Weinbaugebiet Beaujolais
Der Phoenix Morgon
Text: Birte Jantzen, Foto: Fabrice Ferrer, Emmanuel Perrin, z.V.g.
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Es ist wirklich schwer, sich nicht in Morgon zu verlieben: humorvolle Winzer, idyllische Landschaften und Weinberge, und vor allem eine Rebsorte, die so viel mehr kann, als ihr Ruf es vermuten lässt. Auf dem vielfältigen Terroir von Morgon verwandelt sich der Gamay in einen eleganten Marathonläufer, der nicht nur Spass macht, sondern auch richtig lange lagern kann.
Für eigentlich jeden ist es ein magischer Anblick: Dort prangt er am Horizont, schneebedeckt, wie hingemalt, umgeben von einem orange gefärbten Sonnenaufgang. Trotz der 200 Kilometer Distanz hebt sich sein Relief klar und unverkennbar vom Rand der Alpen ab: der Mont Blanc. Für die Winzer von Morgon hingegen geht die Freude des Anblicks mit gemischten Gefühlen einher, denn der Berg ist für sie so etwas wie ein majestätischer Wetterfrosch. Der Himmel mag noch so blau sein: Erblickt man den Mont Blanc, gibt es innerhalb der nächsten 48 Stunden Regen. Die Voraussage ist erstaunlich verlässlich, und so wünscht sich manch einer zur Blütezeit und Weinernte vor allem eines – schönes Wetter mit diesigem Horizont.
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Nicht nur Morgon – insgesamt hat das Beaujolais in Sachen natürlicher Schönheit, auch ohne Mont Blanc, viel zu bieten. Angelehnt an die Ausläufer des Beaujolais-Massivs, zieht es sich über 55 Kilometer von Nord nach Süd. Das nach Osten abfallende Relief zeichnet auf relativ kurzer Distanz ein vielfältiges, hügeliges Landschaftsbild, getupft mit Gehölzen, Rebbergen, beschaulichen Dörfern und immer wieder wunderschönen Ausblicken. Scheinen die zwölf Appellationen des Beaujolais fliessend ineinander überzugehen, gibt es zwischen ihnen zum Teil recht markante stilistische Unterschiede.
Wer nun seinen Horizont bei den Beaujolais-Weinen auf den Beaujolais Nouveau begrenzt, dem mag die Klassifizierung von zehn der zwölf Appellationen als Cru sicher seltsam erscheinen, wird ein Cru doch praktisch immer mit höchster Qualität und Lagenweinen in Verbindung gebracht, wie zum Beispiel im Burgund. Sicher, der Beaujolais ignorierte zwischen den 1950er Jahren bis Anfang der 2000er sein erstaunliches Terroir weitestgehend, zu verlockend war der weltweite Erfolg des Beaujolais Nouveau. Der Bogen wurde von den Winzern so lange überspannt, bis sich der Markt von diesen Primeur-Weinen abwandte.
Es war ein harter Fall, der dennoch viel Positives mit sich brachte, denn: Seit gut 15 Jahren gibt es, ganz ohne Wortspiele, eine spannende Rückkehr zu den Wurzeln des Gamay. Die meist kleineren Parzellen, dicht bepflanzt mit zum Teil recht alten, knorrigen, niedrigen Buschreben, sind stumme Zeugen alter Traditionen und stehen für mühselige Handarbeit. Sie sind ein lebendiger Schatz der genetischen Vielfalt des Gamay.
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Leider ähnelten die Rebberge des Beaujolais noch bis 2010 eher Mondlandschaften, so stark war der Einsatz von Herbiziden, um möglichst billig produzieren zu können. Heute hat sich das Bild grundlegend geändert, und in viele Rebzeilen ist das Grün zurückgekehrt. Wie eigentlich jede Rebsorte spiegelt auch der Gamay die Renaissance des Bodenlebens und des damit einhergehenden Gleichgewichts in den Weinen wider. Sie sind so gut wie schon lange nicht mehr, und das egal in welchem Cru.
Morgon spielt aufgrund seiner vielfältigen Bodenbeschaffenheiten die Rolle des Botschafters für stilistische Vielfalt, mit einer Konstante: eine feingliedrige, aber solide Tanninstruktur, gepaart mit einem für das Beaujolais und den Gamay aussergewöhnlichen Lagerpotenzial. Neu ist dies nicht. Die Weine von Morgon wurden seit jeher dafür geschätzt, und es ist kein Zufall, dass der Cru gleich 1936 seinen AOC-Status, also die geschützte Ursprungsbezeichnung, erhielt. Morgon erfreute sich stets eines exzellenten Rufs, und die Nachfrage war hoch. Wahrscheinlich hat es auch deswegen dort nie Winzergenossenschaften gegeben, selbst nicht während der Blütezeit des Beaujolais Nouveau. Vielmehr gibt es um die 250 Winzer, bei 1090 Hektar Rebbergen liegt die Durchschnittsgrösse des Besitztums also bei gerade mal vier Hektar.
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Dominique Piron, der seit über 50 Jahren hier Weinberge bewirtschaftet und selbst in 14. Generation aus einer Winzerfamilie kommt, kennt die bewegte Geschichte des Crus wie seine Westentasche. «Wir sind wie das Gallier-Dorf von Asterix und Obelix. Unsere Weine waren nie trendy, sondern galten schon immer als verlässlich. Dieser Denkansatz wurde von Generation zu Generation weitergegeben und brachte eine Form der Regelmässigkeit.» Schmunzelnd fügt er hinzu: «Und dann gab es dieses Phänomen des Naturweins, das von Marcel Lapierre ausging. Zum Glück! Es war der einzige Ausweg aus dem eine Zeit lang vorherrschenden Einheitsdenken: dem Kult des Fruchtigen, des Leichten. Der Naturwein hat ein paar Jahre lang für ziemlich viele Meinungsverschiedenheiten gesorgt. Aber es gibt keine Aussenseiter, und heute ziehen alle an einem Strang: die Kleinen, die Grossen, die Historischen, die Neuen – egal, wie sie produzieren und an wen sie ihren Wein verkaufen.» Das bestätigt auch Louis-Benoît Desvignes, der mit seiner Schwester 2004 das Weingut ihrer Familie in Villié-Morgon übernahm: «Was wir Winzer am meisten brauchen, ist ein richtiges Beisammensein, untereinander, aber auch mit den Besuchern. Es ist das absolute Gegenteil von sozialen Netzwerken.»
Und es ist eine Rückkehr zu alten Gepflogenheiten. Als sich die Weinkeller in den 1950er Jahren mehr und mehr den Besuchern öffneten, gab es jedes Wochenende volle Strassen, und während der Weinlese war es für die Winzer manchmal fast unmöglich, zu den Weinbergen zu gelangen. Heute ist der Rhythmus des Beaujolais zwar vergleichsweise beschaulich, aber er ist in Bewegung gekommen. In den letzten vier Jahren hat sich nämlich auch gastronomisch so einiges getan, wie zum Beispiel die Eröffnung des exzellenten Restaurants «Ema» in Deux Grosnes, wo man neben hausgemachten Speisen aus Produkten der Region auch eine tolle Weinkarte findet – alles zu bezahlbaren Preisen.
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Das Beaujolais ist und bleibt erschwinglich, auch wenn die Weine nicht mehr in der untersten Billig-Zone manövrieren. Das ist eine gute Nachricht, denn die historischen Rebberge von Morgon benötigen beim respektvollen Bewirtschaften viel Zeit und Handarbeit. Man braucht nur die Hänge der ikonischen Lage Côte du Py zu betrachten, um sich selbst davon ein Bild machen zu können. Dominique und Louis-Benoît sind sich einig: «Côte du Py ist fast schon eine Appellation für sich!» Aber sie ist nicht die einzige, die in Morgon von sich reden macht. Insgesamt dürfen zehn Lagen offiziell auf dem Etikett stehen: Côte du Py, Aux Charmes, Corcelette, Grand Cras, Douby, Aux Chênes, Javernières, Château Gaillard, Bellevue und Fontriante. Jede von ihnen hat ihre eigene Persönlichkeit: Douby, Fontriante und Château Gaillard zum Beispiel, mit ihren stark granithaltigen Böden, bringen Weine mit viel Eleganz und Leichtigkeit hervor. Javernières und Côtes du Py hingegen haben mehr Vulkangestein und Schiefer, was den Weinen einen zurückhaltenden Charakter, Struktur und Lagerfähigkeit verleiht.
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«Wenn ich sehe, dass manche Kunden sich heute weigern, die Weine aus Morgon zu probieren, nur weil sie aus dem Beaujolais kommen, muss ich immer an meinen Grossvater denken», murmelt Dominique. «1932 wollte er seinen Weinberg in Morgon erweitern, und ein Besitzer aus der Gegend bot ihm vier Hektar alte Weinberge plus ein Winzerhaus für 90 000 Francs an. Zur gleichen Zeit stand ein zweites Weingut zum Verkauf: 6,5 Hektar für 110 000 Francs, also eher billiger, aber dafür im Burgund. Es hiess Clos de Tart, eben dasselbe, das kürzlich für 280 Millionen Euro verkauft wurde. Zur Zeit meines Grossvaters waren die Weine von Morgon genauso renommiert wie die von Corton und Vosne-Romanée. Das ist noch gar nicht so lange her. Es ist schon verrückt!»
Es gibt also durchaus gute Gründe, sich für Morgon und das Beaujolais insgesamt zu begeistern. Und genau dies zieht heute neue Talente von ausserhalb an, wie zum Beispiel Mee Godard. Als Quereinsteigerin gründete sie vor gut zehn Jahren ihr Weingut direkt unterhalb der Côte du Py. Die Diplom-Önologin hat die Wahl nie bereut. «2007 war ich mit Freunden im Beaujolais unterwegs, und vor allem die älteren Weine haben mich total verblüfft. Der Gamay ist wirklich eine beeindruckende Rebsorte. Ich dachte, wenn ich mich eines Tages niederlasse, dann hier!» 2013 war es so weit. «Ich lebte damals in Beaune, aber das Burgund war für mich einfach nicht spassig genug. In Morgon ist die Atmosphäre viel fröhlicher und freundlicher.
« Das Burgund war mir nicht spassig genug. Also habe ich mich in Morgon einquartiert. »
Mee Godard
Die Landschaft ist wunderschön, und die Weine sind grossartig. Die Terroirs sind meiner Meinung nach im Vergleich zu dem, was sie hervorbringen können, unterbewertet.» Lachend fügt sie hinzu: «Wenn ich zurückdenke, war ich damals ein wenig ahnungslos. Ich erinnere mich noch gut an meine ersten Diskussionen mit anderen jungen Winzern. Sie meinten: ‹Mee, du wirst sehen, du wirst es schwer haben, deinen Wein zu vermarkten.› Meine Reaktion war: ‹Wirklich? Aber nein. Alles kein Problem!›» Sie sollte recht behalten. Schon kurze Zeit später fanden ihre Weine reissenden Absatz, und heute gehört sie zu den festen Grössen von Morgon.
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Aber auch alteingesessene Familien haben es nicht immer leicht. Als Gaétan Mélinon den Wunsch äusserte, das Familienweingut zu übernehmen, steckte das Beaujolais gerade mitten in einer handfesten Krise. Sämtliche Freunde und Bekannte schlugen die Hände über dem Kopf zusammen. Er setzte sich durch, bildete sich aus und führt heute mit Erfolg das Familienweingut im winzigen Dorf Saint-Joseph, welches früher dafür bekannt war, nur 50 Einwohner und trotzdem drei Cafés zu haben.
Und heute? Morgon ist eine unwiderstehliche Mischung aus humorvollen, motivierten Winzern, grossartigem Terroir und wundervollen, erschwinglichen Weinen. What else?