AOC in Frankreich
Macht Ursprungsschutz noch Sinn?
Text und Fotos: Rolf Bichsel
Spötter werfen dem französischen Ursprungsschutz vor, er sehe dem korsischen Wahlsystem ähnlich, wie es René Goscinny in «Asterix auf Korsika» beschreibt: Die Insulaner sammeln die Stimmzettel in einer Urne, werfen diese ins Meer, und der Stärkere gewinnt.
Ja, Regeln sind dazu da, infrage gestellt zu werden. Auch AOC-/AOP-, IGP-Regeln. Ohne Regeln wäre das Leben langweilig. Nichts da, was man übertreten kann. Das ist schon mal eine erste Antwort auf die Titelfrage.
Warum aber steht heute Ursprungsschutz in einem zweifelhaften Licht? Was werfen ihm Kritiker vor? Er sei starr und unbeweglich und damit verstaubt in einer globalisierten Welt. Er nütze in erster Linie den Konkurrenten, die sich nicht an so starre Vorgaben halten müssten, gemeint sind damit natürlich meist die Winzer der Neuen Welt. Er verhindere, dass sich Wein verändere, geänderten Konsumgewohnheiten, fortschreitendem Publikumsgeschmack oder neuen klimatischen Gegebenheiten Rechnung trage. Er werde von Brüssel, Paris oder dem Mond aus diktiert – von Technokraten, die nichts von Weinbau verstünden. Er sei unübersichtlich und kompliziere nur das Verständnis des Konsumenten, der sich leichter zu merkenden Marken oder Sortenweinen zuwende. Und er trage viel zu wenig der eigentlichen Weinqualität Rechnung.
Wen schützt die AOC (Appellation d’Origine Contrôlée), die heute gesamteuropäisch organisiert ist und neuerdings AOP (Appellation d’Origine Protégée) heisst? Wen schützt heute die IGP (Indication Géographique Protégée, früher Landweine mit Herkunftsangabe)? Zuerst den Ursprung eines Produkts, zweitens den Produzenten, und zwar vor jenen, die Missbrauch betreiben könnten. Und erst in dritter Linie den Konsumenten, der so eine Garantie erhält, dass ein Wein tatsächlich aus der Region und Gemeinde stammt, die auf dem Etikett verzeichnet sind. Nein, die AOP und ihre Derivate, IGP, Vin de France, sind an der Basis keine Qualitätssiegel, sondern stehen für ihre Herkunft. Zu Qualitätssiegeln werden solche Weine allenfalls auf Umwegen. Ein Kapitel Geschichte bringt Klärung:
Die ersten Anstrengungen zum Schutz der Qualität von alkoholischen Getränken stammen aus dem späten Mittelalter. Interessanterweise waren es nicht die Franken, die als Erste Erlasse zum Keltern von Wein aufstellten, sondern die Burgunder und die Deutschen. Das Edikt von Herzog Philipp dem Kühnen von 1395, das den Qualitätsanbau fördern wollte, wurde rund hundert Jahre vor dem ersten eigentlichen Weingesetz veröffentlicht, das wir dem römisch-deutschen König und späteren Kaiser Maximilian I. von Habsburg verdanken. 1498, beim Reichstag von Freiburg, erliess er die «Satzung unnd ordnung über weyne», die bereits erstaunlich detaillierte Produktionsvorgaben enthält. Es dürfen keine «schädlichen oder bösen» Zusätze verwendet werden; Fässer müssen immer randvoll bleiben und geschwefelt werden. Nur wenige Jahre später zog Herzog Wilhelm von Bayern nach und erliess das deutsche Reinheitsgebot für Bier.
Gepanscht mit einem «toten Hund»
Die Franken oder Franzosen panschten unterdessen fröhlich weiter, streckten ihre Weine mit allen möglichen Zutaten, wilden Beeren, Holzscheiten und auch mal einem «toten Hund». Die eigentliche Weinqualität schien zweitrangig. Aber nicht, woher ein Wein stammte. Seit dem 12. Jahrhundert entwickelte sich nach und nach ein Bewusstsein für das, was heute Terroir-Ausdruck genannt wird. Philipp der Schöne etwa liess Wein aus Montpellier, Gaillac oder dem Allier an seinen Königshof kommen, obschon er selber Weingärten um Paris besass. Aus der Tatsache, dass ein «Vin de Beaune» anders schmeckte als ein «Vin d’Aÿ» und beide besser als der Rebensaft, der im Pariser Klostergarten wuchs, machten die gewieften Franken rasch eine Tugend. Wein war ein wichtiges Handelsgut und gewährte dem Adel Einkommen. Fürsten starteten regelrechte Werbekampagnen, um «ihren» Wein als den besten zu rühmen. Es gab auch Gegenkampagnen wie die der Pariser Bürger im 16. Jahrhundert gegen den «Vin d’ Orléans», dessen vielgerühmte Güte ihnen ein Dorn im Auge war.
Bald ergriffen die Weinproduzenten wirksame protektionistische Massnahmen gegen die lästige Konkurrenz. Die französischen Könige hatten spätestens seit 1250 das Privileg, ihre Weine vor den Pariser Schankwirten verkaufen zu können. In Bordeaux erwarben die Bürger etwa zur gleichen Zeit das Privileg, ihre Weine absetzen zu können, bevor die Weine des Hochlands in den Hafen gelangten. Nach und nach entwickelte sich eine wahre Herkunftshierarchie, die im 18. Jahrhundert in der Schaffung erster Klassierungen mündete. Bis zum Entstehen von Handelsmarken wie etwa Haut-Brion und anderen grossen Weinschlössern des Bordelais diente der Ursprungsname als solche.
1703 regelten England und Portugal im Methuen-Vertrag ihre Handelsbeziehungen neu. Portugal verpflichtete sich, englische Textilien einzuführen – und England portugiesischen Wein. Französische Handelswaren und damit Wein wurden mit einem Embargo belegt. Bald fehlte es in Portugal jedoch an Wein, es wurde mehr vertrieben als produziert, die Qualität nahm drastisch ab, die Preise fielen, es kam zur Krise im oberen Douro-Tal, dem wichtigsten portugiesischen Weinbaugebiet. 1756 wurde die Gesellschaft für den Anbau von Wein im Alto Douro gegründet. Der Marquis de Pombal liess die Anbaufläche markieren, die künftig Qualitätsweine erzeugen durfte, und erfand so den Ursprungsschutz.
Wir haben an anderer Stelle bereits ausführlich belegt, dass dies nicht ganz falsch ist, aber auch nicht ganz richtig. Herkunftsschutz schien in der Luft zu liegen, denn rund 20 Jahre früher, 1737, akzeptierte die französische Krone die Eingabe einer Handvoll Dörfer der südlichen Rhône, die ebenfalls die Echtheit ihrer Weine schützen wollten, um Missbrauch zu verhindern. Federführend war das alte Winzerdorf Tavel, dessen Weine als besonders hervorragend galten. Künftig war verboten, in die Dörfer Tavel, Roquemaure, Lirac, Saint-Laurent-des-Arbres, Saint-Geniès-de-Comolas, Orsan, Chusclan, Codoret und ihre Terroirs ortsfremde Ernte und ortsfremden Wein einzuführen und diesen als Wein aus ihren Orten und Terroirs auszugeben. Eine Zuwiderhandlung wurde mit Konfiskation des Weins, der Fässer, der Ernte, der Zugtiere und Wagen sowie mit einer Busse von 100 Pfund bestraft. Um jeden Missbrauch auszuschliessen, konnten die vollen und nur die vollen Fässer mit einer Brandmarke der drei Buchstaben «C.d.R.» für Côte du Rhône versehen werden. Erwähnen wir der Vollständigkeit halber, dass der Text der Eingabe auf eine Akte des Rhône-Dorfes Roquemaure zurückging, die bereits 1657 verfasst wurde.
Tavel setzte sich besonders aktiv für die endgültige Ausarbeitung des Ursprungsschutzes ein. Die kleine Gemeinde, die seit Jahrhunderten vom Wein lebte und diesem ihren Reichtum verdankte, litt ganz besonders unter der Reblauskrise, die nur ein paar Kilometer vom Dorf entfernt ausbrach. Der Wiederaufbau war schwierig. Die Tavel-Winzer gehörten daher mit ihren Kollegen aus Châteauneuf-du-Pape beziehungsweise deren Exponenten Baron le Roy und mit dem Abgeordneten Méjean aus dem Médoc zu den Motoren der Bewegung für einen gesetzlichen Ursprungsschutz. 1935 wurde das Comité National des Appellations d’Origine gegründet (seit 1947 Institut national de l’origine et de la qualité, INAO), und am 15. Mai 1936 erhielten Arbois, Cassis, Tavel, Châteauneuf-du-Pape und die Region um Cognac die erste AOC zugesprochen. Viele andere Orte folgten rasch, und der staatlich kontrollierte Ursprungsschutz galt bald auch für andere französische Landwirtschaftsprodukte wie Käse, Linsen, Kartoffeln.
Natürlich enthalten die jeweiligen AOC-Bestimmungen auch Regeln, die der Qualität der Produkte dienlich sind. Doch in erster Linie geht es um den Schutz der Typizität der Weine. Eine AOC ist eine Art Marke, die den Geschmack eines Produktes garantieren soll sowie die teils historischen Praktiken, darunter die Sortenwahl, die zu diesem Geschmack führen. Weil nur Qualitätsweine eine gewisse positive Typizität ausdrücken können, ist auch diese miteinbezogen. Doch sie ist «nur» Voraussetzung, nicht Ziel.
Der Widerspruch
Ich gebe gerne zu: Für einen Nichtfranzosen ist der Unterschied nicht einfach zu verstehen. Deutsche oder Schweizer haben den Konsumentenschutz im Blut, die absolute Reinheit und Qualität; Franzosen das Terroir, das Cru, den Ort, an dem etwas wächst, das anders schmeckt als anderswo. Doch genau in diesem Unterschied liegt das wichtigste Argument für die AOC. Wer einen AOC-Wein abfüllt, akzeptiert kollektiv ausgearbeitete Spielregeln, die, betonen wir es nochmals, die Typizität garantieren und sicherstellen sollen, dass ein AOC-Wein sich nicht allzu sehr vom AOC-Wein seines Nachbarn unterscheidet. Je höher man auf der AOC-Leiter steigt, desto feiner werden die Nuancen. Ein Wein aus einem Cru, einer AOC-Gemeindeappellation wie Margaux soll eine bestimmte Terroir-Typizität aufweisen, die ihn von einem Pauillac unterscheidet, und ein Romanée-Conti soll leicht anders schmecken als ein La Tâche oder ein Echézeaux. Ein Margaux und ein Pauillac sollen aber auch der Basistypizität Bordeaux entsprechen, die sich wiederum von der Basistypizität Burgund unterscheidet. Die AOC ist folglich ein Geschmacksdiktat wider die Vereinheitlichung des Geschmacks. Genau in diesem scheinbaren Widerspruch liegen die Krux und die Stärke des Systems. Die Regeln garantieren die Freiheit, die ja immer nur bis dahin reicht, wo die Freiheit das anderen beginnt. Die AOC stipuliert, das Kollektiv sei wichtiger als das Individuum. Das entspricht nicht dem Zeitgeist und ist darum postmodern.
Doch für das Individuum ist auch gesorgt. Niemand muss sich an AOC-Regeln halten. Winzer können frei wählen, welcher Kategorie sie ihr Erzeugnis zuordnen. Querdenker wie Aimé Guibert oder die Toskaner Weinrevoluzzer der 1980er Jahre haben den Tischwein salonfähig gemacht. Heute profitieren sie meist vom geschützten Ursprung der ehemaligen Landweine mit der geografischen Angabe IGP. Die IGP ist zu einem Experimentierfeld für künftige AOCs geworden.
Letztlich braucht es nur eines, damit die ganze Sache funktioniert: mündige Konsumenten, die wissen, was sie wollen. Weine mit besonderer Typizität, Weine, die Experimente zulassen, oder Weine, die mit weitreichendster Freiheit gekeltert wurden. Am oberen Ende der Skala besitzt der Konsument eine Geschmacksgarantie, am unteren Ende keine. Für Qualität über dem in der AOC festgelegten (und meist durch Verkosten kontrollierten) Standard sind die eigentlichen Marken, die Produzenten, die Domänen zuständig. Sie unterliegt dem banalen Prinzip: Über Technik spricht ein Profi nicht, Technik hat er. Ja, kontrollierter Ursprungsschutz ist heute und auch in Zukunft sinnvoll. Nicht als starres System und Kreativitätsbremse, sondern als Leitplanke, die den Weg zum Erlangen von Typizität vorgibt.
Französischer Ursprungsschutz heute
Am 1. August 2009 trat in Frankreich ein neues System für Ursprungsschutz in Kraft, das den einschlägigen EU-Richtlinien Rechnung trägt. Die Sache wird damit viel einfacher und gleichzeitig komplizierter, denn das alte und das neue System werden noch für mehrere Jahre koexistieren.
Die neue Pyramide kennt nur noch drei Stufen: AOP (Appellation d’Origine Protégée, Kennung geschützter Herkunft), IGP (Indication Géographique Protégée, geschützte geografische Angabe) und Vins de France SIG (Sans Indication Géographique, ohne geografische Angabe). Was im Französischen klipp und klar ist, ist es im Deutschen gar nicht, denn «Appellation» und «Indication» sowie «Origine» und «Géographique» bedeuten übersetzt so ziemlich das Gleiche. Wir müssen uns daher wohl oder übel merken, dass europäische AOP nur werden kann, wer vorher französische AOC war; dass die IGP-Weine die Vins de Pays (Landweine) mit geografischer Angabe ersetzen; dass Vin de France SIG neuerdings für die früheren Tischweine oder Vins de Table steht, die aus Frankreich stammen, und dass die Bezeichnung VDQS (Vin Délimité de Qualité Supérieure, Weine höherer Qualität aus begrenztem Anbaugebiet) verschwindet. Die Kategorie der Vins de France bietet die grösste Freiheit, aber auch sie kennt ein paar Basisregeln. Vereinfacht gesagt muss der Inhalt dem Etikett entsprechen. IGP und AOC/AOP sind näher zueinandergerückt. Beide Kategorien kennen Regeln, strengere die eine, etwas lockerere die andere. Beide Kategorien legen Wert auf Einhalten einer gewissen Kontinuität historischer Kelterpraktiken.