Aufbruch im Jura

Natural Nerds

Text: Thomas Vaterlaus

Versteckt in den Hügeln des Jura, also gut abgeschirmt von den Spähern der internationalen Weinszene, gelingt immer mehr Winzerfreigeistern das Kunststück, Crus ohne jegliche Zusätze zu keltern, die trotzdem – oder gerade deswegen – mit grösstmöglicher Klarheit und Eleganz faszinieren. So zeigen die besten Jura-Chardonnays heute die Filigranität von grossen Chablis. Mit solchen Gewächsen elektrisiert die konspirative Jura-Winzerfraktion die internationale Leichtweinszene. Bleibt zu hoffen, dass sie ihren zunehmenden Erfolg unbeschadet bewältigen kann.

 

Jede Zeit hat ihre Weine. In den Jahren vor und nach dem Millennium bestimmte die Volkspartei der Mächtigkeitstrinker weltweit den Lauf der Weindinge. Dann hatte ein kleines Restaurant in Dänemark den Mut, seine Weinkarte ausschliesslich mit Gewächsen zu bestücken, die in allen Belangen für das totale Gegenteil jener Werte standen, die vor allem die amerikanische Kritik so lange so erfolgreich gepredigt hatte. Das «Noma» in Kopenhagen versammelte auf seiner Karte naturbelassene europäische Leichtweine mit feiner Frucht und beschwingter Mineralität. Also Gewächse, die ein subtiles Menü nicht einfach «wegpowern», sondern erst richtig in Szene setzen.

Bis heute gilt die «Noma»-Weinkarte als Manifest einer neuen Weinkultur. Und der Jura spielt in diesem Manifest mit 136 Positionen die Hauptrolle. Dabei ist der Vin Jaune, der traditionell berühmteste Wein aus dem Jura, der aber in seiner oxidativ konzentrierten Form kein Leichtwein ist, kaum in dieser Auswahl vertreten. Im Fokus stehen Tafelweine im besten Sinne des Wortes, vorwiegend aus der alteingesessenen roten Sorte Trousseau und Chardonnay gekeltert. Weil sich Sommeliers, Journalisten und Weinhändler aus aller Welt heute in ähnlicher Weise an der «Noma»-Karte orientieren wie früher ihre Berufskollegen an Parker und «Wine Spectator», finden sich rund zwei Dutzend dieser Jura-Winzer plötzlich im Scheinwerferlicht der internationalen Weinszene wieder. Schwierig für Menschen, die sich als Bauern definieren und keine Marketingassistenten beschäftigen wie die Châteaux in Bordeaux.

Keine Zeit für Small Talk

«Wir sind bei der Ernte und können weder Telefonanrufe noch E-Mails beantworten. Bitte setzen sie sich in sechs Wochen wieder mit uns in Verbindung…» Wer sich im September mit Persönlichkeiten wie Emmanuel Houillon vom Maison Pierre Overnoy, Jean-François Ganevat oder Julien Labet in Verbindung setzen will, muss mit solchen Botschaften rechnen. Und das ist gut so. Denn die Winzer kämpfen hierfür ihr bäuerliches Leben und gegen die Gefahr, von ihrem Erfolg allzusehr vereinnahmt zu werden. Es ist eine ausgesprochen bodenständige, aber illustre Truppe, die hier am Werk ist. Alteingesessene Winzer wie Pierre Overnoy, der schon 1984 damit begann, ungeschwefelte Weine abzufüllen und heute sowas wie der «Godfather» der internationalen Naturweinbewegung ist, gehören ebenso dazu wie der japanische Zuzügler Kenjiro Kagami (Domaine des Miroirs), der in Cornas und im Elsass gearbeitet hat, bevor er in Grusse rund drei Hektar Reben kaufen konnte. Der Jura gehört zu den wenigen Regionen, wo Einsteiger überhaupt eine Chance haben. Ein Hektar Reben in einer guten Lage ist hier für 35 000 Euro

Ein Aroma namens Ehrlichkeit

Der Weg nach Arbois lohnt sich auch ohne Audienz bei den einschlägigen Winzern. Der Ort ist der Inbegriff eines lebendigen französischen Landstädtchens. Allein die Torten aus der Confiserie Hirsinger mit so poetischen Namen wie «La Feuille d’Automne» machen dem Geniesser auf wunderbar duftende Weise klar, dass es hier sehr gute Gründe gibt, um am nächsten Morgen wieder aufzustehen. In der Metzgerei gegenüber gibt es nicht nur die unvermeidliche «Saucisse de Morteau Vigne ronne», sondern auch eine grob gehackte, deftige «Croûte Forestière», die hervorragend zu den naturbelassenen Weinen mit ihrer herben Frische mundet.

Die wichtigste Adresse im Städtchen ist aber Les Jardins de St Vincent. Weinhändler Stéphane Planche hat vieles von dem, was die neue Jura-Tafelweinszene so einzigartig macht. In den Restaurants des Städtchens – das Spektrum reicht vom urigen «Bistrot des Claquets» über die versierten «Les Arcades» und insbesondere das «la balance mets et vins» bis zum Sternelokal von Jean-Paul Jeunet – lässt sich das Studium der neuen Jura-Weine bis um Mitternacht fortsetzen. Dabei sind Überraschungen programmiert, denn die Zahl der engagierten Winzer ist gross. Eine besondere Entdeckung war der Chardonnay À la Percenette 2012 von der Domaine Pignier, die vom Geschwister-Trio Jean-Etienne, Antoine und Marie-Florence Pignier betrieben wird. Ein Chardonnay mit mehr Klarheit und Mineralik ist kaum vorstellbar.

Führt der ländliche Charme des Jura mit dem Wissen, dass seine Weine nicht nur kontrolliert biologisch angebaut werden, sondern auch mit Naturhefen vergoren und ohne jegliche Zusätze (wie Schwefel) und starke Eingriffe (wie Filtration) in die Flaschen kommen, dazu, dass sie einem womöglich besser schmecken? Bei einigen, allerdings nur sehr wenigen Weinen kann man sich tatsächlich fragen, ob sie wirklich aus Trauben und nicht etwa aus Äpfeln gekeltert worden sind. In anderen Gewächsen finden wir eine ungeschminkte bäuerliche Herbe, bei welcher der individuelle Geschmack entscheiden muss, ob man sie positiv oder negativ in Erinnerung behält.

Doch viele der Chardonnays und Trousseaus, die heute hier in die Flasche kommen, sind wegen ihrer strikt naturbelassenen Produktion schlicht und einfach grossartig, und zwar unabhängig vom Goodwill. Zwei Produzenten fallen dabei besonders auf: Jean-François Ganevat, der mit seinen glasklar herausgearbeiteten Weinen die qualitative Referenz der neuen Jura-Weinszene ist, sowie Bénédicte und Stéphane Tissot, die mit den rund 30 Hektar Reben, die sie heute bearbeiten, echte Big Player im Jura sind und es trotzdem schaffen, Crus mit maximalem individuellem Ausdruck in die Flaschen zu bringen!

Jura-Weine – natürlich!

Das Weinanbaugebiet Jura erstreckt sich über 80 Kilometer entlang der Jura-Ausläufer von Salins-les-Bains im Norden bis Saint-Amour im Süden. Betrug die Rebfläche vor dem Reblaus-Einfall noch 20000 Hektar, so sind hier heute noch rund 2000 Hektar mit Reben bestockt. Geografisch unterteilt sich das Gebiet in vier AOCs. Die zwei Appellationen Arbois und Côtes du Jura sind die wichtigsten. Hier wird die ganze Pallette an Jura-Weinen angebaut, von subtilen Weissweinen aus Chardonnay und Savagnin bis zu vibrierenden roten Crus aus Poulsard, Trousseau und Pinot Noir. L’Etoile ist eine AOC, in der ausschliesslich Weisswein, Vin Jaune und den süssen Vin de Paille eingeschlossen, produziert wird. Als exklusivste der vier Appellationen gilt die AOCC hâteau-Chalon, die ausnahmslos dem aus der Sorte Savagnin gekelterten Vin Jaune vorbehalten ist. Die eindrücklichsten Crus der Vin-Naturel-Produzenten, die in den letzten Jahren kontinuierlich an Bedeutung gewonnen haben, werden aus der weissen Chardonnay-Traube sowie der alteingesessenen roten Sorte Trousseau gekeltert, letztere bringt temperamentvoll rotbeerige und pfeffrige Gewächse hervor. Eine fast schon unglaubliche Erfolgsgeschichte schreibt auch der Crémant de Jura. Der Schaumwein überzeugt mit seiner geradlinigen Frische. Dagegen stagniert der Absatz des berühmtesten Jura-Weins, des Vin Jaune, der auch Jura-Gold genannt wird.

Vin Naturel aus dem Jura - Crus mit natürlicher Grösse

Domaine Les Bottes Rouge, Abergement-le-Petit – Chardonnay 2013

16 Punkte | 2015 bis 2018

Jean-Baptiste Menigoz betreut nur drei Hektar Reben, was ihm eine grösstmögliche Kontrolle über An- und Ausbau erlaubt. Zwar heisst sein Weingut Les Bottes Rouge (Die roten Stiefel), eine Entdeckung ist aber sein Chardonnay mit nur gerade 11,5 Volumenprozent Alkohol. Zarte Aromen von Kräutern und frischen Äpfeln. Im Gaumen dicht und ungemein subtil.

 

Domaine des Cavarodes, Cramans – Trousseau de Messagelin 2014

16.5 Punkte | 2015 bis 2017

Mehr Ehrlichkeit im Glas ist fast nicht vorstellbar. Der Wein braucht etwas Luft, dann entfalten sich ungemein zart wirkende Aromen von roten Beeren, dazu eine Spur Pfeffer und ein Anflug von Wiesenkräutern. Im Gaumen temperamentvoll, getragen von einer subtilen Frucht. Ein Hauch von Kohlensäure unterstützt die Bekömmlichkeit dieses Tafelweins in perfekter Manier.

 

Maison Houillon-Overnoy, Pupillin – Arbois Pupillin 2011

17.5 Punkte | 2015 bis 2022

Pierre Overnoy ist der Vater des Vin-Naturel-Booms im Jura. Emmanuel Houillon setzt sein Werk in perfekter Weise fort. Diese Cuvée aus Chardonnay und Savagnin tanzt souverän auf dem dünnen Seil zwischen Filigranität und Fülle. Seine Klasse zeigt er erst nach einigen Stunden in der Karaffe. Dann zaubert die Luft subtile Honignoten, Minze und tausend andere Dinge ins Glas.

 

Bénédict & Stéphane Tissot, Montigny-les-Arsures – Chardonnay Les Graviers 2012

16.5 Punkte | 2015 bis 2020

Stéphane Tissot ist ein Tausendsassa. Seit kurzem baut er einen Trousseau in Amphoren aus Georgien aus. Einer seiner eindrücklichsten Weine ist aber dieser Chardonnay. Er zeigt in der Nase eine Aromatik mit getrockneten Kräutern und einem Anflug von frischen Äpfeln, aber auch Agrumen und würzige Komponenten. Im Gaumen strahlend frisch, aber fest strukturiert und komplex.

 

Jean-François Ganevat, Rotalier – Chardonnay Grusseen Billat 2012

18 Punkte | 2015 bis 2025

Er kann es einfach nicht verbergen. Wer diesen Wein verkostet und weiss, dass Jean-François Ganevat jahrelang in Chassagne-Montrachet gearbeitet hat, wird sofort eine Relation herstellen. Es ist schlicht und einfach grossartig, dass man so einen grossen Chardonnay, ohne jegliche Zusätze, speziell ohne Schwefel, in die Flasche bringen kann.

 

Domaine de la Tournelle, Arbois – Chardonnay Cul du Brey 2011

17.5 Punkte | 2015 bis 2019

Und noch ein Chardonnay, der beweist, dass die Jura-Winzer mit dieser Sorte heute in der ersten Liga spielen. 24 Monate auf der Feinhefe ausgebaut, fasziniert dieser auf Jura-Kalk gereifte Cru mit seiner subtil vielschichtigen Aromatik mit Blüten, Kräutern, einer Spur Haselnuss und edelwürzigen Komponenten. Im Gaumen glasklar und – weil es sich reimt – wunderbar. 

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