Exklusiv-Interview mit Jancis Robinson
«Das Wichtigste passiert heute einfach online»
Interview: Ursula Heinzelmann, Fotos: Jon Wyand
Soziale Medien verändern den Weinjournalismus: Kaum ist ein Wein probiert, wird seine Bewertung schon aus dem Verkostungsraum getwittert. Hat der Konsument etwas davon, wenn der Schnellste gewinnt? Wir fragten die berühmteste «Master of Wine», die ausserdem Weinjournalistin, Betreiberin einer höchst erfolgreichen Website und bekennender Twitter-Fan ist.
Jancis Robinson, Sie sind sehr aktiv auf Twitter, haben dort fast 200 000 Follower. Am 13. November 2013 twitterten Sie: «Ich hätte nie gedacht, dass eine schnelle Tasse Kaffee in Washington DC so weitreichende Folgen haben würde» – und verlinkten Ihren Eintrag zu einem Artikel über Weinmarketing auf Wakawakawinereviews.com…
Lassen Sie mich Ihnen meine Twitter-Geschichte erzählen. Wie so viele habe ich mich nach anfänglichem Zögern entschlossen, damit anzufangen, um mehr Aufmerksamkeit auf meine Website zu lenken. Das war im Mai 2009. Zu meinem Erstaunen entdeckte ich, dass @JancisRobinson bereits registriert worden war. Aber ich bin mit dem Schauspieler Stephen Fry befreundet und kenne seinen Technikfreak, der wiederum gute Beziehungen zu Twitter hat. Ich bat ihn also, sich darum zu kümmern. Eine Weile passierte gar nichts. Doch erwarteten mich an einem Sonntagmorgen sage und schreibe tausend E-Mails, alle von Leuten, die mir ab sofort auf @JancisRobinson folgten. Das Problem hatte sich lösen lassen, und Stephen hatte an seine mehrere Millionen Follower getwittert: «Follow Jancis!» Das war ein grossartiger Start. Und ja, mir macht Twitter Spass. Als ich noch beim Fernsehen aktiv war, gefiel mir immer das Skripteschreiben für die Kommentare am besten. Wenige Sekunden für das Wichtige, mit den richtigen Stichworten im richtigen Moment, wie in einem Puzzle.
Klingt passend für jemanden wie Sie, die in Oxford Mathematik studiert hat…
Aber es gibt auch Grenzen. Die Entscheidung, was man preisgibt und was nicht, das ist eine Kunst, besonders was die Familie betrifft.
Der «Guardian» bot eine Masterclass zum Umgang mit Twitter an – für über 100 Pfund. Übertrieben?
Keineswegs. Die sozialen Medien verändern die Weinkommunikation. Mein Expertenwissen erstreckt sich zwar nur auf Twitter und Websites, ausserdem habe ich einen kleinen YouTube-Channel. Aber ich denke, es geht vor allem um Geschwindigkeit, das ist die grosse Veränderung. Viele twittern ihre Eindrücke von den Weinen schon vor dem Ende einer Verkostung. Die Gefahr liegt darin, dass manche meinen, solche Tweets seien genug Information, und sich nicht weiter um ausgewogene Meinungen kümmern. Da bemüht sich jemand wie ich, Berichte über Hunderte,manchmal Tausende von Weinen einesGebiets zusammenzustellen, sie in eine webtaugliche Form und die richtige Reihenfolge zu bringen und vor allem Schlüsse aus dem Ganzen zu ziehen – und dann sagt jemand: «Ach, ein paar Tweets von Mitverkostern, das reicht auch.» Viele Profi-Weinschreiber haben Angst, nicht mehr als höchste Instanz respektiert zu werden, und äussern sich negativ über Nichtprofis. Ich hoffe einfach, dass sich die Spreu vom Weizen trennt und der Unterschied deutlich wird zwischen einem ernstzunehmenden Kommentar, der auf viel Erfahrung beruht, und dem ersten Eindruck von jemandem, der gerade die fünfte Weinverkostung seines Lebens erlebt.
Wer zählt heute als Profi?
Jemand, der dafür bezahlt wird und/oder das Weinschreiben zu seinem Hauptberuf macht. Ich kenne Leute, die über ein Privateinkommen verfügen und ihren Arbeitgebern gesagt haben, sie würden auf jeglichen Lohn verzichten, solange sie nur ihren Job behalten. Was zeigt, wie prekär die Situation im Verlagswesen ist.
Ich finde es zutreffend, wie Wakawaka viele in unserer Branche als stecken geblieben beschreibt: Eine kleine Gruppe einflussreicher Weinkritiker verkündet von oben herab ihre Meinung.
Wer mich zu dieser Gruppe angesehenerWeinschreiber alten Stils zählt, würde sichererwarten, dass ich die Veränderungen als bedrohlich empfinde, aber ich glaube nicht, dass das die richtige Einstellung ist. Ich denke, dass man sich mit der Welt weiter entwickeln und den Kontakt zu den folgenden Generationen aktiv pflegen muss, weit über Social Media hinaus; sich dieser Entwicklung zu widersetzen, das ist genau das Falsche.
Sie sprechen häufig über die Demokratisierung des Weins, weg von der kleinen Gruppe von Experten an der Spitze einer steilen Pyramide. Bewegen wir uns tatsächlich weg vom Elitären?
Auf alle Fälle. Und das ist genau das, was ich immer wollte: nicht meine Meinung zu bestimmten Weinen von oben herab zu verkünden, sondern den Lesern zu helfen, selbstbewusster zu entscheiden. Nordamerika hat da besonders grosse Fortschritte gemacht. Nachdem sie eine Zeit lang Robert Parker und den «Wine Spectator» quasi vergöttert haben, dann das Ganze in die entgegengesetzte Richtung losbrach und manche Blogger ziemlich brutal mit diesen Koryphäen umgegangen sind, scheint jetzt alles viel entspannter. Heute braucht man nicht mehr für oder gegen Parker zu sein, die Urteile dieser beiden Publikationen werden vielmehr als Ausgangspunkt für die eigene Meinung herangezogen. Auch das ist ein Zeichen dafür, dass die Pyramide viel flacher ist als früher.
«Viele Profi -Weinschreiber haben Angst, nicht mehr als höchste Instanz respektiert zu werden. Ich hoffe einfach, dass sich die Spreu vom Weizen trennen wird.»
Noch mal zurück zum Finanziellen: Ich bin der Überzeugung, dass das professionelle Schreiben über Wein entsprechend entlohnt werden muss. Vielleicht hilft ein Blick in die Musikbranche, die sich ja mit ähnlichen Problemen konfrontiert sieht. Die durch ihre sehr erfolgreiche Kickstarter-Kampagne bekannt gewordene Rocksängerin Amanda Palmer beschloss ihren letzten TED-Talk mit der Frage, ob wir nicht auf einem Irrweg seien. Statt uns zu fragen, wie wir die Leute dazu bringen, für Musik zu bezahlen, sollten wir lieber darüber nachdenken, auf welche Weise wir ihnen die Möglichkeit bieten, uns zu bezahlen. Sie plädiert für Methoden, die es ohne grossen Aufwand gestatten, Künstlern flexible Summen zukommen zu lassen. Es geht nicht um wohltätige Spenden, sondern um eine ganz klare Ansage: Ich brauche Geld, um an diesen Projekten zu arbeiten, und so funktioniert das Bezahlen. Sie haben eine sogenannte Paywall auf Ihrer Website errichtet, das heisst, bestimmte Bereiche sind nur gegen einen Mitgliedsbeitrag zugänglich. Wie sind Ihre Erfahrungen damit?
Die Zahl der Menschen, die zu zahlen bereit sind, steigt ständig. Ich kann hier nicht sagen, wie viele Abonnenten wir im Moment haben, aber akkumuliert über die Jahre sind es beinahe 50 000. Wir bieten zugegebenermassen fortwährend mehr fürs gleiche Geld, weil die Konkurrenz immer stärker wird. Wir verlangen 69 Pfund für ein Jahr oder 6,99 für einen Monat und haben diesen Betrag seit 2005 nicht erhöht. Während dieser Zeit ist die Website und damit der Gegenwert ständig besser geworden. In Kürze wird es ein ganz neues Design geben, was eine grössere Investition darstellt, und das ist sicher der richtige Moment, um den Beitrag zu erhöhen.
Amanda Palmer meint, dass man jemanden, dem man auf Twitter folgt, bald persönlich zu kennen meint...
...abhängig davon, wie und was jemand schreibt! Meine «Amanda Palmer» ist übrigens die Sängerin Pink, die auch eine grosse Weinliebhaberin ist.
...und wenn man jemanden persönlich zu kennen meint, unterstützt man sie oder ihn auch eher finanziell.
Ich nehme an, das trifft zu. Vielleicht sollte ich öfter twittern: «O Gott, ich hab heute so hart gearbeitet…» Doch noch etwas anderes zum Thema Twitter: Ich war neulich in Nord-London in einer Schule, um vor einer Abschlussklasse über Social Media und Karriere zu sprechen. Ich habe da betont, in welch beneidenswerter Position diese jungen Leute sind, weil sie die neuen Medien besser verstehen als ihre Chefs. Daraus sollten sie jetzt Kapital schlagen. Ich habe sie auch gefragt, welche Art von Social Media sie tatsächlich nutzen: Kein einziger nannte Facebook, aber alle sind auf Twitter unterwegs.
Wein gilt bei jungen Leuten zunehmend als cool.
Meine Kinder, heute 31, 29 und 22 Jahre alt, hatten für meinen Beruf früher nur verächtliche Bemerkungen übrig. «Warum schreibst du diese ganzen Bücher, die kauft sowieso niemand», sagten sie. Doch inzwischen ist das ganz anders, sie möchten, dass ich Vorträge für ihre Freunde halte und sogar ein Buch mit ihnen schreibe!
Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen diesem Trend, dem zunehmend horizontalen Informationsfluss durch Social Media und den immer zahlreicheren Start-ups von Quereinsteigern unter den Weinproduzenten?
Wein ist zweifellos sehr angesagt, und das spielt eine grosse Rolle. Ich glaube, es ist eher ein gesellschaftliches Phänomen, nicht nur die Auswirkung der neuen Medien. Aber es stimmt, dass sich aus dem früheren Einbahnsystem immer mehr ein Austausch entwickelt und viele deshalb genügend Selbstvertrauen haben, um nicht nur auf der Konsumenten-, sondern auch auf der Produzentenseite mitzuspielen. Und mit dem Online-Verkauf, ähnlich wie beim Eigenverlag, ist man unabhängig von allen Zwischenstationen.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass dieses Interview in einer gedruckten Zeitschrift erscheinen wird... Wie sehen Sie die Zukunft der Printmedien?
Ich fürchte, dass die gedruckten Zeitschriften wohl als Erste verschwinden werden. Bücher werden immer ein paar Anhänger finden, aber dabei ist das Eigenverlagsmodell natürlich sehr verführerisch. Mit einem Projekt wie dem «Weinatlas» braucht man ein Riesenteam und somit einen Verlag, aber bei so etwas wie «Wine Grapes» sieht es schon ganz anders aus. Das gibt es inzwischen auch als E-Book, und ich könnte mir diese geballte Masse an Information sehr gut auf einer Website statt als physisches Buch vorstellen.
Ändert sich also nur das Medium?
Ja. Obgleich ich Buchhändler bewundere, die wenigen, die überlebt haben. Es gibt auffallende Parallelen zwischen Wein- und Buchhändlern. Sie bieten Orientierung in der Masse an Titeln und Etiketten. Man geht zu dem Menschen hin und sagt: «Letztes Mal hat mir jenes gefallen, was empfehlen Sie mir heute?»
Was wäre Ihr Ratschlag an sich selbst, wenn Sie heute ganz am Anfang Ihrer beruflichen Karriere stünden?
Ich würde ganz sicher twittern und bloggen. Der Blog sollte gut geschrieben sein, auch ein bisschen gewagt, anfangs eher aufmüpfig, dann immer souveräner. Es ist sicher auch eine gute Idee, Experte auf einem bestimmten Gebiet zu sein, um die Leiter ein bisschen schneller hinaufzuklettern. Ich würde sicher nicht für eine Zeitung arbeiten, das macht heute wirklich keinen Sinn mehr, eher würde ich ein Buch im Eigenverlag herausgeben. Aber ich glaube, das Wichtigste passiert online. Ich würde Tausenden von Leuten folgen und mit ihnen kommunizieren, witzige Kommentare machen und angesagte neue Weine empfehlen...
Ihre Botschaft für Weinproduzenten in Sachen moderner Kommunikation?
Da gibt es leider nur wenig, was mich inspiriert. Das blosse Minimum wäre schon mal was: die eigene Website auf dem aktuellen Stand halten! Darüber hinaus wäre natürlich mehr Insider-Information wunderbar, statt des offiziellen PR-Kanons und des rituellen Reiheschliessens, etwa was die Bewertung von Jahrgängen betrifft. Mehr wahre Geschichten darüber, wie die Weine entstehen, inklusive Mehltau und solcher Probleme. Ich denke, wir hätten alle viel Respekt, wenn es ein bisschen wahrheitsgetreuer und offener zuginge.
Und wie lautet Ihr Social-Media-Ratschlag an Weintrinker?
Das hängt davon ab, was einem wichtig ist. Wenn man Empfehlungen möchte, dann sollte man Leuten folgen, die ihre Neuentdeckungen über Twitter verbreiten. Wenn einem eher an Information gelegen ist, sucht man sich entsprechende Quellen. Interessant finde ich Menschen, die eigentlich auf einem ganz anderen Gebiet Experten sind, aber sich auch für Wein interessieren, da kann ein Austausch über Twitter sehr unterhaltsam sein. Das Thema wird so viel offener und weiter. Und wäre ich kein Weinprofi, dann fände ich neue Apps wie «Delectable» oder«ViVino» sehr attraktiv.
Vita
Die Engländerin Jancis Robinson, 1950 geboren, gilt neben dem Amerikaner Robert Parker als die bekannteste und angesehenste Weinjournalistin weltweit. Ihre Autorität beruht auf stringenter Intelligenz, eiserner Arbeitsdisziplin und kaum zu übertreffender Erfahrung. Der darauf basierende Stapel an Publikationen als Autorin und Herausgeberin ist beeindruckend, darunter der «Weinatlas», das «Oxford Weinlexikon» und als neuestes Werk «Wine Grapes», das auf über 1200 Seiten die Welt der Rebsorten in ihrer ganzen Komplexität darstellt. Zu erwähnen, dass Robinson bereits 1984 in die damals noch sehr eng geschlossenen Reihen der ehrwürdigen Masters of Wine aufgenommen wurde, sich Ehrendoktor nennen und den Order of the British Empire ans Revers heften darf, erscheint beinahe überflüssig. Viel auffallender ist, dass sie neue Technologien in ihrer Karriere stets ohne Vorbehalt eingesetzt und ihre Website (www.jancisrobinson.com) früh und zielstrebig aufgebaut hat. Mit zwölf Mitarbeitern ist dies der Kernpunkt ihrer beruflichen Aktivität, auf die auch ihre wöchentliche Kolumne in der «Financial Times» verweist.