VINUM-Profipanel | «Schwere Jungs»
Schwere Jungs mit zarten Seelen
Text: Harald Scholl, Fotos: Annette Sandner
Sie haben es in der Weinwelt aktuell nicht gerade leicht. Waren kräftige, dunkle, alkoholreiche Rotweine noch vor wenigen Jahren für viele Weinfreunde das Getränk der Wahl, scheinen leichtere Weinstile derzeit wesentlich populärer. Dabei haben die Dickschiffe aus der Neuen und Alten Welt doch unbestreitbare Qualitäten. Und ungeahnte Fähigkeiten, wie unser Profipanel zeigte.
In Zeiten, in denen viele Weinkäufer eine avisierte Flasche erst einmal umdrehen, um auf den Alkoholgrad zu schauen – noch bevor das Thema Geschmack überhaupt gestreift wird –, haben es kräftige Rotweine nicht leicht. 14,5 Volumenprozent oder mehr scheinen ein Ausschlusskriterium geworden zu sein, vor allem «leicht» sollen Weine heute sein. Wie schade! Denn damit bringen sich viele Weintrinker um ein grosses Geschmackserlebnis, unabhängig von der Rebsorte oder dem Anbaugebiet kann kraftvoller Rotwein ein beeindruckendes singuläres Erlebnis oder bei Tisch eine wunderbare Ergänzung zur kraftvollen Aromaküche sein. Was wären ein Steak oder ein Schmorbraten ohne einen adäquaten Weinbegleiter?
Das hat unser Profipanel einmal mehr gezeigt, mit Scheuklappen bringen sich Weintrinker um so manchen Genuss. Denn ganz gleich in welcher Preisklasse, wer sucht, findet auch unter den kraftvollen Rotweinen Exemplare, die mit Frische, Finesse und Leichtigkeit punkten können. Aber: Um diese feinen Nuancen schmecken und unterscheiden zu können, muss man sich mit den Weinen intensiv beschäftigen, ein «… so nebenher trinken …» ist mit diesen Weinen nicht möglich.
Die kraftvollen, bisweilen auch mächtigen, Primär- und Sekundäraromen – rote Beeren, Gewürze, Leder, Zeder – sind so überwältigend, dass die Feinheiten ohne die nötige Aufmerksamkeit untergehen.
Ein Verkoster verglich es mit einer Oper von Richard Wagner, bei der auch die Kraft und Wucht der Musik die kompositorischen Feinheiten bisweilen verdeckt, bei intensiverer Auseinandersetzung aber sehr wohl Merkmale wie Eleganz, Finesse oder Tiefgründigkeit erkennbar werden. Mitverkoster Bernd Göbel griff tief in die Kulturmetapherkiste, brachte es auf die schöne Formel: «Schwere Jungs können auch Ballett!» Das ist zwar ein hübsches Bild, aber doch nicht ganz richtig. Denn wirklich tänzeln auf der Zunge werden diese Weine nie, so viel Feinheit ist dann doch nicht möglich.
Das liegt aber weniger am Alkohol allein als auch an den anderen Inhaltsstoffen. Denn auch Extrakt und Tannin sind bei diesen Boliden in aller Regel reichlich vorhanden. Das verhindert schon im Ansatz einen Trinkfluss wie etwa bei einem Riesling-Kabinett oder einem einfachen Chasselas. Aber die will man schliesslich auch nicht jeden Tag im Glas haben. Schon gar nicht in der kalten Jahreszeit. Der Stil der kräftigen Rotweine hat sich in den letzten Jahren durchaus zum Positiven verändert.
In vielen heissen Anbaugebieten wie dem Barossa Valley in Australien, an der südlichen Rhône oder im italienischen Kampanien schaffen die Winzer mit gezielter Arbeit im Weinberg den Spagat zwischen üppig reifer Frucht und animierender Frische. Wurde früher gezielt entblättert, um den Trauben möglichst viel Sonne zukommen zu lassen, werden heute die Blätter auf der Sonnenseite hängen gelassen, um mehr Schatten zu bekommen. Es wird früher gelesen – um die Frische zu bewahren – und in mehreren Durchgängen nachgelesen, um auch vollreife Trauben mit in die Presse zu bekommen. Die Ernte in mehreren sogenannten «Fraktionen» ist zum Standard geworden. Es ist in der Summe eine Vielzahl kleiner und grosser Massnahmen, die dafür sorgen, dass sich dichte, dunkle Aromatik auf der einen Seite und Feinheit und Trinkfrische auf der anderen nicht mehr ausschliessen.
Neue Welt versus Alte Welt: unentschieden!
Was vielen Verkoster ganz besonders auffiel: Diese Massnahmen scheinen die Winzer in der sogenannten Neuen Welt sehr viel früher und effektiver angewendet zu haben als die Kollegen aus der Alten Welt. Gerade die Weine aus Down Under waren eine veritable Überraschung. Wurde in früheren Jahren das Attribut «marmeladig» in Beschreibungen häufig angetroffen, kann davon in aller Regel keine Rede mehr sein. Der Sieger des Profipanels, The Factor 2016 von Torbreck, ist sicher kein Wein für jeden Tag, da spricht der Preis schon dagegen. Aber er zeigte, was möglich ist, auch in der Hitze des Barossa Valley. Tiefgründige Finesse, unglaubliche Länge und eine Vielschichtigkeit, wie sie nur die ganz grossen Syrahs/Shiraz dieser Welt aufweisen. Ein kleines Meisterwerk – trotz der mindestens 15 Volumenprozent Alkohol. Dicht dahinter ein Wein aus der Alten Welt, der Le Bouquet de Garrigue 2015. Ein Côtes du Rhône der besten Machart, nicht schwer, trotzdem voller Wärme des Südens, mit überraschender Tiefe und Länge. Zu einem Bruchteil des Preises unseres Siegerweins bietet er annähernd so viel Trinkspass. Das war eine weitere Erkenntnis des Panels: Weder die Alte, noch die Neue Welt konnte sich entscheidende Vorteile erspielen. Die Top Ten wurden gerecht fünf zu fünf aufgeteilt, und auch bei den Rebsorten konnte sich kein klarer Favorit nach vorne spielen. Shiraz, Primitivo, Zinfandel, Cabernet Sauvignon – alle vertreten unter den Topweinen. Einzige Ausnahme: Susumaniello von der Tenute Rubino aus Apulien. Nicht einmal hundert Hektar sind mit dieser ungewöhnlichen Rebsorte bestockt, ihre sehr individuelle Aromatik kommt erst durch das leichte Antrocknen der Trauben vor dem Pressen zustande.
Für dieses VINUM-Profipanel wurden weder bei der Herkunft noch beim Jahrgang oder bei den Rebsorten Vorgaben gemacht. Es sollten nur Rotweine mit mindestens 14,5 Volumenprozent Alkohol sein, ohne eine Anreicherung («aufspriten»). Wobei die Erfahrung zeigt, dass die wenigsten Weine genau diesen Wert erreichen. Analytisch gesehen werden die allermeisten eher 14,9 als 14,5 aufweisen. Das ist den Regeln der Kennzeichnungspflicht zu verdanken, bis 14,9 darf abgerundet werden auf 14,5 Prozent. Streng mathematisch betrachtet dürfte also das Verkostungsfeld im Schnitt aufgerundet durchschnittlich 15 Volumenprozent Alkohol aufweisen – but who cares? Wem es wirklich zu viel wird mit dem Alkohol, kann ja immer noch ein Glas weniger trinken. Das soll auch möglich sein.
Die Jury
hintere Reihe, von links nach rechts
Harald Scholl stellv. Chefredakteur VINUM Deutschland, Verkostungsleiter
Sein Favorit: Susumaniello Torre Testa 2016 von Tenute Rubino (I)
Stefan Stamboulidis Sommelier
Sein Favorit: The Factor 2016 von Torbreck (AUS)
Andrea Heinzinger
Weinjournalistin
Ihr Favorit: The Factor 2016 von Torbreck (AUS)
Bernd Göbel Weinhändler
Sein Favorit: Tor di Lupo 2016 von Kellerei Andrian (I)
Claudia Sontheim Weinhändlerin
Ihr Favorit: Director’s Cut Zinfandel 2016 von Coppola (USA)
Susana Suarez Dosil Weinhändlerin
Ihr Favorit: Old Vines Grenache Mourvèdre Shiraz 2015 von Torbreck (AUS)
Torsten Kuhne Weinhändler
Sein Favorit: Expresión
Resalte 2012 von Bodegas Resalte de Peñafiel (E)
Vordere Reihe, von links nach rechts
Nicole Retter Deutsche Sommelier Union
Ihr Favorit: Le Bouquet
de Garrigue 2015 von Clos
de Caillou (F)
Dominik Kneidl Sommelier und Gastronom
Sein Favorit: Tor di Lupo 2016 von Kellerei Andrian (I)
Wolfgang Panzer Gastronom
Sein Favorit: Barbera 2017 von Casasmith (USA)
Johannes B. Bucej Verkoster VINUM-Wineguide
Sein Favorit: Le Bouquet
de Garrigue 2015 von Clos de Caillou (F)