Gaillac & Co.

Vergessenes Wunderland

Text und Bilder: Rolf Bichsel

  • In Gaillac teilt sich die Rebe die Hänge mit Sonnenblumenfeldern, Rapskulturen, Wiesen, auf denen friedlich Kühe weiden. Natur ist hier omnipräsent.
  • In Gaillac fasst sich französisches Weinbauterroir selber zusammen, von Bordeaux (Kies, Geröll, Sand) bis Burgund (Lehm, versetzt mit Kalk).

Frankreich ist schon ein seltsames Weinland. War es wohl schon immer. Auf der einen Seite die Stars – Bordeaux, Burgund, Champagne, Rhône und, seit einiger Zeit, das Languedoc – und auf der anderen Seite die Looser, die Hungerleider, die Vergessenen. Bergerac, Cahors, Madiran, Macon, die Loire, Bandol oder Gaillac, zufällig zitiert aus einer ellenlangen Liste von Dutzenden verkannter Regionen. Krass, dieser Einstieg? Mag sein – aber lesen Sie zuerst weiter.

Frankreich, das einst grösste Weinland der Erde (über 2 000 000 Hektar Reben Mitte des 19. Jahrhunderts, heute geschrumpft auf kärgliche 800 000 Hektar) tut sich schwer mit demokratischer Sicht der Dinge. Weinmässig ist Frankreich eine Monarchie geblieben, regiert durch einen privilegierten Weinadel, der für seine Untertanen nur einen mitleidigen Blick übrig hat. Genau genommen gilt das ja sogar innerhalb einer Region. 95 Prozent (hervorragend gemachter) Bordeaux haben grösste Mühe, anerkannt zu werden: Im Burgund oder der Rhône ist das ähnlich. Schuld an dem Schlamassel? Natürlich der Konsument und sein Partner, der Handel, die über das Gesetz von Angebot und Nachfrage entscheiden. Wirklich? Eins ist gewiss: Der Weinfreund, der nach Entdeckungen hungert, muss nur zu oft den Weinpilgerstab in die Hände nehmen und vor Ort nach verborgenen Schätzen fahnden. 2 000 000 Hektar? Sie haben richtig gelesen. Zwei Millionen Hektar Rebfläche zählte Frankreich zwischen 1830 und 1875. Dann ging es brutal bergab und nie mehr so richtig bergauf. 1875? Sie wissen schon, die Reblauskrise. Nur die Schönen und Reichen hatten damals die Mittel, dem gefrässigen Insekt einigermassen stand zu halten. Erst als die Rebpfropfung zum Allgemeingut wurde, konnten auch die Kleinen den Kopf wieder etwas höher tragen. Doch bis es so weit war, verstrichen gut und gerne 25 Jahre. Fast eine Generation. Viele ehemalige Winzer mussten ihrem Handwerk den Rücken kehren. Die Glücklicheren konnten bleiben, wurden Ziegenbauer, Rosenzüchter, bauten Cassis oder Johannisbeeren an, pressten Äpfel zu Most statt Trauben. Die anderen wanderten aus, bevölkerten die Bergwerkstollen und Fabriken des Nordens und träumten von vergangenen Winzerzeiten. Eine Illustration nur: Die Bevölkerung des einst blühenden Winzerdorfes Tavel sank zwischen 1875 und 1877 von 2000 auf 600 Einwohner und hat bis heute nicht die alte Einwohnerzahl erreicht, trotz Supermarktketten, dreier grosser Städte in der Nähe, trotz wieder florierender Weinkultur. Immerhin: Tavel hat sich wieder einen Namen geschaffen. Vielen anderen ist das nicht geglückt. Den Cevennen zum Beispiel. Nur gerade im Südosten hat der Weinbau wieder Fuss gefasst. Andere Bergweine, auf den Ausläufern des Zentralmassivs gelegen, sind nur mehr Legende, von ein paar dickköpfigen Guerillas am Leben erhalten: Marcillac im Aveyron, Estaing, Entraygues-et- Fel, Côtes-de-Millau. Eine Art Zwitterdasein führt Gaillac, eine der ältesten Weinregionen der Welt. Die AOC-Fläche ist hier wieder auf 3000 Hektar angewachsen. Doch vor der Krise standen hier 20 000 Hektar unter Reben. Im ganzen Departement Tarn waren es sogar 60 000 Hektar. Ende des 20. Jahrhunderts wurden in Gaillac noch 4000 Hektar Wein produziert: In den ersten Jahren des neuen Jahrtausends wurden 1000 Hektar gerodet, mit Prämien der Europäischen Union. Die vier anderen aufgeführten Gebiete sind auf die Grösse eines Weinguts geschrumpft.

Top-Terroir und ideales Klima
Gaillac? Ich wollte nie in meinem Leben Winzer werden und werde das garantiert auch nie. Aus tausend Gründen übrigens. Doch wenn mich jemand fragt, wo ich mich niederlassen würde, wenn trotzdem und so, antworte ich trotzig: in Gaillac. Nein, nicht weil Rebland hier günstig zu haben ist. Sondern weil die Region einfach alles bietet, was man sich nur wünschen kann: Landschaften von atembrechender Schönheit, mit Hügeln, Flüssen, Tälern, Feldern; Geschichte, Kultur, mit uralten befestigten Dörfern oder Bastides, wie das hier heisst, einst von den Engländern errichtet, die hier 300 Jahre lang das Sagen hatten und bis heute Spuren hinterlassen haben: Lieblingssport im Südwesten ist nicht Fussball noch Corrida: Lieblingssport ist Rugby. Und natürlich gibt es hier Weinbauterroir vom Besten – Lehm und Kalk wie im Burgund, Kies wie im Médoc. Und ein geradezu ideales Klima, gemischt aus kontinentaler Ausgewogenheit, atlantischer Feuchtigkeit, gewürzt und abgeschmeckt durch Mittelmeerwärme. Und eine Sammlung alter Sorten, die anderswo längst verschwunden sind: Braucol (Fer Servadou), Duras, Prunelard Noir, Lendelel (Loin de l’Oeil), Ondenc, Mauzac oder Muscadelle. Die allerdings mehr und mehr unter Druck der internationalen Varietäten geraten: Sauvignon Blanc, Cabernet, Merlot, Syrah. Praktisch verschwunden sind die produktiven Landweinsorten, mit denen nach der Krise aufgestockt wurde: Blauer Portugieser, Jurançon und Gamay. Auch der Sémillon gehört zu den Sorten, die für die AOC künftig nicht mehr zugelassen sind. Liest man sich durch die Geschichte von Gaillac, kann man nur staunen darüber, dass es die Appellation immer noch gibt. Empfindet Bewunderung für die ortsansässigen Winzer oder die vielen Einwanderer, die an der Region festhalten und damit am alten Sortenspiegel. Selbst, wenn sie das oft nur schaffen, indem sie neben einer beschränkten Menge AOC-Wein Mengen an IGP-Weinen (IGP Tarn) produzieren, die, weil sie allgemein verbindlich sind, auf dem internationalen Markt eine grössere Chance haben als die für so manchen Gaumen ungewohnten AOC-Spezialitäten. Auch die Weinvielfalt ist kein gutes Marketingargument. Denn in Gaillac wird so gut wie alles produziert, was unter der Flagge «Wein» segeln darf: süsser und trockener Schaumwein, trockener Weisswein, Süsswein, oxidativ ausgebauter trockener Weisser, Rosé, leichter Rotwein im Primeur-Stil, mächtiger, gut strukturierter Rotwein mit viel Reifepotenzial.

Stetes Auf und Ab über die Jahrhunderte
Glaubt man dem Historiker und Weingeograf Roger Dion, dessen Arbeiten bis heute als Grundlage für alle Kollegen dienen, gehört Gaillac gemeinsam mit Tain l’Hermitage zu den ältesten Weinregionen Frankreichs. Weinbau soll hier schon in vorchristlicher Zeit Wurzeln gefasst haben. Dazu fehlt allerdings jeder schriftliche Hinweis, sieht man vom Satz des ungefähr im Jahre 60 vor Christus geborenen griechischen Historikers Strabon ab, der festhält, dass das Gedeihen römischer Traubensorten jenseits der Cevennen unsicher sei, was eher gegen Dions These sprechen würde. Immerhin: Gaillac lag an einer wichtigen Handelsroute, ab Gaillac war der Fluss Tarn beschiffbar, die Route führte über die Garonne bis nach Bordeaux, und in Montans bei Gaillac entstand in den ersten Jahrzehnten nach Christus eines der ersten Keramikateliers der gallorömischen Provinz. In der Umgebung waren die Scherben römischer Amphoren so zahlreich, dass sie den Anwohnern für den Häuserbau dienten. Scherben von Gefässen, die nachweislich aus diesem Atelier stammten, wurden auch in Bordeaux gefunden: allerdings nicht solche von Weinamphoren. Ab dem ersten Jahrhundert nach Christus wurde Wein mehr und mehr in Schläuchen aus Tierhäuten (es gab regelrechte Zisternenboote) oder Barriques transportiert, und deren Überreste überdauern nicht die Jahrhunderte. Es wird daher wohl für immer ungewiss bleiben, ob Weinbau in Gaillac älter ist als in Bordeaux und ob Wein aus Gaillac bereits zur Römerzeit bis in die Stadt und damit den Hafen gelangte. Immerhin gibt es genügend Hinweise dafür, dass Gaillac in den ersten Jahrhunderten nach Christus ein blühendes Anbaugebiet war. Der Zusammenbruch des römischen Reiches, die darauff olgende Zeit der Unsicherheit, Raubzüge der Sarazenen, die das heutige Spanien besetzt hielten, und der Wikinger, die in ihren Langbooten bis weit ins Landesinnere vordrangen und alles raubten, was nicht niet- und nagelfest war, machten dieser ersten Blütezeit des Weins den Garaus. Auch die nächsten Jahrhunderte waren ein einziges Auf und Ab für den Weinbau von Gaillac. Auf ein paar Dutzend Jahre des Aufschwungs folgte ein neuer Niedergang, sei es durch Grenzkonflikte, Religionskriege, Pest und andere Katastrophen. In den besten Jahren gerieten die Weine aus Gaillac bis an den englischen Hof und waren dort so begehrt, dass sie auch mal gefälscht oder mit anderen Wein gepanscht wurden. Die ortsansässigen Winzerund Händler organisierten sich und erfanden sogar eine Art frühen Ursprungsschutzes. Fässer mit Gaillac wurden mit dem Siegel eines Hahns gebrandmarkt, bis heute Symbol für die Weine aus der Ecke, und als Dünger wurde einzig Taubenmist zugelassen, was erklärt, warum die Region so reich an Taubenschlägen ist. In schlechten Jahren versauerten die Weine im Fass, weil sie, wie alle Weine des so genannten Hochlands, erst in den Bordelaiser Hafen eingeführt werden durften, wenn Bordeaux seine Weine losgeworden war.

Im Jahre 1509 verfassten die Konsuln (Stadtregierung) von Gaillac folgenden Werbespruch: «In (…) Gaillac werden gute, starke und kräftige (forts et puissants) Weine produziert, die besser werden, je weiter man sie über Meer und Land transportiert.» Die Rotweine aus Gaillac mögen folglich auch mal dazu gedient haben, schwachbrüstige Bordeaux aufzubessern. Etwa zur gleichen Zeit liess der französische König François I. seinem britischen Kollegen Henry VIII. 50 Fässer Gaillac überreichen. Und Gaillacs Winzer gründeten die erste Weingilde überhaupt: «La Compagnie de la Serpette», die Sichelkompanie. Die Blütezeit des Gaillac dauerte – immer wieder unterbrochen durch Klima- und andere Katastrophen, Konkurrenzkampf oder Pflanzverbote – bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. 1860 hielt Jules Guyot fest, dass 15 Prozent des Departements Tarn Reben trügen, der Ertrag bei 20 Hektolitern pro Hektar liege und ein Viertel des Einkommens der Bevölkerung aus dem Weinbau stamme. Er führt an, dass die Rotweine aus Fer Servadou, Prunelard und Negrette verschnitten seien und die Weissen aus Mauzac, Len de l’El und Ondenc, und riet von den Sorten des Languedoc ab, die hier ebenfalls angebaut wurden. 1938 erhielten die Weissweine von Gaillac die AOC zugesprochen: Die Rotweine folgten erst 1970.

Ab nach Gaillac!
Und heute? Ich habe vergeblich versucht, in Bordeaux, dieser Neue-Welt-Weinkapitale, wo es fast alles zu haben gibt, was einigermassen flüssig ist, eine Flasche eines der weniger bekannten Gaillac-Produzenten zu finden. (Rot-) Weine aus Gaillac werden vor allem in Pariser Bistros über den Tresen geschoben, der Rest regional an die immer zahlreicher werdenden Touristen dieser besuchenswerten Region vertrieben. Mit etwas Glück treibt man ein paar Flaschen bei einem passionierten Weinhändler auf (danke, ihr unbekannten Freunde, die ihr immer noch an Frankreichs «Kleine» glaubt!), der nicht nur Mainstream im Angebot führt. Sonst bleibt dem Weinfreund nichts anderes übrig, als sich selber auf die Socken zu machen. Glauben Sie mir: Es lohnt sich.

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