Geosensorische Verkostung
Verkoste doch mal anders
Text: Anick Goumaz, Fotos: Anne-Laure Seret
Als Begriff wurde die «geosensorische Verkostung» in den 1990er Jahren vom französischen Forschungsingenieur und Weinkritiker Jacky Rigaux geprägt. Bereits im 12. Jahrhundert wurde diese Methode von sogenannten «Gourmets» praktiziert. Sie wussten den Herkunftsort eines Weines zu erkennen, ohne ihren Seh- und Geruchssinn zu benutzen. Heute liegt das Verfahren weltweit wieder im Trend.
Die geosensorische Verkostung ist eine sehr alte Praxis, die weit in die Geschichte zurückreicht. In den letzten Jahren wurde sie – vor allem in Frankreich – wiederentdeckt und neu belebt. Die Methode legt dabei weniger Wert auf die Nase, also die Aromen. Man nimmt die Aromen besonders über den retronasalen Geruchssinn wahr, das heisst im Mund. Warum der Begriff «geosensorisch»? Gemäss Herkunft und denjenigen, die diese Methode empfehlen, vermittelt sie viel mehr Botschaften zur Weinherkunft als eine klassische Verkostung, die auf der Aromenanalyse basiert. Eine Sache für Weinfreaks? Ja und nein. Derzeit scheint das Thema vor allem ein Nischenpublikum zu begeistern. Die geosensorische Verkostung stösst bei den meisten, egal ob Amateure oder Profis, auf grosses Interesse, spricht aber auch ein breiteres Publikum an. Fakt ist, dass nicht jeder von uns Aromen gleichermassen gut wahrnehmen kann. Dies unterstrich Gabriel Lépousez, Weinliebhaber und Neurobiologe, im Podcast «La Terre à Boire». Er führt am Institut Pasteur Forschungen zur sensorischen Wahrnehmung durch. Als Beispiel nennt er Beta-Ionon, ein Molekül, das dem Wein ein Veilchenaroma verleiht: «Dieses Beta-Ionon-Molekül aktiviert nur einen unserer 400 Geruchsrezeptoren. Es gibt Menschen, die eine sehr empfindliche Nase haben, andere wiederum nicht. Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie unterschiedlich Gerüche wahrgenommen werden. Es gibt grosse Unterschiede.» Obwohl das Mundgefühl sehr individuell ist, zeigt es sich weniger subjektiv als der Geruchssinn. «Beim Tast- und Geschmackssinn (ausser Bitterkeit) unterscheiden sich zwei Personen höchstens um den Faktor 5 bis 10, während beim Geruchssinn der Unterschied bis zu zehntausendfach sein kann», fügt er hinzu.
Von den Gourmets zur Geosensorik
Die Anfänge der geosensorischen Weinverkostung liegen bei der Gilde der Gourmets, die jahrhundertelang im Burgund aktiv war. Diese Spezialisten kontrollierten bereits im 12. Jahrhundert den Weinhandel. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, dafür zu sorgen, dass der verkaufte Wein auch tatsächlich der auf dem Fass angegebene war. Sie verkosteten mithilfe eines Tastevins, eines Gefässes, in dem weder die Farbe des Weins noch sein Duft analysiert werden konnte. Ihr grosses Können stützte sich hauptsächlich auf das Mundgefühl. Vermutlich wurden sie, wie alle anderen Zünfte, während der Französischen Revolution abgeschafft. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hielt die Industrialisierung Einzug in die Weinproduktion, die Ortsweine verloren an Bedeutung. Dies geschah kurz vor der Reblauskrise, die der Weinbauwirtschaft einen schweren Schlag versetzte. Nach dem Wiederaufbau der Weinberge wurde die Weinprobe erneut zu einer Kunst, allerdings auf einer anderen Basis. Die 1960er Jahre markieren den Beginn der analytischen oder sensorischen Verkostung. Sie setzte sich dank mehrerer Faktoren durch, so der Einführung des berühmten Degustationsglases INAO. Es wurde von Jules Chauvet, Wissenschaftler und Weinhändler im Beaujolais, erfunden. Mit der Form des Glases versuchte er die Wahrnehmung von Aromen zu optimieren. Während dieser Zeit gerieten die Gourmets samt ihrem Wissen fast in Vergessenheit. Aber: Einige Vereine führten die Methode weiter und ermöglichten ihr eine Renaissance, die durch die Zusammenarbeit zwischen dem Burgunder Winzer Henri Jayer und dem Forschungsingenieur Jacky Rigaux neue Impulse erhielt. Ersterer riet dem Zweiten, sich erneut mit dem Buch «Histoire et Statistique de la Vigne et des Grands Vins de la Côte d’Or» zu befassen, das 1855 von Professor Jules Lavalle veröffentlicht wurde. Dort war den Gourmets ein kurzer Absatz gewidmet. Zusammen mit Jayer begann Rigaux, diese Methode anzuwenden, zunächst, um Terroirweine zu fördern. Nach rund zehn Jahren entwickelte er die Verkostungsmethode der Gourmets weiter und benannte sie in «geosensorische Verkostung» um, mit dem Ziel, auch Schulungen anzubieten.
In der Schule der Geosensorik
Im Laufe der Zeit konnte Jacky Rigaux namhafte Persönlichkeiten der Weinwelt für sich gewinnen, darunter Grössen wie Aubert de Villaine, George Truc oder Jean-Michel Deiss. «Die Aromen, die ein Laie beschreibt, sagen oft mehr über die Person aus als über den Wein selbst», bemerkt der elsässische Winzer Jean-Michel Deiss. «Die Natur hat uns mit allen Sinneszellen für den Geschmackssinn ausgestattet und uns ein solides, umfassendes und äusserst effizientes Vokabular dafür gegeben. Kann es Missverständnisse über Wortbedeutungen geben, die wir bei der geosensorischen Verkostung verwenden, wie warm oder kalt, zähflüssig oder leicht, rau oder glatt? Nein, nie.»
Im Jahr 2013 gründete Deiss die Université des Grands Vins, an der Weinwissen mittels geosensorischer Verkostung gelehrt wird. 2018 führte er die Methode an der Fakultät für Geografie und Planung der Universität Strassburg ein. Referentin und Autorin Audrey Delbarre: «Die geosensorische Verkostung ergänzt die anderen. Wenn wir unsere Sinne neu ordnen, indem wir den Mund bevorzugen, können wir verhindern, vom Gehirn getäuscht zu werden. Denn es neigt dazu, Empfindungen vorwegzunehmen und somit unsere Emotionen zu beeinflussen.»
Parallel dazu gründete Franck Thomas, Europas «Sommelier des Jahres» 2000, ein eigenes Ausbildungszentrum, in dem er drei Verkostungsarten in den Vordergrund stellte: die analytische, die intuitive und die geosensorische. Im Jahr 2019 schloss er sich der Revue du Vin de France Academy an, die derzeit über zehn Ausbildungszentren in Frankreich verfügt. Seit 2023 ist sie auch in der Westschweiz vertreten, und zwar in Partnerschaft mit dem Ausbildungszentrum Pur Jus Education, das von Alexandre Centeleghe gegründet wurde. Der ehemalige Mitarbeiter von James Suckling unterrichtet heute sowohl an der École Hôtelière in Lausanne als auch in seiner eigenen Einrichtung. «Ich kenne die geosensorische Verkostung seit über zehn Jahren», erzählt der Lausanner. «Aber ich habe mich erst in den letzten drei oder vier Jahren wirklich dafür interessiert. Bisher verfolge ich einen sehr klassischen Ansatz, wünschte mir aber eine tiefere Verbindung zum Wein. Ich bleibe pragmatisch, für mich ergibt die geosensorische Verkostung als Teil eines Ganzen Sinn.» Diesen Eindruck teilt auch Lilla Fülöp, Corporate Head Sommelière im «Grand Metropolitan Hotel» in Zürich und WSET Educator. Für sie steht die analytische Verkostung im Vordergrund: «Ich halte mich an strukturierte Methoden, die visuelle Analyse, die Erkennung von Aromen durch den Geruchssinn und die Verkostung des Weins, um seine Struktur vollständig zu verstehen. Die Erkennung der vom Terroir beeinflussten Komponenten erfolgt erst gegen Ende dieses Prozesses.»
Welche Verkostung für welches Publikum?
Hilft uns die geosensorische Verkostung bei der Kombination von Speisen und Weinen weiter? «Auch wenn die Methode für alle, die Wein wirklich verstehen wollen, faszinierend ist», antwortet Lilla Fülöp, «finde ich sie für ein typisches Restaurantessen zu komplex. Ich bevorzuge Verkostungen von Terroirweinen, die das Essen ergänzen können – oder auch nicht.» An wen richtet sich also die geosensorische Verkostung? «Alle Terroir-Fans, um einen modernen Begriff zu verwenden, sollten sich intensiv damit beschäftigen», antwortet Alexandre Centeleghe, «Ich hoffe, dass immer mehr Menschen diese Methode für sich entdecken, und wir so eine Gemeinschaft aufbauen und gemeinsam Erfahrungen sammeln können.»