Mozart im Glas

Profipanel: Süsse Klassiker

Text: Thomas Vaterlaus, Fotos: Linda Pollari

Wie kann es nur sein, dass diese Weine nicht mehr in Mode sind? Unter den aufgespriteten europäischen Klassikern mit unterschiedlichstem Restzuckergehalt gibt es Essenzen, die jeden Superlativ verdienen. Das ist das Fazit unseres VINUM-Profipanels mit Marsala, Madeira, Port und Co. Und natürlich sind es die ultimativen Weine für die winterlichen Festtage, denn sie zaubern barocke Sinnlichkeit in Nase und Gaumen.

Es sind Weine für besondere Momente. Für feierliche Momente. Ja, selbst für Momente, die in die Weltgeschichte eingegangen sind. Als die Gründerväter der Vereinigten Staaten am 4. Juli 1776 die Unabhängigkeitserklärung unterschrieben hatten, begossen sie das historische Ereignis, das die Weltgeschichte bis heute prägt, mit einem Gläschen Madeira. Und als 13 Jahre später George Washington als erster Präsident der USA vereidigt wurde, stand erneut eine Flasche Madeira bereit. Auf der anderen Seite haben die grossen, mit Alkohol verstärkten, Klassiker wie Port, Madeira, Marsala und Co, die während ihrer oft jahre- oder jahrzehntelangen Reifeprozesse kontinuierlich an Komplexität und Eleganz gewinnen, auch die magische Kraft, auswegslose Situationen ein klein wenig erträglicher zu machen. Als der legendäre Passagierdampfer Titanic in der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912 mit einem Eisberg kollidierte, war der Butler von Sir Perceval de St. Yvore gerade dabei, den schon dekantierten Portwein in ein Kristallglas zu giessen. Trotz des heftigen Rumplers durch den Zusammenstoss vergoss er dabei nur wenige Tropfen. Als die Tragödie auf dem Schiff dann in den folgenden zwei Stunden ihren Lauf nahm, erlaubte Sir Perceval seinem Bediensteten, sich zurückzuziehen. Er selber jedoch lehnte es ab, gerettet zu werden. «Einen Vintage des Jahrgangs 1904 aus dem Hause Phayre & Bradley lässt man nicht im Stich», lautete seine Begründung und ging mit der Titanic unter.

 

Nach Brasilien und zurück

Der eigenständige Charakter der aufgespriteten Weine beruht auf dem speziellen Vinifikationsprozess, bei dem die alkoholische Gärung durch die Beigabe von hochprozentigem Weinbrand (über 75 Prozent) gestoppt und der Wein gleichzeitig mikrobiologisch stabilisiert wird. Das Resultat sind Weine mit vergleichsweise viel Restzucker bei gleichzeitig hohem Alkoholgehalt zwischen 15 und 22 Volumenprozent. Im Idealfall erhöht der Weinbrand die Komplexität und vor allem das Reifepotenzial der Gewächse und trägt zu ihrer Einzigartikeit bei. In weniger gelungenen Fällen, in denen der Alkohol nicht gut eingebunden ist oder qualitativ minderwertiger Weinbrand verwendet worden ist, machen sich störende Tresternoten bemerkbar. Das Verfahren zum Aufspriten oder etwas nobler ausgedrückt zum «Verbessern » oder «Verstärken» der Weine wurde ab dem 16. Jahrhundert vor allem angewendet, um Weinen aus entlegenen Anbaugebieten wie dem Dourotal oder Madeira für den langen Transport zum Hauptmarkt England die nötige Haltbarkeit zu verleihen. Schon früh wurde dabei als positiver Nebeneffekt festgestellt, dass die Weine an Komplexität und Eleganz gewinnen, je mehr Zeit die Fässer auf hoher See verbringen. Deshalb schickten die Madeira-Produzenten ihre Weine gerne nach Brasilien und zurück und verkauften diese Elixiere dann unter dem Label «Torna viagem». Heute wenden die Produzenten andere Techniken an, um ihre Weine über Jahre oder Jahrzehnte hinweg zur perfekten Reife zu bringen. So hat der heute 59-jährige Ricardo Diogo Freitas von Vinhos Barbeito den altehrwürdigen Madeiras neues Leben eingehaucht. Etwa mit einem Kellerneubau, ausgestattet mit Zink-Dach und Luftschlitzen, mit denen sich Temperatur und Luftfeuchtigkeit so steuern lassen, dass seine Madeiras bestmöglich reifen. Zudem war er der erste Produzent in Madeira, der Single-Cask-Selektionen auf den Markt gebracht hat. In der Portwein-Metropole Vila Nova de Gaia hat David Guimaraes vom Haus Taylor’s & Fonseca gerade seine 34. Ernte eingekellert. Im Gegensatz zu anderen Protagonisten ist er in all diesen Jahren nie in das Business mit den Douro- Tafelweinen eingestiegen, sondern hat stets dem Portwein die Treue gehalten. Und das mit klaren Prinzipien. So lehnt er den Trend zu mehr Gefälligkeit durch höheren Restzuckergehalt strikt ab. «90 Gramm Restzucker sind für einen hochwertigen Port ideal, die 120 Gramm, die inzwischen einige Mitbewerber anstreben, aus meiner Sicht eindeutig zu viel.» Die grösste Qualitätsverbesserung der letzten 20 Jahre beim Portwein sieht Guimaraes beim verwendeten Weinbrand. «Mein Vater hatte keine Wahl, er musste einen standardisierten Weinbrand beim Staat beziehen. Heute, wo wir freier sind, können wir weitaus bessere Qualitäten von Weinbrand einsetzen. Und das ist entscheidend, denn 20 Prozent vom Inhalt einer Flasche Portwein bestehen nun mal aus diesem hochprozentigen Destillat.»

Der Lieblingswein des Sultans

Der älteste Süssweinklassiker kommt aber nicht aus Portugal, Spanien, Italien oder Frankreich, sondern aus dem östlichen Mittelmeerraum. Der Commandaria geht auf die Zeit der Kreuzzüge zurück und wird nördlich der zypriotischen Hafenstadt Limmasol seit rund tausend Jahren anund ausgebaut. Nachdem bei der Heirat des englischen Königs Richard Löwenherz mit Berengaria von Navarra in Limmasol im Jahre 1191 ebendieser Commandaria ausgeschenkt wurde, avancierte er zum Trendwein in den europäischen Adelshäusern. Der Name des Weins geht auf die Burg Kolossi bei Limmasol zurück, welche zuerst das Hauptquartier der Tempelritter und danach der Johanniter war, welche von dort aus grosse Mengen Commandaria nach Europa verschifften. Allerdings ist nicht klar, ob die Commandarias aus jener Zeit tatsächlich aufgespritet oder aber natürliche Süssweine aus getrockneten Trauben waren. Der Ruf dieses magischen Weins soll übrigens Selim II, den Sultan des Osmanischen Reiches, dazu verführt haben, im Jahr 1570 die Insel Zypern zu erobern. Der weinliebende moslemische Herrscher wurde übrigens «Sarhos Selim», auf Deutsch «Selim der Trunkenbold» genannt. Seinem Ruf gerecht werdend, soll er verschiedenen Quellen zufolge gestorben sein, als er nach einer exzessiven Weinprobe in seinem Badezimmer ausrutschte... Der Commandaria hat hingegen bis heute überlebt, ja erlebt inzwischen eine Renaissance. In unserem Profipanel klassierte sich der Commandaria Centurion Vintage 2000 aus dem Hause ETKO auf dem hervorragenden siebten Platz.

Fragt sich, zu welchen Gelegenheiten diese verstärkten Weine am besten genossen werden. Ein Tipp voraus: Es lohnt sich, diese Weine nicht bei Zimmertemperatur, sondern leicht gekühlt bei 10 bis 15 Grad Celsius zu servieren. Die fast trockenen Marsala-Vergine-Riserva- und Madeira-Selektionen aus der Sorte Sercial sind universelle Speisebegleiter und harmonieren sogar zu Fisch, aber auch zu klassischen Fleischgerichten und ganz besonders zu asiatischen Speisen. Die süsseren und konzentrierteren Selektionen, wie Madeira Malvasia Vintage, Marsala Semisecco Superiore oder Tawny Port mit 20 Years oder mehr, sind ideale Begleiter zu Käse oder Desserts. Und vor allem die älteren Raritäten mit verschwenderischer Fülle sind perfekte Meditationsweine, am besten vor einem knisternden Kaminfeuer. Weine fürs Fest sind es sowieso: Gibt es etwas Schöneres, als ein Weihnachtsessen mit einem Glas Champagner zu beginnen und es dann mit einem speziellen Madeira, Marsala oder Port ausklingen zu lassen?


«Marsala, Madeira, Sherry, Port, Banyuls und Co. sind Nischenprodukte und vielen kaum bekannt. Schade, denn mit ihnen betritt man ein faszinierendes Weinuniversum. Die besten begeistern durch unglaubliche Komplexität, facettenreiche Aromatik und eine Tiefgründigkeit, in der man sich glatt verliert. Weine, die etwas aus der Zeit gefallen sind – und nicht zuletzt deshalb eine Wiederentdeckung lohnen!»

Eva Zwahlen Weinjournalistin in Oberrieden (ZH)

 

«Viele dieser Weine bieten ein Gaumenerlebnis, das schon für sich alleine so komplex und intensiv ist, dass es in der Kombination mit Speisen kaum mehr zu steigern ist. Man geniesst sie also am besten für sich alleine. Aus heutiger Sicht ‹old fashioned› wirkend, verdienen sie eine hoffentlich wieder wachsende Anhängerschaft. Man verpasst etwas, wenn man sich nicht mit ihnen auseinandersetzt.»

Ivan Barbic MW Weinhändler und Consultant in Wädenswil (ZH)

 

«Die hohe Qualität und die subtilen Unterschiede von Region zu Region waren für mich überraschend. Die hochkonzentrierten, schon fast dickflüssigen Pedro-Ximenez-Essenzen aus Andalusien sind in sich stimmige Weine für besondere Momente. Sie erinnern mich an 30- oder 40-jährige Aceto Balsamico Tradizionale, von denen es auch nur ein paar wenige Tropfen braucht, um sich in ihnen zu verlieren.»

Beat Caduff Gastgeber und Weinhändler in Zürich

«Diese hochkarätigen Spezialitäten eignen sich bestens für den glasweisen Ausschank in der Gastronomie. Und es gibt kaum eine spannendere Herausforderung als Marsala, Madeira, Port oder süsse Sherrys. Besonders begeistert haben mich die fast trockenen Gewächse aus Marsala oder Madeira. Sie harmonieren selbst zu Fisch und asiatischen Gerichten.»

Hans Babits Académie du Vin in Zürich

«Gespritete Weine garantieren bleibende Weinerlebnisse. Und trotzdem polarisieren sie: Entscheidet man sich beim Essen für Port, Madeira oder andere süsse Klassiker, gibt es keinen Weg mehr zurück zum konventionellen Wein. Gespritete Weine sind bei mir zuhause klassische Kellerhüter. Die Verkostung hat mir gezeigt, dass ich öfters Gelegenheiten kreieren sollte, um solche Schätze zu entkorken.»

Stefan Jost Weinhändler und Educator in Opfikon (ZH)

«Aufgespritete Süssweine haben es zu Unrecht schwer im Markt, denn der zugegebene Weinbrand fördert in fast magischer Weise Komplexität und Lagerfähigkeit dieser Gewächse – eine Welt voller faszinierender Nuancen, Anekdoten und Geschichten. Dass Traditionshäuser noch immer ausgewählte Essenzen über 20, 30, 50 und mehr Jahre in Fässern reifen lassen, ist ein wunderschöner Anachronismus.»

Lidwina Weh Sommelière in Wohlen (AG)

Die Jury

Von links nach rechts

Thomas Hari (vorne sitzend)
Weinhändler, Kaffeeröster und Educator, Adelboden
Sein Favorit: Cream Muy Viejo V.O.S. von Bodegas Tradición (Jerez)

Stefan Jost
Weinhändler, Consultant und Educator, Opfikon
Sein Favorit: 1992 Malvazia Sweet Madeira von D’Olivieras (Madeira)

Hans Georg Babits
Consultant und Educator (Académie du Vin), Zürich
Sein Favorit: Golden Age 50 Years Old Tawny Port von Taylor’s (Port)

Eva Zwahlen
Weinjournalistin, Oberrieden
Ihr Favorit: Cream Muy Viejo V.O.S. von Bodegas Tradición (Jerez)

Beat Caduff
Consultant und Gastgeber, Zürich
Sein Favorit: PX Soleraa 1927 von Bodegas Alvear (Montilles-Moriles)

Patric Lutz
Weinhändler, Château-d’Oex
Sein Favorit: Vergine Riserva Vintage 2004 von Cantine Florio (Marsala)

Thomas Vaterlaus
Chefredaktor VINUM, Zürich
Sein Favorit: 20 Years Old Tawny Port von Graham’s (Port)

Lidwina Weh
Sommelière, Wohlen
Ihr Favorit: 20 Years Old Tinta Negra Ribeiro Real Medium Sweet von Barbeito (Madeira)

Miguel Zamorano
Redaktion VINUM, Zürich
Sein Favorit: PX Muy Viejo V.O.S von Bodegas Tradición (Jerez)

Ivan Barbic
MW, Weinhändler und Consultant, Wädenswil
Sein Favorit: Golden Age 50 Years Old Tawny Port von Taylor’s (Port)

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