Profipanel: Räuschling meets Completer
Die Rückkehr der Dinosaurier
Text: Thomas Vaterlaus, Fotos: Linda Pollari, z.V.g.

Räuschling: Berauschend wie noch nie
Räuschling und Completer galten lange als borstige «Säuerlinge». Beide Sorten wären beinahe ausgestorben, hätten sie nicht einzelne Winzer gerettet. Heute zeigen sie sich als Spezialitäten in einer beneidenswerten Hochform. Dabei attestierte die Jury dem Completer ein etwas höheres Qualitätspotenzial. Interessant auch, dass beim Completer drei Weine aus drei verschiedenen Kantonen die höchsten Bewertungen erreichten. Das generelle Fazit: Wer viel Charakter und keinen Mainstream sucht, wird mit beiden Sorten glücklich!
Es ist heute kaum mehr vorstellbar, dass der Räuschling einst als «Hardcore-Säuerling » galt, der einem beim ersten Schluck die Schuhe auszog oder die damaligen Amalgam- Füllungen aus den Zähnen spülte. Die Familie Schwarzenbach in Meilen, die mit dieser Sorte so eng verbunden ist wie keine andere und für sich in Anspruch nehmen darf, den Räuschling fast im Alleingang vor dem Aussterben gerettet zu haben, vermutet, dass es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchaus Jahre gab, in denen die Säurewerte höher lagen als der Alkoholgehalt. Tempi passati! Heute scheint die Sorte im Kanton Zürich und wahrscheinlich auch in anderen Teilen der Ostschweiz das ideale Gewächs für die gegenwärtigen Bedingungen zu sein. Ohne Zweifel trägt die Klimaerwärmung dazu bei, dass sich die heutigen Räuschlinge sehr ausgewogen präsentieren. Die animierende Säure ist zum Glück geblieben, aber sie scheint aktuell besser in eine ausgereifte Fülle eingebettet zu sein. Doch die Klasse der heutigen Weine basiert auf mehr als nur wärmeren Temperaturen. Es benötigt genauso Feintuning beim Winzer-Handwerk. Der entscheidende Faktor ist, dass es mit der Wahl der richtigen Böden und konsequenter Rebbergsarbeit gelingt, die Veranlagung der Sorte zu extremer Wüchsigkeit zu bremsen. Denn lässt man die Rebe gewähren, entstehen riesige Trauben, bei denen die aussenliegenden Beeren zwar 85 Grad Öchsle und mehr erreichen, die innenliegenden Beeren aber gerade mal bei 50 Grad Öchsle liegen. Ein allfälliges Halbieren der Trauben und eine rigorose Selektion bei der Ernte sind darum ebenfalls entscheidend. Die grosse, noch nicht abschliessend beurteilte Frage stellt sich beim Ausbau. Gehört der Räuschling in den Stahltank, oder gewinnen die Weine durch den Ausbau in Barriques, grösseren Eichenholzfässern oder Tonbehältnissen zusätzlich an Ausdruck? Die beiden topklassierten Weine, der Räuschling Äfenrain vom Weingut Höcklistein im sankt-gallischen Rapperswil-Jona und der Räuschling Schönfels von Erich Meier in Uetikon am See, zeigen exemplarisch, was es braucht, um aus der Sorte grosse Weine zu keltern. So stammt der Schönfels aus einer Clos-ähnlich angelegten Kleinstlage mit rund 60-jährigen Stöcken. Spontangärung und Ausbau in 250 Liter fassenden Tonkugeln ergeben einen gehaltvoll animierenden Wein. Auch der topplatzierte Äfenrain stammt aus einer Einzellage im höchsten Bereich der Höcklistein- Rebberge mit kalkhaltigem Nagelfluh- Boden. Die Vinifikation startet mit einer zwölfstündigen Maischenstandzeit, Vergärung und Ausbau finden in Barriques statt. Auch dieser Cru vereint Komplexität und eine fast burgundisch anmutende Reintönigkeit und Beschwingtheit.
Completer: Alpine Topklasse
Beim Completer tut sich was. Und wie! Galt die Sorte bis vor wenigen Jahren als eine rein bündnerische Angelegenheit, so sorgt das Gewächs nun auch in anderen Kantonen für Furore, wie dieses VINUM-Panel in eindrücklicher Weise zeigt. So stammen die Top-3-Weine dieser Verkostung aus drei verschiedenen Kantonen. Auf dem ersten Platz klassierte sich der 2023er von Valentina Andrei aus dem Wallis. Platz 2 ging an Graubünden, nämlich an die Malanserrebe 2023 von Martin Donatsch. Und Platz 3 belegte der Zürirebe 2022 von Alain Schwarzenbach und Marilen Muff aus dem zürcherischen Meilen. Der Schwarzenbach-Cru geht übrigens auf einen wurzelechten Zürichseeklon zurück. Doch die beiden Completer-Hochburgen sind heute ganz klar Graubünden und zunehmend auch das Wallis, welches von seinen total fünf eingereichten Weinen drei in die Top Five brachte. Damit ist der Completer heute die einzige schweizerische Ursorte, die sowohl in der Deutschschweiz als auch in der Romandie absolute Topweine hervorbringt. Wichtig für diese Entwicklung war die Forschungsarbeit des Walliser Biologen José Vouillamoz. 2002 fand er mittels DNA-Analysen im Rahmen seiner Arbeit an der University of California in Davis heraus, dass der in Graubünden präsente Completer ein Elternteil der ebenfalls raren Sorte Lafnetscha im Wallis ist. Fast zur gleichen Zeit entdeckten Vertreter von Agroscope einige Completer-Stöcke in einem Lafnetscha- Rebberg bei Visp und bezeichneten diese aufgrund der grösseren Beeren als «Grosse Lafnetscha ». Aufgrund dieser Erkenntnisse wird der Completer heute zu jener Rebsorten-Gruppe gezählt, von der man annimmt, dass sie sich in geographischen Insellagen beidseits der Alpen halten konnte. Eine These besagt, dass allenfalls die Walser die Sorte von Oberitalien über das Oberwallis bis nach Graubünden brachten. Sicher ist: Der Nachweis, dass der Completer im Wallis ebenso heimisch ist wie in Graubünden, hat der Sorte im Rhone-Kanton einen Aufschwung verliehen. Bereits mehr als fünf Domänen, darunter Marie- Thérèse Chappaz, Valentina Andrei, Clos de Tsampéhro, Isabella und Stéphane Kellenberger (Vin d’Œuvre) oder die Familie Roduit bauen die Sorte von neuem an.
Wie der Räuschling galt auch der Completer lange Zeit als fast schon brutal säurereiche Sorte, die mit önologischen Kniffen trinkfähig gemacht werden musste. Einen solchen Traditionswein keltert heute noch Giani Boner in Malans. Weil seine ungepfropfte, also wurzelechte Completer- Parzelle in der Malanser Halde tendenziell säurereichere Grundweine ergibt als Anlagen, die in den letzten Jahren mit den gängigen Selektionen bepflanzt worden sind, lässt er seinen Gewächsen sieben Jahre Zeit, bis sie in die Flaschen kommen. Nach dem biologischen Säureabbau bleibt der Wein vier Jahre im Tank und wird danach nochmals zwei Jahre in gebrauchten Doppelbarriques oxidativ ausgebaut. So entsteht ein Charakterwein mit dezenter Sherry-Charakteristik. Andere Winzer federn die Säure heute mit einem Hauch von Restzucker ab. Aber auch der Ausbau in Tonkugeln und Amphoren ergibt ebenso ausgewogene wie ausdrucksstarke Weine. Trotzdem: Completer- Crus brauchen Flaschenreife, damit sie ihr ganzes Qualitätspotenzial ausspielen können. Bei einer Raritäten-Verkostung von José Vouillamoz in Schloss Reichenau im Jahr 2021 zeigte sich beispielsweise der oxidativ ausgebaute Malanser Completer von Giani Boner aus dem Jahr 1989 ebenso in Hochform wie der Jeninser Completer Sprechergut 1990 von Familie von Tscharner. Ob die Mönche des Domkapitels Chur so etwas wie Genuss empfunden haben, wenn sie nach dem «Completorium», dem letzten Gebet des Tages, bei Kerzenlicht einen ordentlichen Becher Completer schlürften, oder ob sie den Trunk des damals kratzbürstigen Bergweins als Akt der Selbstkasteiung empfanden, wissen wir nicht. Sicher ist: Heute, 700 Jahre später, bringt die Sorte die mitunter charakterstärksten Weissweine der Schweiz hervor.

«Die Räuschling-Gewächse zeigten sich überraschend spannend mit viel Unterhaltungswert. Die einst berüchtigte Säure gibt heute ein schönes Gerüst. Beim Completer geht es mehr um Ruhm und Ehre des Winzers. Das Ergebnis sind eindrückliche Weine, fast Monumente. Man trinkt sie vielleicht nicht in grossen Mengen, aber mit grosser Neugierde und Genuss!»
Lidwina Weh Sommelière in Wohlen (AG)

«Der straffe Räuschling ist heute mehr als ein erfrischender Sommerwein und hat wohl auch Potenzial als Teil von hochstehenden Cuvées. Allerdings sehe ich den Completer eher am Sternenhimmel der Zukunftsweine. Die besten Gewächse zeigten sich ausgewogen und edel, manche erinnerten mit ihrer edlen Reduktion sogar an Crus aus dem Burgund.»
Nicole Vaculik Sommelière, Meersburg (D)

«Die alte Zürcher Sorte Räuschling zeigt heute eine spannende Vielfalt an Stilistiken. Wohl weniger wegen der unterschiedlichen Terroirs, sondern aufgrund der individuellen Konzepte der Winzer. Der Completer profitiert offensichtlich von der Klimaerwärmung. Das Potenzial ist enorm, auch was die Entwicklung der Weine anbelangt.»
Walter Zweifel Weinhändler und Winzer, Zürich (ZH)

«Während der Completer schon länger den Ruf einer Topsorte hat, zeigt nun auch der Räuschling ein erfreulich hohes Qualitätsniveau. Gut möglich, dass die Jahrgänge 2022 und 2023 dem Trend zu vermehrt reichhaltigvielschichtigen Weinen förderlich waren. Die Completer-Crus konnten vor allem in Bezug auf Komplexität und Langlebigkeit überzeugen.»
Ivan Barbic MW Weinhändler und Consultant, Zürich (ZH)

«Diese Verkostung zeigt, was möglich ist, wenn die Produzenten diese Sorten nicht mehr nur als historisch-sentimentale Überbleibsel, sondern als Topsorte wie den Chardonnay sehen. Die Completer vermochten eine Spur mehr zu überzeugen, sind aber auch wesentlich teurer. Die Räuschling- Crus zeigen ein sehr attraktives Verhältnis von Qualität und Preis.»
Nicole Harreisser Redakteurin VINUM (ZH)

«Die Räuschling-Gewächse haben markant an Klasse zugelegt. Mit ihrer saftig-reifen Säure sind es nicht mehr nur süffige Apéroweine, sondern perfekte Essensbegleiter, etwa zu Fisch. Die Completer waren fast durchwegs viel zu jung zum Geniessen. Die Sorte muss nicht nur am Stock voll ausreifen, sondern auch in der Flasche. Nach zehn Jahren sind die Weine top.»
Beat Caduff Gastgeber und Consultant, Zürich (ZH)
Die Jury

Von links nach rechts
Nicole Vaculik
Sommelière, Meersburg
Ihr Favorit: Malanser Completer 2022 von Schifferli Wein, Malans GR
Lidwina Weh
Sommelière, Wohlen I
hr Favorit: Completer Back to the Roots 2023 von Vin d’Œuvre, Leuk VS
Miguel Zamorano
Redakteur VINUM, Zürich
Sein Favorit: Completer 2023 von Valentina Andrei, Saillon VS
Beat Caduff
Gastgeber und Consultant, Zürich
Sein Favorit: Räuschling Schönfels von Erich Meier, Uetikon am See ZH
Walter Zweifel
Weinhändler und Winzer, Zürich
Sein Favorit: Completer 2024 von Cave Rodeline, Fully VS
Thomas Vaterlaus
Chefredakteur VINUM, Zürich
Sein Favorit: Completer Malanserrebe 2021 vom Weingut Wegelin, Malans GR
Beat Caduff
Consultant und Gastgeber, Zürich
Sein Favorit: PX Soleraa 1927 von Bodegas Alvear (Montilles-Moriles)
Patric Lutz
Weinhändler, Château-d’Oex
Sein Favorit: Vergine Riserva Vintage 2004 von Cantine Florio (Marsala)
Thomas Vaterlaus
Chefredaktor VINUM, Zürich
Sein Favorit: 20 Years Old Tawny Port von Graham’s (Port)
Nicole Harreisser
Redakteurin VINUM, Zürich
Ihr Favorit: Completer Malanserrebe 2023 vom Weingut Donatsch, Malans GR
Ivan Barbic
Weinhändler und Consultant, Zürich
Sein Favorit: Completer Centenaire 2023 von Zweifel Weine, Zürich ZH