Chardonnay-Boom

Chardonnay spricht deutsch

Text: Thomas Vaterlaus und Harald Scholl, Foto: Siffert / weinweltfoto.ch, z.V.g., Jan Palma, Paolo Dutto, Koenigshofer Michael, Ulrike Palmer

Graubünden / Südtirol: Frisch wie Quellwasser

Die Profipanels, die VINUM regelmässig durchführt, bringen immer wieder Erstaunliches zum Vorschein. Im Sommer 2022 beispielsweise verkostete die VINUM-Jury 25 sorgfältig ausgewählte Top-Chardonnays aus der ganzen Welt, vom ­Burgund bis nach Neuseeland. Auf dem ersten Platz landete dabei der 2020er Malanser Chardonnay vom Weingut Georg Fromm, gefolgt vom 2018er Chardonnay Troy der Kellerei Tramin aus dem Südtirol. Zwei waschechte Alpen-Crus etablierten sich im Olymp der prestigeträchtigsten Weissweinsorten. Ein Zufall? Keineswegs, denn auch nachfolgende Verkostungen bestätigten, dass sowohl in den nördlichen als auch in den südlichen Alpenausläufern heute Chardonnays reifen, die Weltspitze sind. Nicht weniger verblüffend ist die heutige Stilistik dieser Weine. Zeigten die ersten Ikonen-Chardonnays aus dem Alpenraum wie der Chardonnay Löwengang von Alois Lageder oder der Chardonnay Selvenen von Thomas Donatsch vor 30 Jahren noch jenen opulenten Schmelz und jene Toast-Würze, die man gemeinhin den Crus aus Kalifornien zuordnete, so sind die Alpen-Chardonnays in den letzten 15 Jahren kontinuierlich geradliniger, animierender, zupackender und frischer geworden. Und schlagen so der Klimaerwärmung auf raffinierte Weise ein Schnippchen.

Tja, der Chardonnay spielt Katz und Maus mit den Gesetzmässigkeiten im alpinen Weinbau. Selbst die Regel «Je höher die Lage, umso frischer der Wein» wird ausser Kraft gesetzt. Der Südtiroler Spitzenwinzer Christof Tiefenbrunner bringt zwei ikonische Weissweine in die Flaschen. Sein Müller-Thurgau Feldmarschall von Fenner reift in einer der höchsten Lagen des Südtirols, rund tausend Meter über Meer. Sein nicht weniger saftiger und animierender Top-Chardonnay dagegen kommt aus der Vigna Au unten im Tal in Entiklar. Es handelt sich um eines der wärmsten Terroirs in Südtirol, genauer gesagt um eine nach Süden ausgerichtete Hanglage, lediglich 300 Meter über Meer. Die gleiche Lage bringt auch einen hochkarätigen Cabernet Sauvignon hervor, der allerdings ganze zwei Monate später gelesen wird als der Chardonnay. Dieser reift in einer 60-jährigen Pergel-Anlage, die 1990 von Vernatsch auf Chardonnay umgepfropft worden ist. Dass an diesem heissen Ort ein so beschwingter Chardonnay reift, führt Christof Tiefenbrunner auf den hohen aktiven Kalkgehalt im Moränenboden mit Sand und Schotter zurück, sowie auf die verwendete Unterlags­rebe 41B, die sehr tiefe Wurzeln bildet, was eine gleichmässige Wasserversorgung ermögliche. Bei extremer Trockenheit kommt die Tropfenbewässerung zum Einsatz, und die Ernte findet früh statt, in warmen Jahren schon in der vorletzten Woche im August. Andere Südtiroler Flaggschiff-Chardonnays wie etwa der Löwengang aus dem Hause Lageder stammen ebenfalls aus warmen Lagen im Unterland. Auch dieser Wein hat trotz Klimaerwärmung in den letzten Jahren deutlich an Lebendigkeit zugelegt, eine Folge des biodynamischen Anbaus und einer ebenfalls früher angesetzten Ernte. Demgegenüber reift der Troy, der Spitzen-Chardonnay der Kellerei Tramin wesentlich höher, nämlich 550 Meter über Meer in Söll. Doch degustatorisch sind diese Höhenunterschiede kaum auszumachen. Der Chardonnay im Alpenraum entzieht sich hartnäckig den lehrbuchmässigen Einordnungen. Auch in Graubünden. Die rund 20 Top-Chardonnays, die hier heute produziert werden, stammen sowohl von schieferhaltigen Hanglagen an den Talflanken als auch von den schwereren, vom Rheingeschiebe geprägten Terroirs unterhalb der Dörfer. «Es gibt beim Chardonnay keine allgemeingültigen Regeln. Unser Chardonnay stammt aus verschiedenen Lagen und wird mit einem Mix aus Reinzuchthefen vergoren. Andere Winzerkollegen setzen auf Einzellagen und vergären ihre Weine spontan. Beide Konzepte können erstklassige Weine ergeben. Es ist bei dieser Sorte mehr als bei anderen eine Summe von minuziös aufeinander abgestimmten Details, die zum gewünschten Resultat führt», sagt ­Daniel Gantenbein. In einem Punkt sind sich aber die Südtiroler und Graubündner Winzer einig: Wer einen beschwingten, animierenden Chardonnay in die Flasche bringen will, muss die Trauben im exakt richtigen Zeitfenster, sprich im allersten Teil der physiologischen Reife ernten, also eher bei 92 Grad Öchsle als bei 100.

Ins Südtirol ist der Chardonnay wahrscheinlich inkognito aus dem Süden eingeschleust worden und galt als gelber Weissburgunder lange Zeit als eine Varietät dieser anderen weissen Burgundersorte. Als der Chardonnay 1984 schliesslich den DOC-Status bekam, wurde eine Anbaufläche von 154 Hektar ausgewiesen, die in den folgenden Jahren stetig zunahm. Heute wird Chardonnay in Südtirol auf 630 Hektar angebaut, Tendenz weiter steigend. Rund 300 Hektar davon liegen in tiefen und deshalb sehr warmen Lagen im Unterland. In Graubünden verlief die Geschichte der Sorte dagegen abenteuerlicher. Als ­Thomas ­Donatsch im Jahr 1975 erste Chardonnay-Stöcke pflanzte, war der Anbau der Sorte noch verboten. Donatsch bekam denn auch richtig Ärger. «Man kann es sich heute gar nicht mehr vorstellen, dass man noch vor 50 Jahren fast kriminalisiert worden ist, wenn man was Neues ausprobieren wollte», erinnert er sich. Da war es schon eine besondere Ironie des Schicksals, dass schon der erste, eigentlich «verbotene» Malanser Chardonnay von Donatsch bei einer Probe auf Château Pichon Longueville im Jahr 1978 so überzeugte, dass danach Winzerlegenden wie Angelo Gaja, Miguel Torres und Robert Mondavi nach Malans reisten, um zu sehen, wie hier jemand einen Cru im Stile eines Meursault in die Flasche bringen konnte. Heute gilt Graubünden als der Hotspot schlechthin für hochkarätige Chardonnays in der Schweiz. Während beim Pinot Noir auch andere Schweizer Regionen zunehmend Erstklassiges leisten, sind die Herrschäftler Chardonnays eine Klasse für sich.

Neben Gantenbein und Donatsch gelten auch Wegelin, Fromm, von Tscharner, Thomas Studach, Adank, Davaz, Christian und Francisca Obrecht, Christian Herrmann, ­Roman Hermann und andere als verlässliche Garanten für Top-Chardonnays. Trotz dieses Aufschwungs ist die Chardonnay-Anbaufläche in Graubünden auf fast unerklärliche Weise höchst bescheiden geblieben. Von der schweizweiten Anbaufläche von 407 Hektar – somit wird in der ganzen Schweiz deutlich weniger Chardonnay angebaut als in Südtirol mit 630 Hektar – befinden sich nur gerade deren 27 Hektar in Graubünden. Immerhin: Die Tendenz ist leicht steigend. Und obwohl der ikonenhafte Chardonnay Selvenen von Thomas Donatsch schon länger nicht mehr existiert beziehungsweise von seinem Sohn Martin durch den Chardonnay Unique ersetzt worden ist, gilt diese Lage zwischen Malans und Jenins, rund 600 Meter über Meer gelegen, noch immer als Grand Cru für Chardonnays. Sowohl die Familie Donatsch als auch die Gantenbeins und Fromms verfügen hier über entsprechende Rebberge.

Deutschland / Österreich: Eine Frage des Bodens

Eine Tour d’Horizon durch die deutsche Chardonnay-Szene macht eines sehr schnell klar: Mit den alpinen Dimensionen wie in der Schweiz oder Südtirol kann in Deutschland kein Winzer dienen, dafür ähneln die Rebflächen in verblüffender Weise jenen des grossen Chardonnay-Vorbilds Burgund. Sanft geschwungene Hügel, die Ausrichtung gen Südwest oder Südost und am allerwichtigsten: viel Kalk im Boden. Das dürften auch die Zisterzienser-Mönche aus dem Burgund erkannt haben, als sie im 14. Jahrhundert begannen in der heutigen Einzellage Malterdinger Bienenberg ihre heimatlichen Reben anzubauen. Auf den verwitterten Muschelkalkböden, durchsetzt mit Eisenablagerungen, stehen heute neben Pinot-Noir- auch Chardonnay-Rebstöcke. Die im Sonnenlicht gelb-rötlich schimmernden Böden sind recht felsig, so sind die Reben gezwungen, tief zu wurzeln. Die Weinberge sind zum Teil terrassiert, bis zu 40 Prozent Hangneigung und die Ausrichtung nach Süden bis Südwesten sind weitere Merkmale. Es wundert angesichts der Geschichte und dieser Eckdaten wenig, dass Chardonnay hier auch als VDP.GG Rebsorte zugelassen ist. Einer der bekanntesten und besten Chardonnays Deutschlands entsteht hier: Der Malterdinger Bienenberg VDP.GG vom Weingut Bernhard Huber gilt vielen als Benchmark für die Rebsorte hierzulande. Wenig dahinter rangiert der Chardonnay «Alte Reben», bei dem die Reduktion inzwischen deutlich zurückgenommen wurde. Dennoch ist er immer noch rauchig, kühl, mit deutlicher Zitrusnote. Er braucht viel Luft, erst dann zeigt er den typischen Schmelz am Gaumen. Winzer Julian Huber hat einige Zeit gebraucht, um diesen individuellen Stil herauszuarbeiten. Seine badischen Kollegen von den Weingütern Franz ­Keller, Fritz Waßmer, Michel oder Schätzle sind ihm qualitativ dicht auf den Fersen.

Der Tatsache, dass sich in Deutschland einiges tut in Sachen Chardonnay, haben auch die Verkoster des «VINUM Weinguide» Rechnung getragen. Seit der Ausgabe 2024 gibt es eine eigene Kategorie für die besten Chardonnays Deutschlands, neben Baden sind die Pfalz und Franken besonders häufig in der Top-Ten-Liste vertreten. In der Pfalz gilt Hansjörg Rebholz als Grossmeister der Rebsorte, er hat schon 1988, also bevor der Chardonnay 1994 offiziell vom Bundessortenamt in Deutschland zugelassen wurde, die Rebsorte im Versuchsanbau angepflanzt. Sein Chardonnay «R» landet bei den Kollegen des «Weinguide» regelmässig auf den vorderen Plätzen. Mit den Weingütern von Winning und Metzger stehen die nächsten Pfälzer Spitzenbetriebe parat. Daher wird immer wieder darüber nachgedacht, ob man Chardonnay nicht als weitere VDP.GG Rebsorte zulassen sollte. Auch gleich nebenan, in Rheinhessen, ist man dem Chardonnay auf der Spur. Moment mal – Chardonnay? In Rheinhessen? Die kurze Recherche fördert Erstaunliches zutage, Chardonnay hat eine echte Geschichte auch im grössten deutschen Anbaugebiet. Anfang der 1990er Jahre wurde der Versuchsanbau der damals neuen Rebsorte auch hier erlaubt, weitsichtige Winzer wie Wittmann oder Kühling-Gillot pflanzten damals ihre ersten Rebstöcke. Heute im besten Rebenalter liefern sie verlässlich hochklassige Weine. Immerhin 955 Hektar sind mit Chardonnay in Rheinhessen bestockt, wohl dem, der weitsichtige Vorfahren hatte und heute auf ältere Rebanlagen zurückgreifen kann.

Zu guter Letzt scheint sich in Franken ein wirklicher Chardonnay Hotspot zu entwickeln. Vor allem Insidern bekannt sein dürfte Richard Östreicher. Seine Weine erschliessen sich nicht auf den ersten Schluck, man muss ihnen und sich selbst Zeit geben. Der Stil orientiert sich kompromisslos an den schon bekannten Vorbildern aus dem Burgund, das geht so weit, dass Östreichers Rebmaterial zum Gutteil von dort stammt. Der Chardonnay Rossbach ist wahrscheinlich die kompromissloseste Interpretation hierzulande: ausschliessliche Verwendung von Holz, fehlende Technik im Keller, lange Reife im kleinen Holzfass. Im Ergebnis sind Östreichers Weine Unikate, schlank, fast zart und dennoch eindringlich und anhaltend. Auch andere fränkische Winzer haben die Qualität der Muschelkalkböden am Main erkannt, die Chardonnays von Sebastian Fürst oder dem Zehnthof Luckert gehören zu festen Konstanten, die Weingüter Rudolf May, Rainer Sauer oder Max Müller I haben vor wenigen Jahren begonnen, Chardonnay zu pflanzen. Die Entwicklung beginnt also gerade erst.

Etwas anders sieht es in Österreich aus. Genauer in der Steiermark, hier gehört Chardonnay seit gefühlten Ewigkeiten dazu. Auch wenn sich nicht mit Kalk im Boden glänzen lässt – dafür mit Schiefer und Geschichte. Chardonnay hat hier seit über 200 Jahren eine Heimat. Bis heute wird die Rebsorte Morillon genannt, der Name taucht auch in alten Büchern aus dem Burgund auf, in denen sie als Morillon Blanc bezeichnet wird. Die Winzer sehen in ihrem Morillon einen vinologischen Schatz, der in der Steiermark derzeit trotzdem ein wenig im Schatten des Sauvignons steht. Aber das scheint nur eine Frage der Zeit zu sein. Das Thema Morillon wird im Export immer relevanter, Gerhard Wohlmuth konnte seinen Exportanteil innerhalb kurzer Zeit von 20 auf 45 Prozent steigern. Nicht zuletzt, weil vergleichbare Weine aus dem Burgund immer teurer werden und damit für viele Weinfreunde die akzeptierbare Preisgrenze deutlich überschritten haben. Zudem hat die Steiermark einen genetischen Vorteil gegenüber anderen Regionen Österreichs. Hier stehen zum Teil noch uralte Chardonnay-Klone, die von sich aus nicht mehr als 4000 bis 5000 Kilo Ertrag pro Hektar liefern. Auch aromatisch sind sie kein Vergleich zu den Turbo­klonen aus den 70er/80er Jahren, die viele Winzer aus heutiger Sicht als Katastrophe bezeichnen.

Natürlich wächst Chardonnay nicht nur in der Steiermark, im Burgenland holt Andi ­Kollwentz seinen Chardonnay Gloria aus dem höchstgelegenen Weingarten des Leithagebirges. Karger Muschelkalkboden und der angrenzende Wald sorgen für ausgeprägte Mineralität und Finesse in diesem Wein. Und auch in Niederösterreich zeigen einige Winzer, was sich aus der grundsätzlich internationalen Rebsorte machen lässt. Immer vorausgesetzt, Boden und Winzer spielen mit.

Dass sich gerade abzeichnende österreichische Schaumweinwunder lässt sich ebenfalls ohne Chardonnay kaum denken. Wer immer die Chance hat, eine der Flaschen zu ergattern: Der Bründlmayer Blanc de Blancs Extra Brut Langenlois Grosse Reserve ist aus jedem Jahrgang mehr als einen Versuch wert. Gerhard Markowitsch hat mit seinem Chardonnay 2021 aus der Ried Schüttenberg einen der grössten österreichischen Vertreter dieser Rebsorte geschaffen. Hier sorgt die höhere Kalkauflage des Bodens in Verbindung mit einer Waldumrandung für beste Wachstumsbedingungen. Chardonnay ist und bleibt halt eine Frage der Herkunft. Wo auch immer sie geographisch liegen mag.

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