Five Finger Lakes
Big Apple an den Finger Lakes
Text und Fotos: Miguel Zamorano
Auf halbem Weg zwischen Niagarafällen und Manhattan stossen Reisende auf ein eher unbekanntes Anbaugebiet: die Finger Lakes. Die Cool-Climate-Region bietet ideale Bedingungen für saftigen Riesling und schlanken Chardonnay. Und eine rote Sorte von der Loire, die hier als nächster Star gehandelt wird. Mit ihr möchten die Winzer ein weiteres Kapitel erfolgreicher US-Weingeschichte schreiben.
Auf etwa halber Strecke zwischen Manhattan und den Niagarafällen liegen elf Seen, von Osten nach Westen aufgereiht, länglich ausgestreckt von Norden nach Süden wie Finger aussehend. Die Seenregion Finger Lakes entstand, als die grossen Eisgletscher vor gut 22 000 Jahren ihren Rückzug gen Norden antraten. Die an Kanada angrenzenden Seen Lake Ontario und Lake Erie prägen die Region. Wer sich auf einer US-Reise hierher verirrt, der möchte zu den Niagarafällen mit ihrem rauschenden Naturspektakel. Nur wenige dürften hier Halt machen, wo Pick-ups das Strassenbild beherrschen, totes Wild auf dem Seitenstreifen in der Hitze der Sonne verwest und mancher Hausbesitzer seine Vorgärten mit «Trump 2024»-Plakaten schmückt.
Man trifft hier – im Nordwesten des US-Bundesstaats New York – auf eine unspektakuläre Umgebung: Eine Seenlandschaft, wie man sie vielleicht aus Finnland kennt, hier umgeben von sanften Hügeln, umrahmt von dichten grünen Wäldern. Mancherorts strecken sich an den Ufern Rebzeilen den Hang hoch. Auf dem Wasser üben Touristen wassersportartige Akrobatik. Auf den ersten Blick ist alles Understatement, in einem Land, das für sein Understatement eher nicht bekannt ist.
Und doch: Hier liegt das drittwichtigste Weinanbaugebiet der USA. Im Schatten von Kalifornien und Washington haben sich die Finger Lakes als Cold-Climate-Region zu einem Geheimtipp der US-Weinszene entwickelt.
Einst von oben herab behandelt
Einer der Treiber dieser Entwicklung ist Morten Hallgren, der jetzt in der Verkostungsscheune seiner Ravines Wine Cellars steht. Hallgren sagt: «Chardonnay aus dieser Region wurde einmal von oben herab behandelt.» Zu viel Restsüsse, zu wenig Alkohol, zu wenig Holz, so klingt der Vorwurf von manchen US-amerikanischen Weinliebhabern, wenn man sie nach der Region fragt. Tatsächlich: Hallgren legt seinen Chardonnay in 20-Hektoliter-Fässer aus französischer Eiche. Der behutsame Holzeinsatz spielt dem Produzenten jedoch in die Hände. Fragt doch der Zeitgeist nach mehr Frucht und nach weniger Holz. Und das mit der Restsüsse hat sich seit knapp 20 Jahren gelegt. Etwa beim Riesling. Mit seinen trockenen Rieslingen, insbesondere jenem aus dem Argetsinger Vineyard, zählt Hallgren gemeinsam mit vielen der hiesigen Produzenten zu den besten seines Faches in den USA.
Dass man mit moderaten Alkoholgehalten grossartige, wirklich sagenhafte Weine machen kann, das hatte Morten Hallgren bei Bruno Prats im Praktikum gelernt, auf Cos d’Estournel in Saint-Estèphe.
Hallgren fährt sich kurz durch die Haare. Der Eigner von Ravines Wine Cellars lernte auf dem alten Kontinent, nach einem Besuch der École Nationale Supérieure d’Agronomie in Montpellier (heute Institut Agro Montpellier). Seine dänische Familie hatte sich mit der Domaine de Castel Roubine auf das Abenteuer Wein in der Provence eingelassen. «Das hatte alles Züge eines Romans von Peter Mayle», sagt Hallgren. Bei der Familie endete diese Geschichte nicht gut. Hallgren sieht es trotzdem positiv: «Ich habe aus den Fehlern meiner Eltern gelernt, die sie in der Provence machten. Ich lernte, nicht zu schnell zu wachsen, sondern organisch, und mich nicht zu übernehmen.» In die USA – hier hatte Hallgren zunächst in Astrophysik promoviert – kehrte er zurück, um das Gelernte anzuwenden. Nach Stationen in Texas und North Carolina landete Hallgren 1999 bei Dr. Konstantin Frank, am Keuka Lake, wo er bis 2004 als Head Winemaker tätig war.
«Um hier guten Wein zu machen, benötigst du eine ordentliche Portion guter Nerven.»
Morten Hallgren, Ravines Wine Cellars
Am linken Ufer des Seneca Lake hat Ravines Wine Cellars seinen Sitz, wenige Kilometer südlich der Stadt Geneva. «Um hier guten Wein zu machen, benötigst eine ordentliche Portion guter Nerven», sagt Morten Hallgren. «Meine Weinmacher-Erfahrung hat mich gelehrt, dass ich mich an die Region anzupassen habe und nicht meine Ideen 1:1 durchdrücken kann.» Schliesslich ginge es darum, an den Finger Lakes das Thema Reife und Aromen und dabei stets die Säure zu berücksichtigen, die in der hiesigen Vitis-vinifera-Frucht vorkommt. Viele Winzer reagieren auf den Krankheitsdruck, indem sie ihr Schaumwein-Programm hochfahren und den Pinot früher lesen. Einige Häuser in der Region wollten sich die Säure zunutze machen, indem sie hier französischen Champagnern nachzueifern versuchten.
Der Pionier der Vitis vinifera
Die Historie der Vitis-vinifera-Traube in den USA ist relativ jung. Jene Sorten werden in der Alten Welt seit jeher für Qualitätswein verwendet, sie konnten sich wegen der Reblaus in Amerika nur in Kalifornien durchsetzen. Die ersten Weinmacher an den Finger Lakes verwendeten daher Hybrid- oder Labrusca-Sorten, die von Natur aus weniger Zucker und Säure mitbrachten. Ihnen wurde – schon vor der Prohibition (1920–1933) – Säure und kalifornischer Fasswein zugesetzt, entsprechend süss und leicht waren die Weine.
Schliesslich sollten auch die Vitis-vinifera-Sorten Einzug halten. Als Pionier dieses Weges gilt Dr. Konstantin Frank. Der in Odessa geborene Frank hatte bereits in seiner Heimatstadt über Vitis-vinifera-Sorten in kalten Regionen geforscht. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte der Wolgadeutsche die Theorie in die Praxis um – an den Finger Lakes, ab den 1960er Jahren. Gegen anfängliche Widerstände, wie es in dem Buch «Finger Lakes Wine and the legacy of Dr. Konstantin Frank» des US-Journalisten Tom Russ nachzulesen ist.
Heute empfängt Konstantins Enkel Frederick an der Westseite des Keuka Lake, zehn Minuten nördlich von Hammondsport. Der Geisenheim-Absolvent Frederick erzählt mit Ruhe und ohne Aufregung, aber mit Stolz von seinem Familienbetrieb, den er bald an seine Tochter Meaghan Frank übergeben wird. «In der Region ist kein Betrieb länger in Familienhand als unserer», erzählt Frederick. Er erklärt dann, wie sein Grossvater sich mit der Kälte im Winter bei Temperaturen von bis zu –20 Grad Celsius anstellte. «Die Veredlungsstellen wurden im Herbst mit Erde bedeckt, und so wurde keine Rebe wegen Kälte verloren.»
Dieser Schritt gilt als Durchbruch für Dr. Frank, den in der Region bei seiner Ankunft niemand ernst nimmt. 1956 gründet Dr. Frank das Weingut; die Wegmarken setzen sich fort: von Pinot Noir («Seit 1958 gepflanzt, die älteste Rebe dieser Sorte in Amerika») über Grünen Veltliner («Wir haben die in die Region gebracht») bis zu trockenem Riesling, der erst zu Beginn der 2000er Jahre an den Finger Lakes in dieser Stilistik gekeltert wurde. Bei so viel Pioniergeist wundert es nicht, dass Frederick Frank einen Rkatsiteli ausschenkt, der in Qvervis ausgebaut wurde.
Dieses breite Weinangebot – Franks Ab-Hof-Weinliste umfasst gut zehn unterschiedliche Rebsorten – ist die Antwort auf den breiten Geschmack vieler Weinliebhaber. Viele Betriebe an den Finger Lakes vertreiben einen wichtigen Anteil ihrer Weine direkt an die Konsumenten, die aus dem Umland oder vom anliegenden Bundesstaat Pennsylvania kommen.
Freie Wahl der Mittel als Motor
Dieser Ansatz ist aber auch ein Ausdruck von einer Freiheit in der Weinerzeugung, die so beispiellos und vielleicht, ja, sehr US-amerikanisch ist. Noch einmal Morten Hallgren: «Die AVA ist zunächst nur eine geographische Einheit und bildet keine Eingrenzung bei der Wahl der Trauben oder der Mittel.» Wie man den Wein zubereitet, ist dem Gesetzgeber – um mal ein sehr deutsches Wort zu verwenden – egal. Hallgren: «Ich könnte im Gärprozess nach Lust und Laune auch Zucker oder Wasser beimischen.»
Es ist unwahrscheinlich, dass ein Produzent wie Hallgren dies tut. Schliesslich wurden in seiner Zeit als Head Winemaker bei Dr. Frank die ersten trockenen Rieslinge der Region gekeltert. Um zu verstehen, was Hallgren meint, trifft man sich am besten mit Josh Vig von Lamoreaux Landing Wine Cellar in Lodi, an der Ostseite des Seneca Lake. Vig – Baseball-Käppi, Birkenstock-Latschen, kurze Hosen – hat in die Eignerfamilie eingeheiratet, die seit 1990 auf 52 Hektar Weintrauben anbaut und keltert. Die besten Parzellen liegen unweit des Sees, knapp drei Kilometer entfernt.
Vig kommt aus dem benachbarten Pennsylvania, wo seine Familie Obst anbaut. Die Methoden der Obstbauern, die zwischen den Finger Lakes und dem Lake Ontario grossflächig Apfelbäume kultivieren, verwendet auch Lamoreaux. Die grossen Kühlhäuser frieren Äpfel zur Konservierung ein – gemeinsam mit den Trauben für den Lamoreaux Riesling Ice.
Vig lächelt jetzt unter seinem Baseball-Käppi diebisch, wie ein kleines Kind, dass beim Naschen erwischt wurde. Er sagt: «Den Konsumenten ist das egal, sie wollen nur guten Wein.» Orthodoxe Romantiker dürften jetzt hart schlucken – und ins Stottern geraten.
Eine Karriere, die in Manhattan beginnt
Etwas südlicher von Lodi, in Burdett. Hier bearbeitet schon die nächste Generation den Acker. Mit Lebensläufen, die man so vermutlich nur in den USA antreffen dürfte. Wie zum Beispiel bei Benjamin Riccardi.
In New York City hat der 38-Jährige seine ersten richtigen Schritte als Weinmacher gemacht. In der City, zwischen Wolkenkratzern und Strassenlärm? «Richtig», erklärt Riccardi, «bei City Winery.» In dieser City Winery – 13 weitere gibt es davon in den USA – ist Riccardi gelandet, nachdem er, der eigentlich ein Gewächs aus der Finger-Lakes-Region ist, die gesamte Weinwelt bereist hatte. Chile, West-Australien, die nördliche Insel Neuseelands, Oregon, Kalifornien, Long Island und dann: New York City, City Winery. Die Gastroeinrichtung befindet sich direkt in Midtown, am Pier 57. Von der West Side schaut man hier auf die Kunstinsel Little Island, im Hintergrund thront das One World Trade Center, auf dem Hudson River tuckern Touristenboote und gleiten Segelschiffe herum. Im Inneren der Einrichtung blickt man durch eine Glaswand direkt in den Weinkeller. Das Feedback der Kundschaft gibt es gleich dazu: Nebenan ist das Restaurant, in dem die im Weinkeller gemachten Weine ausgeschenkt werden. Der junge Riccardi durfte hier Trauben keltern, die von überall aus den USA angeliefert wurden. «Runtergekühlt auf zwei Grad Celsius, im Truck angekarrt», erklärt Riccardi.
Etwas Grosstadt-Flair hat Riccardi nach Burdett am Seneca Lake mitgenommen. Er empfängt die neugierigen Gäste auf seiner überdachten Verkostungsterrasse mit Jazz-Musik, an der Decke des Holz-Pavillons drehen sich zahlreiche Ventilatoren. Den vinophilen Besuchern erklärt Riccardi alles mit grosser Geduld, er führt durch die Karte und schenkt Flaschen aus. Osmote ist eine Ein-Mann-Firma, Riccardi ist Inhaber und Geschäftsführer, Weinmacher und Verkäufer in einem. Erst seit 2014 gibt es den Betrieb, mittlerweile zählt Riccardi damit zu den aufsteigenden Häusern der Region.
«Ich kaufe noch alle meine Trauben selbst ein», erklärt Riccardi – wie viele Betriebe an den Lakes. Vor dem Pavillon liegen zwei Hektar, die er bald bestocken wird, mit der roten Piwi-Sorte Marquette und der weissen Anonella. Dass Riccardi eine Schwäche für die lokalen Sorten hat, das zeigt sich bei seinem Sortiment. Da spielt etwa die Sorte Dechaunac eine Rolle, eine alte amerikanische Hybride, die Riccardi auf Chardonnay-Schalen vergärt. Das Resultat ist ein eigenwilliger Orangewein mit ordentlichem Säurebogen und Druck am Gaumen, der jetzt, bei knapp 30 Grad im Schatten, schnell weggeschlabbert ist.
Auch mit Chardonnay arbeitet Riccardi gerne, und auch bei diesem jungen Winzer wiederholt sich die umsichtige Arbeit mit Holz. Der Chardonnay 2015 vom Seneca Lake zeigt das mit seinem festen Fruchtkern, reifen gelben Steinobst-Anklängen und delikater Reduktion besonders. Sieben Monate baute Riccardi den Wein in 400- und 500-Liter-Eichenfässern aus. Der 2022er Jahrgang ist noch ein wenig unruhig, setzt aber in Ansätzen die delikate Hand Riccardis, die man beim 2015er regelrecht schmeckt, fort.
Mit viel Liebe und Geduld geht Riccardi ans Werk. Die braucht er auch, bei diesem Klima, das sehr feucht sein kann, voll mit Seuchendruck. Um dies zu erklären, holt er etwas aus. «Seit 2019 gibt es praktisch kein normales Klima mehr», sagt Riccardi. «Mal ist es zu heiss, mal regnet es zu viel.» 2021 fiel während der Reifephase an einem Tag ein Meter Wasser auf den Quadratmeter, so berichtet Riccardi. «Wir sind regelrecht abgesoffen.» Auch Josh Vig von Lamoreaux Landing stimmt dem zu: «Volatilität ist das Wort, um das Klima hier am besten zu erklären. Wir sind stets eifrige Lernende dieses Phänomens, über das wir keine Kontrolle haben.» Eine Kostprobe folgt umgehend. Jetzt, Anfang Juli, ist es sehr heiss und schwül, die Temperaturen klettern locker über die 30-Grad-Grenze. Plötzlich fängt es kräftig an zu regnen. Es schüttet so heftig, dass auf den Strassen die Autos mit Warnlicht unterwegs sind und bei halb so schneller Geschwindigkeit über den nassen Asphalt krabbeln.
Heiss auf eine Sorte von der Loire
Zurück zum Anfang. Hallgren kommt nun auf die Rotweine zu sprechen und stellt einen Cabernet Franc, Jahrgang 2021, auf den Tisch. In offenen Bottichen fermentiert und dann in 20-Hektoliter-Fässern ausgebaut. In der Nase zeigt er ein dunkle Waldfrucht, Würze und Pflaumen; am Gaumen ist der Wein hingegen noch verschlossen, festgezurrt, obwohl Tannine und Säure auf Potenzial hindeuten. Davon ist Hallgren völlig überzeugt: «Cabernet Franc ist der nächste Star der Region.» Praktisch jeder der hier besuchten Winzer führt einen Cab Franc im Sortiment. Riccardi keltert seinen in Ganztraubengärung, mit nur 11,5 Volumenprozent. Es sind Weine, die mehr an die Loire erinnern als an die Toskana.
Wohin die Reise geht, das beobachtet man am besten bei Josh Vig von Lamoreaux Landing Wine Cellars. Sein T23 aus dem sehr warmen Jahrgang 2023 ist ein Cabernet Franc, der komplett im Edelstahl ausgebaut wurde. Der Wein zeigt sich nun mit delikater Reife, aber dank frischer Säure und feinem Tanningrip ist er leicht wie eine Feder. «Ich möchte reine Frucht», sagt Josh. «Viele Weinliebhaber haben ja vergessen, wie zum Beispiel Chardonnay tatsächlich schmeckt», erklärt Josh Vig nun, er rückt sein Baseball-Käppi zurecht. «In der Vergangenheit waren sie gewohnt, an dem Eichenfass zu lecken.» Nach diesen Cabernet-Franc-Erfahrungen darf man durchaus gespannt sein, was von den Finger Lakes noch kommen wird.