellereien wie Marcassin, Peter Michael, Martinelli oder Failla haben hier in den letzten Jahren neue Rebberge angelegt.
Die wohl radikalsten Küstenwinzer sind aber Joan und Walt Flowers, die zuvor an der Ostküste eine Baumschule betrieben haben. Schon 1989 kauften sie ein 150 Hektar grosses Grundstück, das keine fünf Kilometer vom Pazifik entfernt auf einer spektakulären Hügelkuppe liegt, und pflanzten ihre Reben in Höhenlagen von bis zu 600 Metern an. Flowers wurde vor fünf Jahren von der Huneeus-Familie (der auch Quintessa im Napa Valley gehört) übernommen, ist aber immer noch das Weingut, das am nächsten an der Pazifikküste liegt. Bereits jetzt gibt es Pläne für vier weitere Subregionen (siehe Karte) an der Sonoma Coast. Ganz ähnlich wie das Burgund, das vor 80 Jahren seine komplex gegliederte Ursprungsbezeichnung bekam, erhält nun auch die Sonoma Coast eine Klassifizierung, welche die Komplexität ihrer verschiedenen Terroirs repräsentiert.
Den Pazifik vor der Tür
Trauben von der kühlen Sonoma Coast sind heute heiss begehrt. Längst produzieren auch Topkellereien im Napa Valley oder in den abseits vom Pazifik gelegenen Teilen des Sonoma County prestigeträchtige Küsten-Crus. Die hier vorgestellten Kellereien liegen alle nahe der Küste und verkörpern somit puren Sonoma-Pazifik-Spirit. Für Weinreisende dauert die Fahrt von San Francisco aus nur zwei Stunden. Als Lohn lockt ein einmaliges Naturspektakel aus wilder Küste, Rebbergen und Redwood-Wäldern. Alle Kellereien legen ihren Fokus klar auf Chardonnay und Pinot Noir. Das Angebot an Hotels und Restaurants ist zwar klein, aber durchaus fein.
DIE KÜSTEN-WINERIES
Chasseur
2064 Gravenstein Hwy N | Sebastopol, CA 95473
Tel. +1 (0)707 829 19 41 | www.chasseurwines.com
Kollektionen von bis zu sechs Lagenweinen aus Pinot Noir und Chardonnay, alle aus dem Übergangsgebiet zwischen Russian River Valley und Sonoma Coast.
Flowers Vineyard & Winery
28500 Seaview Road | Cazadero, CA 95421
Tel. +1 (0)707 847 36 61 | www.flowerswinery.com
Fünf Kilometer vom Pazifik und 500 Meter über Meer: Mehr Cool Climate geht nicht mehr. Die Toplinie heisst Camp Meeting Ridge Estate, der Pinot Noir hat nur 12,8 Volumenprozent Alkohol.
Hirsch Winery & Vineyards
45075 Bohan Dillon Road | Cazadero, CA 95421
Tel. +1 (0)707 847 36 00 | www.hirschvineyards.com
Legendärer Rebberg, der viele Top-Crus hervorgebracht hat. Seit 2002 keltert David Hirsch auch eigene Weine.
Kistler Vineyards
4707 Vine Hill Road | Sebastopol, CA 95472
Tel. +1 (0)707 823 56 03 | www.kistlervineyards.com
Eine Institution, bringt mit jedem Jahrgang absolute Topweine hervor, die kaum von Burgunder-Top-Crus zu unterscheiden sind.
Littorai
788 Gold Ridge Road | Sebastopol, CA 95472
Tel. +1 (0)707 823 95 86 | www.littorai.com
Moderne Mischwirtschaft, Biodynamie, Parzellenselektionen aus zwölf Toplagen, heute der Vorreiter an der Sonoma Coast.
Marcassin Vineyard
3358 River Road | Windsor, CA 95492
Tel. +1 (0)707 942 56 33
Helen Turley kelterte legendäre Cabernets im Napa Valley, für ihr eigenes Projekt ging sie aber an die wilde Sonoma Coast.
Marimar Estate
11400 Graton Road | Sebastopol, CA 95472
Tel. +1 (0)707 823 43 65
Mit sicherem Gespür startete Marimar Torres, die Schwester des katalanischen Weinpatriarchen Miguel Torres, ihr Projekt vor bald 30 Jahren im Russian River Valley.
Paul Hobbs
3355 Gravenstein Hwy N | Sebastopol, CA 95472
Tel. +1 (0)707 824 98 79 | www.paulhobbs.com
«Forbes» nannte ihn «The Steve Jobs of Wine»: Im Russian River Valley zaubert er mit Chardonnay und Pinot.
Sonoma-Cutrer
4401 Slusser Road | Windsor, CA 95492
Tel. +1 (0)707 528 11 81 | www.sonomacutrer.com
Schon 1973 gegründet, ist Sonoma-Cutrer eine Institution an der Sonoma Coast. Sehr frische Weine zu höchst humanen Preisen.
ESSEN UND SCHLAFEN
River’s End Restaurant & Inn
11048 Highway 1 | Jenner, CA 95450
Tel. +1 (0)707 865 24 84 | www.ilovesunsets.com
Wie in einem Hollywoodfilm liegt dieses Holzhaus über dem Pazifik. Gemütlich, gute Küche, viele Weine von der Sonoma Coast und bequeme Cabins zum Schlafen. Traumhaft!
Timber Cove Inn
21780 Highway 1 | Jenner, CA 95450
Tel. +1 (0)707 847 32 31 | www.timbercoveinn.com
An der Glasfront mit Blick auf den Pazifik zu dinieren, lohnt allein schon einen Besuch. Gute Küche, gediegene Zimmer mit Pazifik- oder Waldsicht. Vielfältige Weintourismus-Angebote.
Sea Ranch Lodge
60 Sea Walk Drive | Sea Ranch, CA 95497
Tel. +1 (0)800 732 72 62 | www.searanchlodge.com
Spektakulärer, modern gestalteter Holzbau direkt an der Küste. Grosszügige Zimmer, gutes Restaurant.
The Inn at the Tides
800 Highway 1 | Bodega Bay, CA 94923
Tel. +1 (0)707 875 26 69 | www.innatthetides.com
Das Haus wurde weltbekannt durch den Hitchcock-Thriller «Die Vögel». Heute ein populäres Haus für Weekend-Touristen aus San Francisco. Gemütliche Zimmer, gutes Essen.