Legendäre Lagen

Dézaley

Text: Eva Zwahlen, Fotos: Siffert/weinweltfoto.ch, z.V.g., Grafik: www.steinundwein.ch

Das Dézaley, diese atemberaubende Kulturlandschaft mit ihren steilen, übereinander geschachtelten und von Steinmauern gestützten Rebterrassen, gewissermassen der helvetische Clos Vougeot, ist eines der besten und geschichtsträchtigsten Weinterroirs in Europa. Der gleichnamige Wein zeigt eindrücklich, dass der oft geringgeschätzte Chasselas zu wahrhaft Grossem fähig ist. Zumindest, wenn er auf einem derartigen Ausnahmeterroir wächst.

Wer regelmässig ins Waadtland fährt, klappt spätestens dann, wenn der Zug durch den Tunnel von Puidoux donnert, sein Buch oder seinen Laptop zu, um den magischen Moment nicht zu verpassen. Sobald der Zug wieder ans Tageslicht kommt, liegt es einem buchstäblich zu Füssen: das Rebenmeer des Lavaux, unterteilt in unzählige Parzellen, da und dort wie hingestreut ein paar behäbige Winzerhäuser, weit unten geheimnisvoll und still die spiegelglatte Fläche des Lac Léman, an dessen gegenüberliegendem Ufer sich die Savoyer Alpen gegen den Himmel abzeichnen. 

Das Lavaux, eine der fantastischsten Landschaften der Schweiz, wurde im Jahr 2007 ins Kulturerbe der UNESCO aufgenommen. Das Herzstück dieser Weinregion zwischen Lausanne und Montreux ist das Dézaley, das Besucher zum Staunen und Weinkenner zum Träumen bringt. Geschaffen wurde das weite Tal, an dessen Steilhang das Dézaley liegt und dessen Grund heute vom Lac Léman (alias Genfersee, was man aber in der Waadt nicht sagen darf…) bedeckt wird, durch die Alpenfaltung und die Ur-Rhone mit ihrer erosiven Wucht. Die Böden der Lavaux-Hänge sind alpiner Herkunft und weisen einen hohen Kalkanteil auf. Diese Molasse mit ihren Sedimenten, durch tektonische Prozesse im Tertiär gebildet (also vor 70 bis 30 Mio. Jahren), wurde sehr viel später, nämlich erst in den letzten 100 000 Jahren, durch den mächtigen Rhonegletscher modelliert, abgehobelt und umgeformt. Dieser Gletscher, der in seinen besten Zeiten bis in die Region des heutigen Lyon reichte, liess gewaltige Mengen an Geschiebe zurück. 

Ein ganz besonderes Klima

Doch im steilsten Teil des Lavaux, eben dem Dézaley, stiess der Gletscher auf harten Widerstand. Buchstäblich. Die schroffen Bergflanken hier sind mächtige Konglomeratsbänke aus dem sogenannten «Poudingue du Mont Pélerin». Dieser «Poudingue» (der in der Tat an einen englischen Pudding mit grossen Rosinen erinnert), hartes Nagelfluhgestein und Molasse aus dem Tertiär, wehrte sich erfolgreich gegen die Moränenablagerungen des Gletschers, als sich dieser vor rund 12 000 Jahren wieder ins Wallis zurückzog. Vermischt mit weicheren Gesteinsarten wie Mergel und Sandstein machen die harten Konglomerate die Besonderheit des Dézaley-Terroirs aus, das vertikal von zahlreichen kleinen Wasserläufen durchzogen ist, die Geröll mit sich Richtung See transportieren.

Dennoch, der Boden ist nur ein Faktor des Terroirs, gibt Blaise Duboux, Winzer aus Epesses in 17. Generation, zu bedenken: «Das Charakteristische am Dézaley ist nicht nur der Steilhang, das Relief, die Geologie oder die Hydrologie, sondern vor allem auch sein spezielles Klima.» Das Dézaley profitiert vom mässigenden, temperaturausgleichenden Lac Léman, dessen Wassertemperatur nie unter 4 Grad Celsius sinkt. Die Winter sind relativ mild, die Niederschläge von 1100 mm pro Jahr gut verteilt. Dank der Bergflanke in ihrem Rücken und ihrer südwestlichen Ausrichtung sind die Rebberge des Dézaley weitgehend vor den kühlen Nordwinden geschützt und profitieren von optimaler Besonnung. Am Morgen liegen sie im Sommer bis etwa 9 Uhr im kühlenden Schatten, doch dann baden sie bis zum Sonnenuntergang wollüstig im vollsten Sonnenlicht. Nicht zu unterschätzen ist die Thermik, die bei der Steilheit der Hänge eine eminente Rolle spielt. Der passionierte Segler Blaise Duboux weiss, wovon er spricht: «Tagsüber erwärmt sich das Wasser, und die Luft steigt auf, so dass eine kleine Brise vom See her durch die Reben streicht. Abends kühlt die Erde schneller ab, und der Wind weht nun hangabwärts in Richtung See.» So ist für eine konstante Belüftung gesorgt – faule Trauben kennt man im Dézaley nicht. Und für grosse Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht. Was für nicht aromatische Sorten wie den Chasselas besonders wichtig ist. Im Dézaley treiben die Reben vor allen umliegenden Lagen aus, dafür wird hier zuletzt gelesen – die Vegetationsperiode ist somit zwei Wochen länger als im kantonalen Schnitt.

«Das Dézaley ist die Wahlheimat des Chasselas schlechthin. Die Typizität des Terroirs ist im Dézaley immer erkennbar, unabhängig vom Produzenten oder vom Jahrgang.»

Louis-Philippe Bovard

Wer vom Klima spricht, darf die legendären drei Sonnen im Dézaley nicht vergessen: die direkte Sonneneinstrahlung, die vom See reflektierten Sonnenstrahlen sowie die gespeicherte Sonnenwärme in den kilometerlangen Steinmauern, welche die Rebterrassen stützen. Wer abends durch die Reben spaziert, leicht fröstelnd im Wind, und die Hände auf die mollig warmen Mauern legt, versteht, was gemeint ist.

Von Mönchen erschaffen

Ein grosses Terroir ist immer auch ein Terroir mit Geschichte. Diejenige des Dézaley ist rund 1000 Jahre alt. Denn das Dézaley ist auch das Resultat einer gewaltigen menschlichen Leistung. Die Reichsstadt Lausanne war jahrhundertelang ein bedeutendes ökonomisches und religiöses Zentrum. Und Sitz des einflussreichen Fürstbischofs. Zwischen 1134 und 1536 gehörten das Dézaley und ein grosser Teil des Lavaux zu seiner Gerichtsbarkeit. Bischof Girard de Faucigny stattete die von ihm gegründete Abtei von Montheron im Jahr 1141 mit Gütern im Osten des Dézaley aus, mit der Auflage, die Hänge urbar zu machen und Rebberge anzulegen. So entstand der berühmte Clos des Abbayes, heute im Besitz der Stadt Lausanne. Die Zisterzienserabtei Haut-Crêt, 1134 gegründet, erhielt den westlichen Teil des Dézaley. Auch hier entstanden Rebterrassen, die vom Kloster verpachtet wurden. Mitte des 14. Jahrhunderts zählte dieses Weingut, seit 1912 unter dem Namen Clos des Moines bekannt, rund 30 Winzer und eine Schenke. Heute gehört es ebenfalls der Stadt Lausanne, die ihre Weine jeweils Anfang Dezember öffentlich versteigert.

Auch die Zisterzienserabtei von Hauterive bekam 1138 von Bischof Guillaume de Glâne Ländereien im Dézaley. 1848 konfiszierte die radikale Freiburger Regierung die ehemaligen Güter des Klosters, um die Reparationszahlungen aus dem Sonderbundskrieg zu begleichen. So kommt es, dass der Kanton Freiburg bis heute wertvolle Reblagen mitten im Dézaley besitzt. Nach der Eroberung der Waadt durch die Berner 1536 wurden die kirchlichen Güter säkularisiert.

Wo der Chasselas zu Hochform aufläuft

2009 konnte der Ampelograph José Vouillamoz nachweisen, dass die Wiege des Chasselas hier am Lac Léman stand. Schon die Mönche, welche die Terrassen des Dézaley anlegten, bepflanzten sie mit Chasselas. Die Forschungsanstalt Agroscope hat bis heute rund 300 Klone oder Biotypen des Chasselas gesammelt, mit dem Ziel, seine Biodiversität zu bewahren und zu fördern. Louis-Philippe Bovard, Grandseigneur des Lavaux, der dieses Ziel mit einer eigenen Stiftung, dem Conservatoire mondial du Chasselas, nach Kräften fördert, versucht zusammen mit den Wissenschaftlern, aus den 19 vielversprechendsten Biotypen die besten herauszufiltern. «Das Dézaley ist die Wahlheimat des Chasselas schlechthin», ist er überzeugt, «so wie Romanée-Conti für den Pinot Noir… Die Typizität des Terroirs ist im Dézaley immer erkennbar, unabhängig vom Produzenten oder vom Jahrgang.» Interessant sind seine Beobachtungen im heissen Jahr 2018: «Rundherum waren die Weine eher alkoholisch, doch nicht so im Dézaley. Hier scheint das Terroir ausgleichend zu wirken.» Zwei der alten Chasselas-Selektionen erweisen sich als überlegen: der Bois Rouge und der Giclet. «Bei Neuanlagen verwende ich massale Varianten dieser beiden Selektionen, das ist die Zukunft des Chasselas.»

Bovard, der lange eisern am überlieferten Gobeletsystem (Stickelbau) festhielt, stellt nun ebenfalls auf Drahtrahmenerziehung um, wegen der Erosion und der explodierenden Kosten. Weinbau im Dézaley bedeutet mühselige Handarbeit. Dreimal mehr Arbeitsstunden als in der Waadtländer Côte sind aufzuwenden. Nicht nur, aber auch wegen der Steinmauern. «Wir hatten jahrelang sechs Monate pro Jahr einen Maurer angestellt», erzählt Luc Massy, der mit dem Chemin de Fer einen der bekanntesten Dézaleys produziert. «Das ist eine grosse Investition, liegt aber in der Verantwortung eines jeden Produzenten.» So betrachtet, sind die Weine aus dem Dézaley natürlich fast lächerlich billig… Immerhin: Obwohl die Keller in der Westschweiz aus allen Nähten platzen, sind beim Dézaley keinerlei Absatzprobleme zu beklagen, im Gegenteil. «Wenn wir unsere prestigereichste Appellation nicht mehr verkaufen können, dann haben wir ein echtes Problem», meint Massy trocken.

Doch davon kann zum Glück keine Rede sein. Auch wenn sich Blaise Duboux wundert, dass die meisten Besucher, die das Weltkulturerbe besuchen, ohne eine einzige Flasche wieder abreisen. «Das ist absurd! Laut UNESCO muss die Reblandschaft eine lebendige Kulturlandschaft sein. Damit sie aber lebendig bleibt, müssen die Winzer davon leben können.» Für ihren Wein ziehen die Produzenten auch in den Kampf, wenn es sein muss. So erstritten sie sich 2013 vom Waadtländer Staatsrat die Erhebung von Calamin und Dézaley in den Status von echten (eurokompatiblen) Grands Crus AOC. Damit ist garantiert, dass dort, wo Dézaley draufsteht, auch zu 100% Dézaley drin ist!


Domaine Louis Bovard

Cully

Seit 1983 leitet Louis-Philippe Bovard das traditionsreiche Weinhaus mit 18 Hektar Reben. Der Grandseigneur des Lavaux setzt sich für die ganze Region ein, indem er mit Wissenschaftlern ein «Konservatorium des Chasselas» angelegt hat, in welchem die qualitativ besten alten Chasselas-Selektionen ausgewählt werden sollen. Obwohl er auch mit Chenin und Sauvignon Blanc Furore macht, bleibt das Paradepferd des Hauses der mythische Dézaley Médinette, Mitglied bei Mémoire des Vins Suisses.

www.domainebovard.com


 


Massy Vins

Epesses

Die Familie Massy arbeitet im denkmalgeschützten Clos du Boux. Auf den neun Hektar Reben in Epesses, Saint-Saphorin und dem Dézaley AOC Grand Cru dominiert naturgemäss die Hauptsorte Chasselas, die in diversen Terroirversionen gekeltert wird. Im Sortiment ist auch ein rarer roter Dézaley zu finden, komponiert aus Gamay, Pinot Noir und Merlot. Das Aushängeschild des Hauses bleibt aber der weisse Dézaley Chemin de Fer, einer der bekanntesten Markenweine der Schweiz.

www.massy-vins.ch 


 


Blaise Duboux

Epesses

Blaise Duboux aus Epesses ist Winzer mit Leib und Seele, und das in 17. Generation. Er ist einer der wenigen, der in den Steillagen des Lavaux biodynamisch wirtschaftet. Seine Weine, diverse Spielarten des Chasselas (75% seiner 5 Hektar), aber auch die alte, fast ausgestorbene lokale Selektion des Gamay namens Plant Robert, sind echte Terroirweine und bestechen durch tiefgründigen Charakter. «Arte Vitis» in Reinkultur! Blaises Duboux’ zweiter Grand Cru, sein Calamin, ist Mitglied im elitären Club Mémoire des Vins Suisses.

www.blaiseduboux.ch


 

Auf Steinen gewachsen

Dézaley AOC Grand Cru Haut de Pierre Vieilles Vignes 2018
Blaise Duboux, Epesses

Die noch etwas diskrete Nase öffnet sich auf elegante florale Noten, Zitrusaroma und Akzente von nassen Steinen. Der Gaumen ist rund und voller Schmelz, man schmeckt das köstlich reife Traubengut. Ein sehr finessenreicher, filigraner und kristalliner Wein mit typischen, strukturierenden Bitternoten im Finale. Trotz jahrgangsbedingter Üppigkeit hat er etwas Drahtiges, wie sein Macher. Unbedingt noch lagern, damit er seine ganze Grösse ausspielen kann!

Ab Hof | 29 Franken

Eine der bekanntesten Marken der Schweiz

Dézaley AOC Grand Cru Chemin de Fer 2018, Vins Massy, Epesses

Im untersten Teil des Dézaley gewachsen, in der Nähe des Sees und der Eisenbahn (französisch «chemin de fer»), präsentiert sich dieser Wein mit noch zurückhaltenden Noten von Lindenblüten und reifen Früchten, im Gaumen ausladend, kraftvoll, geschmeidig und gut strukturiert. Ein opulenter, schmeichelnder Wein von grosser Fülle, schon jetzt sehr komplex, der aber noch an Tiefgang gewinnen wird. Und wer wollte sich den Genuss des gereiften Chemin de Fer versagen?

Ab Hof | 29 Franken

Eine Ikone der Waadtländer Weine

Dézaley AOC Grand Cru Médinette 2018, Domaine Louis Bovard, Cully

Dieser mythische Wein mit seiner un-verkennbaren Etikette, im Holzfuder ausgebaut, besticht durch ein Bouquet mit würzigen Noten, Feuerstein und einem Hauch Zitrusaroma, im Gaumen präsentiert er sich mit präzisem Auftakt, kraftvoll, gut strukturiert und ausladend, getragen von edlen, feinen Bitternoten und einer rassigen Frische. Dieser finessenreiche Wein wird viele Jahre (und Jahrzehnte) vorteilhaft altern.

Ab Hof |  29 Franken

 

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