Winzer gehen fremd
Nicht mehr nur Wein
Text: Nicole Harreisser, Fotos: Siffert/weinweltfoto.ch, Lindaphoto, z.V.g.
Warum produzieren Winzer heute nebst Wein zunehmend auch Bier, Cidre, Kräutertee oder Erdbeerschaumwein? Nun, die einen sind einfach neugierig und suchen ein neues Abenteuer. Andere haben eine ganzheitliche Landwirtschaft im Visier. Und dann gibt es noch jene, die sich im zunehmend risikoreicheren Winzer-Metier, wo Wetterkapriolen wie Frühjahrsfröste existenzgefährdende Einkommenseinbussen verursachten, besser absichern wollen. Hier vier Porträts von Winzern, die lustvoll «fremdgehen», ohne dabei ihren Wein zu vernachlässigen.
Mosterei Oswald + Ruch
Die Kraft der Biodiversität
Knollbirne Nussbaumen 2018
In der Nase zart, aber mit intensivem Birnenaroma vollreifer Früchte. Herbe Noten und komplexe Struktur. Wunderbar zu saftigem Iberico vom Grill.
Belle de Boskoop Klettgau 2018
Goldgelb präsentiert sich dieser Cidre im Glas mit intensiven süss-herben typischen Boskoopnoten. Am Gaumen cremig. Braucht etwas Luft.
Bohnapfel, Boskoop, Surgrauech, Berner Rose, Blaunacher Klettgau 2018
Dezente Hefenoten, die rasch verfliegen. Intensiv, komplex, mit geradliniger Struktur. Sehr ausgewogen.
«Am Morgen durch eine Streuobstwiese zu gehen, ist genauso schön wie durch die Rebberge zu streifen. Draussen in der Natur zu sein ist für mich essenziell.»
Markus Ruch
Rund 15 000 Flaschen erstklassigen Pinot Noir produziert Markus Ruch im Klettgau auf 3,5 Hektar Rebfläche. Verkaufen könnte er einiges mehr, aber eine Vergrösserung kommt für ihn nicht in Frage. «Wäre mein Betrieb grösser, könnte ich ihn nicht mehr alleine bewirtschaften.» Es ist ihm ein Anliegen, als Mensch die Landwirtschaft wirklich zu verstehen. Selbst im Weinberg zu sein und im Keller. Weinanbau ist per se eine sehr anfällige, weil einseitige Kultur und die zunehmende Gefahr durch Einbussen durch Frost- und Hagelschäden oder wie 2014 den Befall durch die Kirschessigfliege kann kleine Betriebe die Existenz kosten. Einmalige finanzielle Subventionen durch den Staat bringen nur kurzfristige Abhilfe. Er sieht mehr Potenzial in Förderprogrammen, die auf Diversität der Betriebe setzen. Ein Gegentrend zur heutigen Spezialisierung mit Monokulturen.
Markus Ruch stammt aus dem Thurgau, auch Mostindien genannt, wo Obstgärten allgegenwärtig sind und Apfel- und Birnenmost zum täglichen Leben gehören. Im Klettgau stehen unzählige Hochstammgärten, die nicht mehr genutzt wurden, und nur Subventionen verhinderten das Fällen der Bäume. Diese Hochstämme stehen auf landwirtschaftlichen Ausgleichsflächen, die lediglich gemäht, aber nicht gedüngt oder gespritzt werden dürfen.
Zusammen mit seinem Jugendfreund Benjamin Oswald, der sein Know-how bei Jacques Perritaz in der Cidrerie du Vulcain erwarb, gründete er vor zwei Jahren die Mosterei Oswald + Ruch. Ziel ist es, die alten Sorten der Hochstämme zu bewahren und der Region die frühere Vielfalt wiederzugeben, die für die handwerkliche Produktion hochwertiger Cidres die Ausgangsbasis ist. Für die Cidreproduktion eignen sich Tafeläpfel weniger, da sie durch den geringeren Säuregehalt eher unspektakulär sind. Die alten Sorten des Klettgaus hingegen bringen herausragende, komplexe Cidres hervor.
Markus Ruch konnte die Besitzer der ungenutzten, weil nicht rentablen Bäume überzeugen, ihm diese Bäume zu verpachten. Er keltert seine Cidres aus zehn verschiedenen Apfelsorten, sechs Birnensorten und einer Quittensorte.
Domaines Rouvinez
Wenn eine ausgefallene Idee zum Erfolg wird
L’Echappée brewed by the Alps 6,2 Vol.-%
Goldgelb strahlend im Glas, mit feinhefigen und zitrischen Noten in der Nase. Cremiger Schaum. Mundfüllend, dezente Bitterkeit mit zarten Hopfennoten. Komplex und stimmig. Erfrischend.
«Es gibt drei Dinge, die man trinken kann, wenn man Durst hat: Wasser, Fendant – oder Bier! Und auch wir Winzer haben immer wieder mal Lust auf ein Bier.»
Véronique Besson-Rouvinez
Der grösste Weinbergeigentümer des Wallis produziert Bier? Das erstaunt zunächst. «Bier ist keine Konkurrenz für Wein» meint Véronique Besson-Rouvinez, die mit ihren beiden Brüdern Frédéric und Philippe in dritter Generation mit ihrem Vater Jean-Bernard und Onkel Dominique gemeinsam die Domaines Rouvinez und die Häuser Bonvin 1858, Imesch und Orsat führen. Ein Zufall führte sie zum Bier: 2013 begegnete Frédéric den beiden belgischen Brauern Renaud und François aus Lüttich. Die drei lagen sofort auf einer Wellenlänge und die gemeinsame Leidenschaft für vergorene Getränke tat ein Übriges. Das Know-how der Walliser – die Vergärung – traf auf das Know-how der Belgier – die Zubereitung des richtigen Getreidebreis. Die Hefe kommt aus Belgien, ein Geheimnis der Braumeister, und das reine Wasser aus dem Wallis. Das Ergebnis spricht für sich: ein perfektes Bier, mit perfektem Geschmack als Ausdruck ihrer Freundschaft.
Das Bier «L’Echappée», zu Deutsch die Ausreisserin, ist ein Bier, das mit grosser Leidenschaft gemacht wird. Die Idee von Frédéric wurde von der Familie selbst begeistert aufgenommen, da die Rouvinez alle auch Biergeniesser sind. Mit dieser für eine Winzerfamilie ungewöhnlichen Idee wurde er zum Vater des Bieres. Wenn heute Kunden ins Weingut kommen, können diese neben den Weinen auch das Bier versuchen. Einige sind überrascht von diesem Angebot, weil sie noch nichts von dieser Innovation gehört haben, reagieren aber nach der Verkostung begeistert. Vor allem junge Kunden, die wegen des Bieres kommen, wissen nicht immer, dass die Rouvinez auch Weine keltern. Gerne nutzen sie die Möglichkeit, auch die Weine zu probieren. Somit können in beiden Richtungen neue Zielgruppen angesprochen werden.
Andere Winzer reagieren teils eher reserviert, sie sehen Bier immer noch als Konkurrenzprodukt zum Wein und sind von der Idee der Familie weniger begeistert. Bier und Wein sind aber komplementär. Man hat nicht immer Lust auf ein Glas Wein, es darf gern auch mal ein Bier gegen den Durst sein. Warum sollte man dann das Feld einer Brauerei überlassen, anstatt sein eigenes Bier zu brauen und zu verkaufen. Véronique braut im Durchschnitt alle sechs Wochen in der Kellerei der Domaines Rouvinez in Martigny, je nach Saison und Bedarf.
Biolenz Naturweine
Kraftvoller Lebensraum – keine Monokultur
Kräutersalz
Die Brennnessel ist sehr vielseitig, dient dem Menschen, den Tieren und dem Boden als Nährstofflieferant. Als Gewürz eingesetzt verfeinert sie knackige Salate und Pürees.
Traubenkernmehl
Hat einen hohen Anteil an antioxidativen Inhaltsstoffen. Verwendet wird das Mehl anteilig zum Backen oder als Nahrungsergänzungsmittel in Müsli oder Smoothies.
Kräutertee
Die Kräuter für diesen Tee sammeln Guido und Marlen zwischen den Rebstöcken. Ein erfrischender Tee für jede Tageszeit, wenn der Sinn nicht nach Wein steht.
«Schon mit 18 Jahren wollte ich einen Lebensraum ohne Gifte schaffen. Die Bedingungen waren sehr schwer, ich galt als Bedrohung für andere.»
Guido Lenz
Guido Lenz führt kein Weingut im klassischen Sinne, er ist Teil eines Lebensraums mit Reben, Kräutern, Gräsern, Insekten und vielen mehr. Es gibt keinen Plan, er folgt dem Lauf der Natur. «Jeden Tag sind wir zu zweit für drei bis vier Stunden unterwegs und ernten, was gerade Saison hat.» Bereits vor 40 Jahren hat er die Entscheidung getroffen, ganz ohne Pflanzenschutz zu arbeiten und einzig nach den Regeln des biodynamischen Anbaus zu agieren. Die Arbeiten erfolgen von Hand, es wird kein Traktor eingesetzt. Die Pflanzen, die zwischen den Reben wachsen, werden aus eigenem Samen selbst vorgezogen und jeweils kurz vor einem Regen an ihren endgültigen Platz gepflanzt. Das können bis zu 2000 Pflanzen sein. 200 Schafe, jeweils ein Muttertier mit seinem Lamm, haben Einzug im Weinberg gehalten, ähnlich wie auf einer Alp. Sie können frei wählen, welches Kraut ihnen schmeckt, und halten den Bewuchs im Zaum. Auch einen Teil der Laubarbeit übernehmen sie. An den Trauben aber haben sie kein Interesse. Es wachsen dort Stangenbohnen, viele Kräuter, Kürbisse, Blumen. Die tägliche Arbeit erfüllt Guido Lenz, auch wenn sie nicht herkömmlichem Profitdenken entspricht. In einem Lebensraum, in den nicht eingegriffen wird, werden die Bedingungen für alle begünstigt. In der Zukunft soll sich das System selbst tragen und keine Pflanzen mehr gesetzt werden. «Wir müssen nicht ernten, wir dürfen es.» Alles wird verwendet: Die Traubenkerne werden schonend getrocknet und zu Traubenkernmehl gemahlen, die Traubenhäute werden zu «Marc» gebrannt. Die Traubenstiele bekommen die Kamele als Futter. Diese liefern wertvollen Dung für den Kompost. Seine ersten Erfahrungen mit dem Rebbau macht er als Kind in den Weinbergen des Grossvaters. Mit 15 Jahren begann er die Lehre zum Weinküfer und übernahm danach den Familienrebbesitz. 1986 pflanzte er erfolgreich Sorten, die damals (noch) nicht in der Schweiz zugelassen waren, und verhalf ihnen so zum Durchbruch. Es war ein langer beschwerlicher Weg, mit vielen Konflikten, da er damals als Bedrohung gesehen wurde. Heute ist es anders: Der Islisberg ist die fünftgrösste zusammenhängende Biorebfläche der Schweiz.
Bechtel-Weine
Süsse Früchtchen und grosse Leidenschaft
Erdbeerschaumwein
Im Erdbeerhimmel, eine unglaubliche Intensität nach reiner, reifer Erdbeere wie soeben vom Feld gepflückt. Frucht pur. Feine, vollreife Fruchtsüsse, die von einer frischen, animierenden Säure getragen wird. Mundfüllend.
«Wie bekomme ich das volle, frische Erdbeeraroma in die Flasche? Diese Herausforderung hat mich gereizt und nach vielen Versuchen ist es mir auch gelungen.»
Mathias Bechtel
Mathias Bechtel hat viel zu tun: Gerade jetzt im Juni sind die Erdbeeren für seinen Erdbeerschaumwein reif und der Neubau seines Weinkellers in Eglisau ist in vollem Gang. «Ich bin immer neugierig und suche die Herausforderung.» Das breite Sortiment seines kleinen Weinguts spiegelt das wider. Zu den Erdbeeren kam er, weil er sich die Frage stellte, wie er sein Equipment zwischen den Weinlesen besser auslasten kann, damit es nicht für elf Monate ungenützt bleibt. Erdbeeren sind die ersten Früchte des Jahres und die Verarbeitung ist längst abgeschlossen, wenn die nächste Traubenernte ansteht. Erste Versuche erfolgten in Ballonflaschen zunächst noch mit im Handel gekauften Erdbeeren. Zahlreiche Versuche über Jahre hinweg waren nötig, um sich das Wissen anzueignen, wie das Erdbeeraroma trotz der Gärung in die Flasche kommt. Er tastete sich immer mehr an das Aroma heran, mittlerweile mit lokalen Erdbeeren. Es sollte auch nichts anderes als die reine Frucht in die Flasche kommen. In jeder Flasche steckt ein Kilo Erdbeeren. Als die Versuche in kleinem Massstab erfolgreich waren, stand die nächste Herausforderung bevor: Die Übertragung der gewonnenen Erkenntnisse auf eine wirtschaftlich rentable Menge. Es dauerte wieder einige Zeit, bis dies glückte, und heute verarbeitet Mathias Bechtel etwa 1500 Kilo Erdbeeren im Jahr. Seine Kenntnisse in der Weinbereitung halfen ihm dabei nicht immer, beispielsweise ist die schonende Pressung wie bei seinen Trauben bei Erdbeeren nicht zielführend. Sie müssen auf andere Art und stärker gepresst werden. Trotzdem gibt es Parallelen zur Weinbereitung und umgekehrt profitiert er bei der Traubenkelterung von seinen Experimenten mit der Erdbeere.
Derzeit ist der Jahrgang 2015 im Verkauf. Der Erdbeerschaumwein braucht nicht nur in der Produktion sehr viel Sauerstoff zur Entwicklung, er benötigt auch ein Jahr Flaschenreife. Erdbeergewächse neigen zur Reduktion. Ein entscheidender Unterschied zum Traubenschäumer ist, dass sich das Aroma bereits voll entfaltet haben muss, wenn der Fruchtwein unter Zugabe von CO₂ in die Flasche kommt. Der Vin Mousseux aus Trauben muss sich entwickeln, der Erdbeerschaumwein soll sein Aroma bewahren. Im Dezember wird der neue Keller eröffnet und Mathias Bechtel denkt schon über neue Projekte nach.