Genf
Hauptstadt des Schweizer Weins
Text: Alexandre Truffer, Fotos: Michael Legentil
In der Genfer Spitzengastronomie haben regionale Spitzenweine einen Ehrenplatz auf den Weinkarten erobert. Für die internationalste Schweizer Stadt mit dem drittgrössten Weinbaugebiet ist dies Grund genug, den noch wenig umkämpften Titel «Hauptstadt des Schweizer Weins» für sich zu beanspruchen.
«Es ist absurd, in diesem Kanton Weinbau zu betreiben. Der Genfer Wein ist nichts weiter als ein vulgärer Krätzer.» Mit diesen Worten wollte der Sozialdemokrat und spätere Präsident des Staatsrats Léon Nicole das Genfer Kantonsparlament davon überzeugen, dass «es notwendig ist, die Weinberge des Kantons zu zerstören». Das war 1932. Auch wenn derart extreme Äusserungen seither selten geworden sind und die Weinberge bis heute bestehen, lässt sich der langjährige schlechte Ruf der Weine westlich des Genfersees kaum leugnen. «Als ich 1982 in die Schweiz kam, führten wir einige Genfer Weine auf der Karte, boten sie aber nicht an», erinnert sich Claude Legras, Sternekoch im «Floris». «Heute verkaufen wir fast zur Hälfte Weine aus der Region.» Und Legras ist nicht der Einzige, der die neue Qualität zu schätzen weiss. Weitere zehn Weinfachleute bestätigen den Aufstieg des Weinbaus in der Region. Chauvinismus oder Protektionismus kann man ihnen nicht nachsagen, denn acht von ihnen sind Franzosen, einer ist Inder.
Die Qualitätsrevolution des Genfer Weins begann vor 30 Jahren. 1988 erliessder Kanton als einer der ersten der Schweiz AOC-Vorschriften. Winzer, die das Qualitätssiegel erhalten wollen, müssen noch heute strenge Produktionsrichtlinien erfüllen. So ist etwa die Pflanzdichte vorgeschrieben, der Ertrag pro Quadratmeter oder der Zuckergehalt nach Sorten. Zudem müssen genau definierte Produktionsabläufe eingehalten werden. Dank dem AOC-Gütesiegel gelang es den Weinproduzenten in den 90er Jahren nach und nach, ihre Kunden zurückzugewinnen: regionale Bistros und Restaurants – und vor allem die Genfer Bevölkerung. Die Deutschschweiz spielt dabei nur eine sekundäre Rolle. Ein Waadtländer Winzer, den wir kürzlich bei einer Vorstellung der Mémoire des Vins Suisses getroffen haben und der namentlich nicht genannt werden will, erinnert sich: «Vor Einführung der AOC sind mit Ausnahme der Dézaley alle waadtländischen Weine aus den Genfer Karten geflogen. Und heute müssen die Walliser für die lokalen Weine den Platz räumen.»
«Als ich 1982 in die Schweiz kam, hatten wir Genfer Weine auf der Karte, boten sie aber nicht an. Heute machen die Weine des Kantons fast die Hälfte unserer Verkäufe aus.»
Claude Legras Chefkoch «Le Floris»
Gegenwärtig arbeitet der Grosse Rat von Genf ein neues Gesetz aus, das unter anderem die Restaurationsbetriebe dazu verpflichten will, zwingend auch Genfer Crus in ihr Angebot aufzunehmen. Gemäss «Tribune de Genève» führt heute rund ein Drittel der Einrichtungen, vorwiegend die anspruchsloseren «Mikrowellen-Restaurants», keine Genfer Weine auf der Karte. Opposition hat sich bereits angekündigt. So erklärte Laurent Terlinchamp, Präsident des Verbands der Genfer Café-, Restaurant- und Hotelbetreiber, er sei bereit, bis zum Bundesgericht zu gehen, um diese Verpflichtung im neuen Gesetz zu bekämpfen. Die Kontroversen um ausländische und Genfer Weine sind keineswegs neu. Bereits 1704 hatte die Regierung eine äusserst umstrittene protektionistische Steuer eingeführt. Unter dem Druck jener Genfer Bürger, die Weinberge in den angrenzenden Ländern besassen, wurde diese unbeliebte Regelung jedoch schnell wieder abgeschafft.
Das erste Weinbaugebiet der Schweiz
Auch wenn die Geschichte der Genfer Weinberge noch relativ unbekannt ist, gibt es Hinweise darauf, dass der Westen des Genfersees eine Vorreiterrolle im Weinbau innehatte. Ein Dossier der Universitätszeitschrift «Allez Savoir» vom Oktober 2003 berichtet, dass die Gallier und die Helvetier im Gegensatz zu den Römern und den Griechen Weinbau und Weinherstellung keineswegs perfekt beherrschten. Die auf dem Plateau angesiedelten Helvetier blieben dann auch bis zu ihrer Zwangseingliederung ins Römische Reich Bier und Met (Honigwein) treu. Zu dieser Zeit war Genf weder helvetisch noch römisch, sondern Hauptstadt eines keltischen Stammes, der Allobrogen, die 121 vor Christus den Römern unterlagen. Während die Stadt zu einem Grenzposten des römischen Galliens wurde, fand die Ursorte Allobrogica, die damals von den Ufern der Rhone bis zum Genfersee angebaut wurde, ihren Weg ins Latium. Dort wurden die Trauben zur Herstellung des «Picatum» verwendet, eines Weins mit sehr harzigen Noten. Der Ampelograph José Vouillamoz vertritt die These, dass es sich bei der Ursorte Allobrogica um eine Art «Proto-Mondeuse» handelte, die sich im Verlauf der Jahrhunderte zur Mondeuse Noire und zum Syrah entwickelt hat.
Heute ist die Mondeuse Noire in den Genfer Weinbergen kaum mehr anzutreffen, obwohl diese robuste und etwas rustikale Rebsorte lange zu den meistangebauten Sorten der Region gehörte. Die Genfer Historiker berichten sogar, dass Anfang des 19. Jahrhunderts «die geläufigste Rebsorte der Region ein Gros Rouge mit dem Namen Savoyan war, eine lokale Bezeichnung für die Mondeuse». Historische Dokumente zeigen, dass die Chasselas-Traube aus dem Kanton Waadt eingeführt und neben Altesse, Pinot Noir, Muscat und Gouais angebaut wurde. Aber keine Spur vom Gamay, der sich inzwischen als ein relativ «neuer» Klassiker in den Genfer Rebbergen etabliert hat. Die Reblausplage im Jahr 1887, die Entwicklung des Genossenschaftssystems und die Schaffung der ersten AOC bewirkten in regelmässigen Abständen grosse Veränderungen. Heute scheinen die komplexen und zeitgemässen Genfer Weine diese Umbrüche hinter sich zu haben und erobern die Gaumen der Genfer – und vielleicht auch bald die der übrigen Schweizerinnen und Schweizer.