Thomas Vaterlaus über die Schattenseiten des Weintourismus

Alles wunderbar bunt hier

Text: Thomas Vaterlaus

Während der Weinkonsum stagniert, läuft der Weintourismus auf Hochtouren. Doch je mehr entlang der Weinrouten die Zeichen auf Hyperaktivismus, Luxus und Bling-Bling stehen, desto stärker sehnen wir uns nach stillen, beschaulichen Winzerdörfern – nach Orten, wo neben der Kirche eine gemütliche kleine Kneipe steht.

Es ist schon ziemlich crazy: Etwa wenn du an einem Samstagmorgen im Napa Valley auf dem Highway 29 im Touristen-Stau nach Norden fährst. Vielleicht parken vor der Oakville Grocery gerade mal wieder ein Dutzend 911er Vintage-Porsche eines Oldtimer-Clubs, und während die schon etwas älteren Herren in ihren Karren verharren – vielleicht, weil sie nicht möchten, dass man ihre Verrenkungen beim Aussteigen mitverfolgen kann –, decken sich die tendenziell noch etwas agileren Gattinnen im Shop tüchtig mit «Sea Salt Crackers» und «Caramelized Balsamic Onion Jam» ein. Und noch während du diese Szenerie beobachtest, rasen acht Mountain-Biker aus einem Rebberg und verschwinden in einer gewaltigen Staubwolke. Gleichzeitig knattern über dir Helikopter talaufwärts, um Gäste zum Lunch nach Yountville zu bringen. So ist das halt an einem Samstagmorgen im Frühsommer im Napa Valley – da erscheint es fast schon als glückliche Fügung, dass nun Dank dem Ausbleiben mancher europäischer Besucher etwas mehr Ruhe ins Tal kommt. Doch das Napa Valley ist längst nicht die einzige Weinregion, die sich zum Wein-Themenpark entwickelt hat. Auf der Elsässer Weinstrasse, zwischen Fachwerk, Blumenkisten und Foie gras in der Vollkonserve, ist der Rummel noch viel grösser. Und weil hier alles auf eine preissensiblere Kundschaft ausgerichtet ist, die auch in Car-Ladungen hierher verfrachtet wird, wirkt der Rummel hier noch wesentlich trauriger als das durchpolierte Bling-Bling nördlich von San Francisco.

Yountville, Saint-Émilion, Beaune, Riquewihr, Meran, Vila Nova de Gaia oder Riomaggiore in den Cinque Terre, das zeitweise wegen Touristenüberflutung gesperrt werden musste – die Liste der Weinstädtchen, die an der Schwelle zum Massentourismus stehen oder diese schon überschritten haben, wird immer länger. Und sogar die Naturwein-Aficionados haben inzwischen ihre heiligen Pilgerorte, zu denen sie in Scharen strömen. Ein Beispiel ist Arbois im Jura: Hier sieht man japanische und amerikanische Freaks und Groupies, bewaffnet mit kopierten Weinkarten von angesagten Naturwein-Bars, durch die Rebberge streifen, um mutmassliche Winzer anzusprechen, die sie zuvor per Mail und Telefon nicht erreichen konnten. Oder sie fotografieren abends vor den Winzerhäusern mit grosser Ehrfrucht die dreckigen Winzerschuhe und posten diese dann sofort auf Instagram.

«Das Paradies ist nebenan»

Natürlich sollten wir uns darüber freuen, dass es noch Bereiche der Weinbranche gibt, die boomen, was das Zeug hält. Privat scheint mir aber eine andere Frage wichtig: Wie können wir persönlich diesem Wahnsinn entfliehen? Müsste ich dazu einen Ratgeber verfassen, würde ich Folgendes empfehlen: Reisen Sie in Jahreszeiten, in denen sonst kaum jemand unterwegs ist – von Oktober, also nach der Ernte, bis April. (Stellen sie aber vorher noch sicher, dass in den entsprechenden Regionen keine Weihnachtsmärkte stattfinden!) Die Rebberge haben im Winter sowieso ihren ganz besonderen Charme, gerade im Elsass, wenn sich der Nebel über Crus und Dörfer legt und die währschafte Küche viel besser schmeckt als im Hochsommer. Noch wichtiger: Meiden Sie sämtliche Hotspots, die in den Wein-Reiseführern empfohlen werden, ganz nach dem Motto des niederländischen Schriftstellers Cees Nooteboom. «Das Paradies ist nebenan» lautet einer seiner Buchtitel. Vom Napa-Valley-Bling-Bling bis zur naturverbundenen Weinfarmer-Idylle im Sonoma County ist es nur ein Katzensprung. Nirgendswo sonst spüren wir das North-Co­ast-Feeling so pur wie im rustikalen «River’s End Restaurant & Inn», wo der Russian River in den Pazifik mündet. Und von der Rioja-Metropole Haro, in der im Bahnhofsviertel bei Muga und López de Heredia der Bär steppt, ist es nur ein Katzensprung ins herrlich verschlafene San Vicente de la Sonsierra, wo man bei Toni sehr gut essen kann. Überhaupt hat Spanien noch viel Unverfälschtes zu bieten. Ist Toro in Castilla y León nicht vielleicht der schönste Winzerort überhaupt? Hoch über dem Duero-Fluss thront die winzige mittelalterliche Altstadt, durch deren eines Stadttor abends der kühle Wind hineinpfeift und durchs andere wieder raus. Dazwischen findet man die eine oder andere gemütliche Tapas-Bar und ein im besten Sinne solides Hotel im traditionellen Stil. Wer hier ausserhalb der Reisesaison einkehrt, ist mit grosser Wahrscheinlichkeit der einzige Auswärtige am Tresen. Was für ein Glück!

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