Brudergespann aus Winzer und Schuster

Mario und Giancarlo Moretti Polegato im Interview

Interview: Christian Eder

Beide Brüder sind ausgebildete Önologen. Der Ältere aber - als Kellermeister vom Vater auserkoren - wandte sich der Mode zu und begann, atmende Schuhe zu schustern. Der Jüngere wurde Winzer und nennt nicht nur eines der bekanntesten Weingüter für Prosecco sein Eigen, sondern produziert auch Schaum-, Rot- und Weissweine im Veneto und Friaul. Wir sprachen mit Mario und Giancarlo Moretti Polegato, der eine Gründer der Schuhmanufaktur Geox, der andere Präsident von Villa Sandi.

Sie sind beide ausgebildete Önologen. Mario, haben Sie es je bereut, diese Profession an den Nagel gehängt zu haben?

Mario Moretti Polegato: Nicht wirklich, ich bin dem Sektor durch unseren Familienbetrieb Villa Sandi bis heute eng verbunden. Mein Bruder und ich sind in die Welt des Weines hineingeboren. Ich bin ein paar Jahre älter als Giancarlo und meine Mamma hat mir immer erzählt, dass mein Vater mir, als ich geboren wurde, ein paar Tropfen Wein auf die Lippen gestrichen und gesagt hat: Du bist mein künftiger Kellermeister. Meine Eltern haben geplant, ich wäre der Erbe der Tradition der Familie im Weinbau. Aber die Zukunft hat immer Überraschungen parat. Mein Lebensweg hat sich geändert, als ich vor mehr als 20 Jahren die Idee hatte, die Gummisohle des Schuhes, der atmet, zu erfinden. Noch heute sind wir bei Geox die Einzigen auf der Welt, die diese Technologie benutzen und ein Unternehmen gegründet haben, das weltweit zu den Führenden bei «brown shoes» gehört. Dafür braucht man natürlich vollen persönlichen Einsatz, und ich musste die Welt des Weines verlassen: Ich habe mit vier Mitarbeitern in Montebelluna begonnen, heute beschäftigen wir 30 000 Menschen weltweit. Dank unserer Mutter, die uns immer motiviert hat, haben wir beide aber im jeweiligen Sektor die Werte der Familie weitergetragen. Wir haben zwei grosse Projekte: Ich die Mode, mein Bruder den Wein, dem er sich als Winzer voll und ganz widmet, denn: Il buon vino si fa nella vite. Guten Wein macht man in den Reben.

Giancarlo Moretti Polegato: Die Durchschnittsqualität italienischer Weine ist heute aber auch viel, viel höher als vor 30 oder 40 Jahren. Heute sind - fast - alle Betriebe auf die Qualität fixiert, Ertragsbegrenzungen, Kontrollen, Zertifikate sind gang und gäbe. Früher hatten wir einen Önologen, der ein Dutzend Kellereien betreute, heute sind pro Kellerei zwei oder drei ausgebildete Fachleute im Einsatz - und das vom Rebberg bis in die Flasche. Dadurch zählt Italien zur weltweiten Spitze im Qualitätsweinbau. Dies wissen auch die Touristen zu schätzen, die nach Italien kommen: Essen und Trinken ist für den Ruf unseres Landes genauso wichtig wie die Kultur. Und diese italienische Qualität ist weltweit anerkannt: Deshalb exportieren wir auch 75 Prozent unserer Produktion.

«Unser Credo ist: Weine müssen das Gebiet ausdrücken, in dem sie produziert werden. Italien hat diese grosse Stärke, dass es viele Zonen und viele Rebsorten besitzt.»

Giancarlo Moretti Polegato

Mario Moretti Polegato: Das hat die Mode mit dem Wein gemein: Der Konsument soll uns - mir und meinem Bruder - persönlich vertrauen können, dass wir ihm nur das Beste verkaufen wollen. Gerade diese «Sicherheit» bei einem Produkt ist heute wichtig. Unsere Strategien in beiden Sektoren sind daher ähnlich: immer mehr den Austausch mit dem Konsumenten in Bezug auf diese Sicherheit zu forcieren, ihm zu zeigen, wie unsere Produkte, ob Mode oder Wein, entstehen.

Giancarlo Moretti Polegato: Seit Jahren empfangen wir deshalb auch jährlich mehr als 20 000 Besucher in unseren Kellern, die sehen wollen, wie unsere Schaum- und Stillweine produziert werden. Unser Credo ist: Weine müssen das Gebiet ausdrücken, in dem sie produziert werden. Italien hat diese grosse Stärke, dass es viele Zonen und viele Rebsorten besitzt. 

Dazu trägt auch der weltweit gute Ruf von «Made in Italy» bei...

Mario Moretti Polegato: Villa Sandi und Geox stehen beide für «Made in Italy». Und «Made in Italy» steht für die Kreativität, die der Italiener im Blut hat. Jedes Restaurant, jeder Koch interpretiert ein Gericht anders - selbst so etwas Simples wie Pasta al Pomodoro wird man selten zweimal identisch finden. Italiener sind allerdings «artigiani» - Handwerker: 90 Prozent der Betriebe sind klein oder mittelgross. Da sind wir eine Ausnahme: Wir sind «artigiani», aber von weltweiter Bedeutung. Das ist das Geheimnis unseres Erfolgs.

Giancarlo Moretti Polegato: Die unzähligen kleinen und mittleren Unternehmen Italiens, auch im Weinbau, können alleine schon von ihrer Grösse her nicht weltweit präsent sein. Deshalb schliessen sie sich zusammen. Auch Villa Sandi hat das gemacht, obwohl es die grösste Privatkellerei der Provinz Treviso ist: Seit fünf Jahren gibt es die ISWA, einen Zusammenschluss von neun renommierten Wein-Brands, die Italiens Weinwelt von Nord bis Süd repräsentieren. Wir organisieren gemeinsam Events und sind auch auf der Prowein mit einem gemeinsamen Stand vertreten - sobald sie nach COVID-19 wieder stattfindet.



Wie hat die COVID-19-Pandemie die Welt des Weines und der Mode seit Anfang 2020 verändert?

Mario Moretti Polegato: Manche Branchen wurden stark getroffen - wie die Mode. Geox ist in hundert Ländern mit mehr als 800 Geschäften vertreten - die meisten konnten nicht öffnen. Nun sind zum Glück die Infektionen im Sinken, die Hoffnung ist wieder da.

Giancarlo Moretti Polegato: In den Zeiten des Lockdowns hat sich E-Commerce durchgesetzt. In China oder den USA war dieser Teil des Geschäftslebens bereits bedeutend, nun ist er auch im Rest der Welt führend. Wir pflegen die Kontakte mit unseren Kunden in der ganzen Welt inzwischen virtuell. Virtuell machen wir auch Besuche in den Kellern, den Galerien, auf dem Weingut - die Konsumenten schätzen das sehr.

Mario Moretti Polegato: E-Commerce ist eine Frucht dieser Übergangszeit, es gab sie schon vor der Pandemie, aber sie hat sich in Europa nicht so entwickelt wie zum Beispiel in China oder den USA. E-Commerce ermöglicht dem Konsumenten, direkt mit dem Produzenten in Kontakt zu treten. Es ist fantastisch, weil jeder alles über das Produkt wissen kann und auch umgekehrt der Produzent seinen Kunden besser kennt als früher. Unsere Geschäfte haben sich dadurch verändert: Wir besitzen eine digitale Struktur im Inneren des Geox-Shops, die es erlaubt, dem Kunden die ganze Palette, die Geox produziert, anzubieten. Wir müssen unsere Produkte den regionalen Moden anpassen, deutsche Kunden bevorzugen zum Beispiel andere Farben als italienische. Über E-Commerce kann man einen deutschen Schuh schnell in Italien bekommen und umgekehrt. Natürlich ist dabei nicht alles positiv: E-Commerce wird sicher viele traditionelle Geschäfte in Schwierigkeiten bringen, Shops in der Peripherie werden schliessen, dafür wird es mehr Läden in den Stadtzentren geben.

Nicht nur viele Geschäfte haben in den vergangenen Monaten geschlossen, auch viele Restaurants und Bars, manche für immer. Hat Villa Sandi dadurch Umsatzeinbrüche erlitten?

Giancarlo Moretti Polegato: Überraschenderweise nein. Wir sind in 115 Ländern multikanalstrategisch präsent und haben dadurch sogar diese schwierige Zeit gut überstanden. Das heisst vor allem, weil viele Restaurants geschlossen hatten, hat der Konsum zuhause zugenommen. Dafür ist natürlich ausschlaggebend, dass wir mit unseren Marken, vor allem mit 20 Millionen Flaschen von La Gioiosa, in vielen Einzelhandelsketten präsent sind - von der Schweiz über Österreich und Deutschland bis Grossbritannien und Amerika. Da hilft uns natürlich, dass der Prosecco ein Produkt ist, das man - je nach Typologie - von früh bis spät, vom Aperitivo bis zum Dolce geniessen kann. Umsatzmässig haben wir 2020 mit dem gleichen Ergebnis wie 2019 abgeschlossen. Im ersten Semester 2021 konnten wir sogar eine Umsatzzunahme von 20 Prozent verzeichnen und das bei allen Ursprungsbezeichnungen des Prosecco - vom Prosecco DOC bis zum Conegliano Valdobbiadene DOCG. Und wir erwarten uns auch einiges vom neuen Prosecco DOC in der Version Rosé, der gerade auf den Markt gekommen ist. Er entspricht genau der Mode, Rosé, leicht und spritzig zu trinken, und wird auch in den Bars grosse Erfolge feiern.

«Wir sorgen dafür, dass die Natur in Balance ist.»

Giancarlo Moretti Polegato

Untersuchungen des Konsumentenverhaltens zeigen, dass nicht mehr nur «Geiz geil ist» und nur billig gekauft wird, sondern die Konsumenten wieder die Qualität suchen und bereit sind, den Preis dafür zu bezahlen. Sehen Sie das auch so?

Mario Moretti Polegato: Konsumenten suchen wieder essenzielle Produkte, die praktisch, bequem und auch nachhaltig sind. Das sind fundamentale Dinge, egal in welcher Branche, ob Food, Wein oder Schuhe. Heute lebt der Mensch auf engem Raum, in kleineren Wohnungen und gerade der Komfort und die Nachhaltigkeit werden dadurch umso wichtiger. Geox hat alleine 40 neue Technologien beziehungsweise Projekte bei Schuhen und Kleidung am Laufen, die den Komfort nachhaltig erhöhen. Die Nachhaltigkeit wird auch im Weinbusiness immer wichtiger...

Giancarlo Moretti Polegato: Natürlich, wir produzieren zwar nicht nach biologischen oder biodynamischen Kriterien, aber alle unsere Tenute mit ihren 200 Hektar sind für ihre Biodiversität zertifiziert. Wir sorgen dafür, dass die Natur in Balance ist, was regelmässig kontrolliert wird. Natürlich hilft es uns auch, dass die Hügel von Conegliano Valdobbiadene UNESCO-Kulturerbe sind, dadurch ist die Umwelt besonders im Fokus. Bei uns leben die Menschen noch inmitten der Rebberge.

Mario Moretti Polegato: Nachhaltigkeit ist fundamental. Wir kontrollieren bei Geox den Verbrauch von CO₂, nutzen grüne Energie, und alle unsere Materialien werden auf ihre Umweltverträglichkeit kontrolliert. Insgesamt geben wir zwei Prozent unseres Umsatzes für Forschung und Entwicklung aus. Und natürlich kontrollieren wir auch unsere Zulieferer. Wir wollen uns die Zukunft ja nicht vergiften.

Apropos Zukunft: Steht bereits eine neue Generation der Familie Moretti Polegato in den Startlöchern?

Giancarlo Moretti Polegato: Bei Villa Sandi wird die Familientradition bewahrt: Meine Tochter Diva ist bereits seit vier Jahren unser Brand Ambassador mit Sitz in London, mein Sohn Leonardo ist im vergangenen Sommer in die Kellerei eingetreten. Zukunft bedeutet für uns aber auch, dass wir in neue Betriebe investieren: 2019 haben wir die Kellerei Borgo Conventi in Friaul-Julisch Venetien erworben. Die Rebberge in den DOC-Gebieten Collio und Isonzo erstrecken sich über insgesamt 30 Hektar. Das ist aber auch eine sehr persönliche Geschichte: Einen Betrieb im Friaul zu besitzen, war die Erfüllung eines Traumes für mich.

Mario Moretti Polegato: In der Mode ist das ganz anders, da zählt nicht die Familie, sondern das Unternehmen, die Marke, die Zukunft wird durch die Mitarbeiter geprägt. Geox investiert daher weltweit in die Ausbildung junger Menschen. Sie werden bei uns technisch oder wirtschaftlich geschult und können halbjährige Praktika absolvieren. Viele davon bleiben dann im Unternehmen und gründen dort sogar Familien: Unseren firmeneigenen Kindergarten besuchen derzeit 75 Kinder von drei Monaten bis ins Schulalter.

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