Interview mit Heidi Schröck
«Ich war einsam und hatte null Ahnung vom Wein»
Interview: Ursula Heinzelmann
Es fällt einem schwer, sich die Spitzenwinzerin Heidi Schröck als schüchterne 18-jährige Praktikantin in Rheinhessen vorzustellen. Ähnlich schwierig gestaltet sich anfangs das Vorhaben, mit ihr über ihre (nicht nur) süssen Weine zu reden.
Wir sitzen im Café Einstein Unter den Linden, einem Stück Österreich mitten in Berlin, und die in gewisser Weise alterslos wirkende 57-jährige Heidi Schröck möchte über vietnamesische Esskultur, polnischen Weinbau und Cheddar reden. Auf ihre ruhige Art sprudelt sie förmlich vor Neugier. Doch ich will mit ihr über Süsswein diskutieren. Seit dem Tod von Alois Kracher, dem österreichischen Süssweinpionier der Moderne, ist diese Vorreiter-Rolle ihr zugefallen. Sie arbeitet ebenso und leidenschaftlich wie er daran, diese Weine aus der Dessert-Ecke zu befreien.
Schliesslich gelingt mir der Sprung ins burgenländische Rust über den Umweg Westkanada: «Okanagan! Da ist doch Bernd Schales mit seinem Weingut 8th Generation. Bei seiner Familie in Rheinhessen hab ich damals nach dem Abitur ein Jahr Praktikum gemacht, um in Geisenheim zu studieren. Das war hart. Ich kannte niemanden, hatte keine Ahnung von nichts, war einsam und hab wirklich sehr gelitten am Anfang. Ich hatte mich davor eigentlich gar nicht richtig für Wein interessiert, das kam erst so nach und nach. Doch zum Schluss habe ich mich total wohlgefühlt.» In Rheinhessen fing sie auch an, Wein zu probieren. «Damals gab es diese ganzen Neuzüchtungen, und zu 95 Prozent waren es süsse Weine. Für mich war das kein Problem, denn zuhause in Rust, wenn man sich um Weihnachten besuchte, kam immer der besonders gute Wein auf den Tisch, der süsse Ausbruch. Und dazu standen Erdnusslocken auf dem Tisch, so etwas Köstliches.»
Die Weine in Rust waren grundsätzlich süss?
Aber nein, das war damals ganz anders. Da hat man einen Weingarten immer komplett gelesen, frühestens Anfang Oktober, mitsamt der Botrytis. Es gärte in den grossen Holzfässern, solange es eben wollte. Im Allgemeinen gab es so ein oder zwei süsse, aber auch die trockenen Spätlesen waren ziemlich alkoholreich und hatten einen Botrytis-Touch. Der Papa hatte zum Essen immer eine unetikettierte Flasche auf dem Tisch stehen, das war eine solche trockene Spätlese.
Warum gelten Sie dann heute – zu Recht – als Süssweinspezialistin? Was hat sich verändert?
Vom Volumen her hat es sich gar nicht so sehr verändert im Betrieb, da beträgt der Anteil an Süssweinen nach wie vor etwa 10 Prozent, in einem guten Jahr 20. Aber umsatzmässig machen die süssen Weine jetzt 40 Prozent aus.
Wie wurden Ihre Süssweine zum Aushängeschild?
Als ich als Weinbäuerin noch am Suchen war, hat mir ein Kollege klargemacht, dass ich mich nur auf das Besondere hier in Rust konzentrieren muss, nämlich die Möglichkeit, einen der grossen Süssweine der Welt erzeugen zu können. Seitdem erzeuge ich ganz bewusst solche Weine.
1988 war Ihr erster Jahrgang in Eigenregie, seitdem wird grundsätzlich mit zwei Eimern gelesen, um Botrytis und gesunde Trauben zu trennen.
Bis auf zwei Ausnahmen gab es seitdem jedes Jahr mindestens einen Süsswein, selbst wenn es nur 100 Liter waren und die Kollegen gesagt haben, es sei schwachsinnig, es überhaupt zu versuchen. Die trockenen Jahre, ohne Botrytis, ergeben sogar oftmals ganz besonders klare Weine.
Nicht ganz einfach, Süsswein zu verkaufen, oder?
Seit der 1999er Ausbruch mit 98+ Parker-Punkten bewertet wurde, ist es einfacher geworden, auch wenn mir die Bedeutung erst gar nicht bewusst war.
Aber ist es nicht eher ein Sammler- als ein Trinkwein?
Genau darum geht es mir. Süsswein muss getrunken werden, und zwar nicht zum Dessert, und nicht als Luxus! Auf den meisten Weinkarten kommt er entweder gar nicht vor, wie hier im Einstein, oder er taucht ganz am Schluss auf, kurz vor dem Wodka. Für mich gehört er zu Salzigem, Scharfem, Pikantem – die Erdnusslocken waren schon gut. Es braucht keine Gänsestopfleber. Der Luis [Alois Kracher, Anm. d. Red.], der unsere Süssweine vom Neusiedlersee wieder auf die Weinkarten gebracht hat, hat immer gesagt, seine Lieblingsspeise seien Käsekrainer mit Château d’Yquem. Ich finde Chili-Käsekrainer und Sauerkraut zur Beerenauslese grossartig. Auf dem Weingut halte ich für die Zweifler grundsätzlich einen handfesten Beissbeweis bereit, ein Stück Käse oder scharfe Salami oder zumindest Chips mit Rosmarin oder schwarzem Pfeffer. Der Effekt ist erstaunlich. Seit einiger Zeit fülle ich die Beerenauslese auch in Magnums, und viele nehmen dann eine solche Flasche mit.
Die neuen, grafisch gestalteten Etiketten bilden Vorschläge für Essenskombinationen ab: Bei der Beerenauslese 2014 (aus Welschriesling, Weissburgunder und Furmint) sind es unter anderem Schinken, Ölsardinen, Ingwer, Parmesan und Chili, 2015 (aus Welschriesling und Weissburgunder) Hummer, Steak, Orange, Entenschenkel und Bergkäse. Aber in einem mehrgängigen Menü, mit Süsswein etwa zum zweiten Gang, schmeckt der nächste trockene Wein dann nicht sehr herb?
Nun, so ganz schlank sollte der nächste Gang nicht sein, aber ansonsten ist das kein Problem. Meine Süssweine sind nicht schwer und ölig, sondern bringen eine schöne Säure mit ins Spiel und liegen bei maximal 150 Gramm Restsüsse, mit 11,5 oder 12 Volumenprozent Alkohol. Ich koche jeden Abend, neulich gab es Kürbis-Lasagne und die 2015er Beerenauslese dazu, grossartig. Oder Szegediner Gulasch, wozu landläufig Bier getrunken wird: Die Süsse begleitet das so gut. Süsse ist so ein wichtiges Element in unserem Leben. Das ist nicht bloss Geschmacksrichtung, sondern ein wesentliches Bedürfnis unseres Körpers. Das sollte wirklich vom Feinsten sein. Zum Dessert ist das jedoch viel zu viel.
Ist Süsswein ein Frauenthema?
Aber nein, überhaupt nicht! Wer bei mir auf dem Weingut Süsswein kauft, lässt sich weder nach Geschlecht noch nach Altersgruppen einordnen, das ist wirklich toll. Und der Luis, der war so männlich, mit seinen Sprüchen wie «Süsswein macht sexy», dass überhaupt niemand in diese Richtung gedacht hat... Aber Frauen im Wein, das Thema ist mir trotzdem wichtig, weil ich anfangs so gar keine Rollenvorbilder gehabt habe. Was für tolle junge Winzerinnen es da heute gibt, gescheit, schön, gut.
Gibt es grundsätzliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen in der Weinszene?
Speziell beim Wein, das weiss ich nicht. Aber im Allgemeinen fällt mir auf, dass es Männern schwerfällt, sich am Erreichten zu freuen. Natürlich muss man wissen, wohin die Reise geht, aber es ist so wichtig, die kleinen Etappenziele richtig zu feiern und zu geniessen. Und dann bestellen wir noch einen Kaffee und reden endlich über das Reisen, Schreiben und andere Menschen.