Thomas Vaterlaus über die Heile Welt im Weinkeller
Ich geh dann mal nach unten
Text: Thomas Vaterlaus
Wenn uns immer mehr durchgeknallte Idioten die Stimmung vermiesen, ist die Zeit gekommen, es sich tief unten in einem alten Weinkeller im Burgund oder der Rioja gemütlich zu machen. Denn zwischen Spinnweben, Kellerkatze, alten Fässern und gereiften Crus in Griffnähe ist die Welt immer in allerbester Ordnung.
Es klingt blöd, aber es ist wahr: Wenn es oberirdisch immer unterirdischer wird, dann können wir Weinliebhaber unterirdisch noch immer oberirdisch Schönes erleben. Wenn Sie wissen, was ich meine... Die Gewölbe von Ruinart in der Champagne beispielsweise, die Bodega von López de Heredia Viña Tondonia in Haro oder der Keller von Bouchard Père & Fils in Beaune sind ideale Therapiestätten, um uns von der zunehmend krank machenden Trübsal der oberirdischen Gegenwart zu befreien. Mit jedem Schritt, den wir in so einen Keller hinabsteigen, fühlen wir uns besser. Das Tageslicht verschwindet genauso wie der Geräuschpegel des Alltags. Und ziemlich schnell verschwinden auch der persönliche Stress, die Politik, die Fakenews, der oberflächliche Kommerz, die Super-Rabatte. Und irgendwann kommt dann jene sehr, sehr wichtige Treppenstufe, wo Gott sei Dank auch noch Wireless- und Mobilfunk-Netz aussteigen, also bye-bye E-Mail, bye-bye Erreichbarkeit, bye-bye Social-Media-Schwachsinn. Das ist der Moment, in dem wir angekommen sind in einem dieser Labyrinthe des Glücks, so verwinkelt, dass wir ohne Hilfe (und ohne Kerzenlicht bei leerem Akku) womöglich nie mehr den Ausgang finden würden. Aber wäre das wirklich so schlimm? Wir sind ja nicht allein. Da sind alte Fässer und staubige Flaschen im gelben Licht der Funzeln, deren Glühbirnen kaum zu sehen sind hinter all den ineinander verpappten Spinnweben. Wir begrüssen mit Handschlag die Kellerkatze, den «Zasmidium Cellare», auch «Cladosporium Cellare» genannt. Und wieder wird uns bewusst, wie gut es in so einem Keller riecht, nach Erde, nach verdunstetem Wein und nach allerbestem Moder. «Manche denken, es sei hier dreckig. Aber Spinnweben und Staub sind eben kein Dreck, sondern wichtige Elemente jener Mikroflora in diesem Keller, die es möglich macht, hier Weine jahrelang im Fass auszureifen, ohne dass sie dabei ihre Frische und ihre Frucht verlieren», sagt María José López de Heredia aus der Besitzerfamilie der gleichnamigen Bodega. Darum haben die Kellerarbeiter den Auftrag, sehr vorsichtig zu agieren, wenn eine Glühbirne ausgewechselt werden muss. Die Spinnweben sollen nicht kaputtgehen.
Die entspannend wohltuende Wirkung solcher alter Keller ist phänomenal. Und wird nochmals um ein Vielfaches gesteigert, wenn wir die Möglichkeit haben, eine der hier gereiften Essenzen zu entkorken und zu geniessen. Kein Joint, kein Antidepressivum, keine Yoga-Stunde oder Hot-Stone-Massage kann da mithalten. Und was hier unten, tief unter Tage, ganz besonders tröstlich erscheint, ist die Tatsache, dass diese alten Weinkeller viel, viel Schlimmeres überstanden haben als unsere kleinen gegenwärtigen Sorgen und Problemchen. Kriege, Pandemien und Naturkatastrophen sind an diesen unterirdischen Gewölben und den Schätzen, die sie behüten, wie Unwetter vorbeigezogen. Denn wenn die Weine erst mal im Keller schlummern, gibt es im Gegensatz zur Reifezeit im Rebberg keine guten oder schlechten Jahre mehr. Besonders eindrücklich hat der niederländische Fotograf Erwin Olaf (1959 bis 2023) im Rahmen des Ruinart-«Carte Blanche»-Artwork-Programms im Jahr 2016 die Magie der Kreidekeller unter der Stadt Reims mit seiner Hasselblad-Kamera festgehalten. Seine grossformatigen Schwarz-Weiss-Fotografien stellen die Strukturen der nackten Kreidefelsen jenen Zeichnungen und reliefartig in den weichen Kreidestein geritzten Symbolen und Zeichen gegenüber, die unbekannte Menschen hinterlassen haben. Vielleicht waren es Kellerarbeiter, vielleicht aber auch einstige Bewohner der Stadt Reims, die während der Weltkriege hier unten Schutz gefunden haben.
Je älter, umso besser
Es sind für mich kurioserweise einzig und allein die alten (je älter, umso besser!) und tief unter der Erde angelegten Keller, welche jene besondere, unnachahmlich wohltuende Wirkung entfalten können. Neubauten, selbst wenn sie von Stararchitekten geplant und von der einschlägigen Presse als wegweisend und innovativ gefeiert werden, schaffen das nicht. Sie mögen spektakulär, kühn oder gar avantgardistisch sein und durchaus eine ganz besondere, eigenständige Suggestionskraft entfalten, aber es sind für mich dann letztlich eben doch Relikte jener Gegenwart, von der wir uns eben gerne mal für ein paar Stunden verabschieden, um dann geläutert und mit neu gefundener Zuversicht in sie zurückzukehren.