Lagenselektionen nach burgundischem Vorbild

Die Rioja erfindet sich neu

Text: Thomas Vaterlaus, Foto: Justo Rodriguez, JPEG Estudio

Mit ihren legendären Gran Reservas gilt die Rioja als Gralshüter jener stolzen, ja fast schon vornehm-aristokratischen spanischen Weinkultur, bei welcher der lange Holzausbau der Weine im Vordergrund steht. Noch heute betrachten viele Weinliebhaber die Rioja aus dieser Perspektive. Zu Unrecht! Zwar gehören die Gran Reservas noch heute zum Besten, was diese Region zu bieten hat. Doch für Furore sorgen vor allem Lagenselektionen nach burgundischem Vorbild, Weissweine von Weltklasse sowie Spezialitäten aus fast vergessenen Sorten oder aus naturbelassenem Anbau. Die Rioja hat sich in den letzten Jahren neu erfunden: Aus einem Pilgerort für Wein-Traditionalisten und Nostalgiker ist ein Hotspot der Innovation geworden. So weist die Region den Weg in die Zukunft des spanischen Weinbaus.

Die Vergangenheit...

Es sind nicht einfach nur Keller, sondern Kathedralen des Weins, entrückte Labyrinthe fern von Tageslicht und Zeit, fern vom irrwitzig-lärmigen Alltag in den Städten. Der «Zasmidium Cellare», der dunkle Kellerpilz, hängt wie Watte an den Wänden. Es riecht nach Erde, nach Stille, nach Staub und altem Holz. Es riecht nach Gran Reserva. Manche Glühbirnen sind mit einem Schirm von Spinnweben umgeben, und es sieht ganz so aus, als ob sich die Kellerarbeiter akribisch bemühen, beim Auswechseln der Glühbirnen diesen Spinnwebenfilz nicht zu beschädigen. Und man glaubt den Patrons, wenn sie ihren Besuchern stolz erklären, dass Spinnweben und Staub kein Dreck seien, sondern die Basis jener Mikroflora, die es erst möglich mache, dass hier Weine jahre- und manchmal gar jahrzehntelang im Fass reifen, ohne dass sie dabei ihre Frische und ihre Frucht verlieren. Ja, die Gewächse, die hier schlummern, sind nicht einfach Weine, es sind Dinosaurier. Wer hier unten in diesen stillen Gewölben zu Besuch ist, glaubt, dass es diese Gran-Reserva-Welt schon immer gab, vielleicht seit tausend Jahren, sicher aber seit dem Mittelalter. Doch der Schein trügt. Die Bezeichnungen «Reserva» und «Gran Reserva» wurden erst vor rund 50 Jahren offiziell eingeführt. Zuvor waren es allenfalls französische Händler, die nach der Reblaus-Katastrophe in Bordeaux nach 1860 in die Rioja kamen, und mit einem «Reserva» jene Fässer markierten, die sie später kaufen wollten. Und natürlich gab es die Besitzerfamilien der Bodegas, die mit einem «Reserva Familiar» die Fässer mit den besten Weinen im Keller für ihre Familienfeste zur Seite legen wollten. Klar ist aber auch: Längst nicht in jeder Flasche, wo «Reserva» oder «Gran Reserva» draufsteht, ist auch ein guter Wein drin. Noch heute werden diese klingenden Namen für fragwürdige Qualitäten missbraucht, für ausgezehrte, muffige und von schlechtem Holz massakrierte Weine, deren Produzenten nicht selten die Frechheit haben, diese Fehltöne als besonderen «Goût de Terroir» zu verkaufen. So tut es jedem Rioja-Liebhaber weh, wenn er in den Supermärkten irgendwelche «Reservas» für zehn Euro rumstehen sieht.

Dinosaurier der Weinwelt

Eine gute «Gran Reserva» aber ist heute noch ein Fels in der Brandung der Wein-Moden, und wenn jemand sich zwischen einer bis hundert Jahre zurückreichenden Vertikale eines Cru Classé aus dem Médoc und der Gran Reserva einer renommierten Rioja-Bodega entscheiden müsste, wäre die Wahl des Rioja in der Regel nicht die schlechteste. Es ist eine grosse Leistung der Rioja-Dynastien, dass sie die Kultur der Gran Reservas in die Gegenwart hinüberretten konnten. Während sich die Weine in Regionen wie dem Bordeaux oder dem Chianti quasi «en bloc» erneuert und auch die ehemaligen Klassiker kontinuierlich an Fett, Kraft und Alkohol zugelegt haben, sind uns etliche Gran Reservas in ihrer ursprünglichen Konzeption erhalten geblieben, das zeigen ganz besonders die Weine von Bodegas wie Lopez de Heredia oder La Rioja Alta. Wo sonst gibt es noch Kellereien, die ihre Top-Crus bis zu 20 Jahre ausbauen und verfeinern, bis sie für den Verkauf freigegeben werden? Dabei ist die Rioja nicht stehen geblieben. Viele der legendären Kellereien, aber auch neu aufstrebende Winzer haben zusätzliche, vermeintlich modernere Weine kreiert. Und sind gleichzeitig doch ihren klassischen Gran Reservas treu geblieben. Chapó!

Die Zukunft...

Wissen Sie, warum die Rioja heute zu den interessantesten Weinregionen der Welt gehört?», fragte kürzlich ein VINUM-Leser und gab sich dann die Antwort gleich selber: «Weil man als Weinfreak gar nicht mehr nachkommt, all die neuen Winzer und ihre Weine sowie die neuen Weine der alten Winzer kennenzulernen.» Ist das nicht die perfekte Definition eines Luxusproblems? Nur: Wann hat das neue Zeitalter in der Rioja eigentlich begonnen? Nun, vielleicht mit Autorenweinen wie dem 1986 erstmals gekelterten Baron de Chirel von Marques de Riscal, ein richtungsweisender Wein, weil er für viele zum ersten Mal zeigte, dass die Rioja ebenso wuchtige, fruchtbetonte und würzige Selektionen hervorbringen kann wie die Ribera del Duero. Kurz danach begann das bis heute andauernde, hoch interessante Kapitel der roten und weissen Lagenweine, für welche die Rioja geradezu prädestiniert ist wegen ihrem besonderen Schatz, nämlich den vielen kleinen Parzellen mit sehr alten, oft bis zu hundertjährigen Reben. Vor allem, wenn sich diese «Vinas Viejas» in hohen, bis 900 Meter über Meer gelegenen Lagen befinden, wo im Gegensatz zu anderen spanischen Weinregionen kein kontinental geprägtes, sondern eher ein vom Atlantik beeinflusstes, kühles Klima vorherrscht. Hier sind die Bedingungen perfekt, um jene eleganten Crus anzubauen, welche die Weinfreaks heute zunehmend elektrisieren. Auch weil die Winzer vermehrt mit einem burgundischen Bewusstsein operieren, glücklicherweise aber ohne das Burgund kopieren zu wollen. Zwischenzeitlich vernachlässigte Sorten wie Garnacha, Graciano oder die weisse Viura sind besonders geeignet für dieses Konzept. Und endlich, endlich verschwindet der Holzeinsatz in der Stilistik der Weine. Viele der neuen Top-Crus reifen in Eichenfässern mit 600 oder mehr Litern Fassungsvermögen, mehr und mehr aber auch in Beton- oder Toneiern. Maischenstandzeiten und Maischenvergärung bei Weissweinen bereichern das stilistische Spektrum. Auch Techniken wie die Macération Carbonique, übrigens vor 30 Jahren in der Rioja eine beliebte Weinbereitungstechnik, kehren wieder zurück. Ein Hauch von Kohlensäure ist vielen Winzern heute wieder lieber als zu viel Eichenholzwürze oder Überreife. Denn «cool» und lebendig sollen sie sein, die neuen Riojas!

Mit der Individualität der Lagen

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Jahrzehntelang stand in der Rioja der Ausbau im Vordergrund. Alle sprachen von den Gran Reservas, kaum jemand von der Lage. Und dies, obwohl einige legendäre Riojas wie etwa die Weine von Remelluri seit jeher Lagenweine sind. Und selbst die Grosskellerei Marqués de Cacéres arbeitet seit langem fast ausschliesslich mit Winzern aus dem Dorf Cenicero und produziert so «Village-Weine» nach burgundischem Vorbild. Ein Garant für die Diversität der Terroir-Weine sind die unterschiedlichen Mikroklimata, geprägt von atlantisch kühlen Luftströmen, lokaler Thermik infolge der komplexen Topografie der auslaufenden Cordillera Cantábrica und mediterranen Einflüssen. Die unterschiedlichen Böden, von weissem Kalk über Lehm bis hin zu Sand und Kies, tragen weiter zur Akzentuierung bei. Trotz dieser extrem breit gefächerten Klaviatur, die das Terroir hier offeriert, ist bei heutigen Spitzen-Crus zunehmend ein gemeinsamer Nenner auszumachen: Sie stammen mehrheitlich von hohen Lagen, bis 800 Meter über Meer, in Verbindung mit alten, sprich bis zu hundertjährigen Reben. Inzwischen hat sich auch das Consejo Regulador des wachsenden Lagencharakters der Weine angenommen und ermöglicht diesbezügliche Angaben auf dem Garantiesiegel, nämlich «Vinos de Zona» (Rioja Alta, Rioja Alavesa oder Riojo Oriental), «Vinos de Municipio» (Dorf-Appellation) und «Viñedos Singular » (im Kataster eingetragene Einzellagen). Übrigens: Die Gran Reserva Viña Tondonia von López de Heredia zeigt schon seit Jahrzehnten, dass sich das Prinzip des langen Ausbaus und das Prinzip der Einzellage perfekt vereinen lassen.

Weiss gewinnt

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Wer VINUM-Verkostungen der letzten Jahre analysiert, kommt zu einem verblüffenden Schluss: Obwohl nur gerade zehn Prozent der Anbaufläche von total 65 000 Hektar in der Rioja mit weissen Sorten bestockt sind, erreichen die bestbewerteten Weissweine gleich hohe Benotungen wie die besten Rotweine. Gleichzeitig hat auch die Vielfalt der weissen Gewächse kontinuierlich zugenommen. Kein Wunder: Sind für die roten Weine gerade mal fünf Sorten zugelassen, sind es bei den Weissen neun. Und es gibt Güter, die weisse Unikate von völlig eigenständiger Konzeption anbauen. So setzt etwa Remelluri auf eine Assemblage von Marsanne, Aligoté, Viognier, Roussanne und Sauvignon Blanc. Generell gesehen stecken die primärfruchtigen, oft trendgerecht anmutenden Gewächse aus der boomenden Sorte Tempranillo Blanco und die fast tänzerischburgundisch anmutenden Viura-Selektionen von alten Reben das Spektrum ab. Unübertroffen sind die «Riojanos» beim jahre-, manchmal auch jahrzehntelangen Ausbau ihrer weissen Paradeweinen, mit perfektem Balanceakt zwischen Oxidation und Reduktion. Wo sonst in der Welt gibt es eine Kellerei wie Marqués de Murrieta, die ihren weissen Topwein (Castillo Ygay Blanco Gran Reserva Especial) über 30 Jahre hinweg zu einem kompromisslos frischen und einzigartig geradlinigen Gewächs formt?

Spezialitäten, «Naturales», Schäumer...

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Klar doch: 75 Prozent der Rioja-Rebberge sind mit einer Sorte bepflanzt: Tempranillo. Interessant ist aber gegenwärtig vor allem auch, was sich neben der Leitsorte so alles tut. So zeigt der Garnacha (Grenache) immer mehr Klasse, ohne dabei so fett zu erscheinen wie in anderen Regionen Spaniens, in Frankreich und der Neuen Welt. Und die junge Generation von Winzern, die zu einem möglichst naturbelassenen Anbau tendiert, legt ihren Focus vermehrt auf Sorten wie Graciano oder Maturana Tinta, ehemals als rustikal und sperrig verschriene Sorten, die aber Dank strammer Säure und vergleichsweise tiefem pH-Wert geradezu dafür prädestiniert erscheinen, Weine mit einem Minimum an Interventionen in die Flasche zu bringen. Wer an Weinen mit finessenreicher Lebendigkeit interessiert ist, sollte diese beiden Sorten im Auge behalten. Auch Assemblagen ohne Tempranillo, vor allem solche aus Garnacha und Graciano, könnten künftig Akzente setzen. Und bereits jetzt zeichnet sich ein neues verheissungsvolles Kapitel in der Rioja-Geschichte ab: Denn neu kann das Rioja-Garantiesiegel auch für Schaumweine mit klassischer Flaschengärung verwendet werden. Crianzas müssen mindestens 15 Monate auf der Hefe reifen, Reservas mindestens 24 Monate und die höchste Klasse, die «Gran Añadas», im Minimum 36 Monate. Angesichts des Klimas, vor allem im Einzugsgebiet der kühlen atlantischen Luftströme, und der Charakteristik der Sorte Viura braucht man kein Prophet zu sein, um zu prognostizieren: Die Rioja und die Schäumer, das könnte der Beginn einer wunderbaren Freundschaft sein…

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