Thomas Vaterlaus über Luxusprobleme von eingefleischten Weinliebhabern

Die ständige Jagd nach dem noch besseren Wein

In jungen Jahren, wenn die Weinleidenschaft gerade einsetzt, können vergleichsweise einfache Weine grosse Emotionen auslösen, die man nie mehr vergisst. Später braucht es immer spektakulärere Weine, um einen ähnlichen Kick zu bewirken. Gibt es eine Therapie gegen diese Luxuskrankheit?

Im Alter von 22 Jahren räumte ich in unserem alten Keller eine Ecke frei, kaufte in einem Supermarkt eine Sechser-Kiste eines Cru Bourgeois aus Bordeaux, dessen Namen ich schon längst wieder vergessen habe, und legte diese zusammen mit ein paar Einzelflaschen in ein Weinregal. Ich war mächtig stolz auf meinen «Weinkeller» und inspizierte ihn mit grosser Regelmässigkeit, um zu schauen, ob mit den Flaschen auch wirklich alles in Ordnung war. In der gleichen Zeit heiratete ein Freund, und beim Hochzeitsfest wurde ein Beaujolais aus Fleurie ausgeschenkt. Von den etlichen Hochzeiten, die ich miterleben durfte, war diese eine der wenigen, die sich wirklich zu einer rauschenden Party entwickelte, was ich auch der magischen Kraft dieses süffigen Fleuries zuschrieb. Nicht nur an diesem Abend, sondern auch in der Zeit danach war er für mich der beste Wein der Welt.

Doch mit den Jahren lernt der Weinliebhaber dazu. Unzählige sensorische Eindrücke und Einschätzungen über Weinbaugebiete, Sorten, Winzer, Jahrgänge und einzelne Weine speichern sich im Gehirn ab. Man wird so eine Art wandelnde Wein-Bibliothek oder -Datenbank. Man geniesst das Privileg, die Weine einschätzen und einordnen zu können. Gewisse Weine sind schnell abgehakt. Man weiss natürlich längst, dass der Cru Bourgeois oder der Beaujolais Fleurie von damals nicht zu den besten Weinen dieser Welt gehören, und schämt sich fast ein bisschen dafür, dass diese Gewächse damals so viel auslösen konnten. Man trinkt ja nun qualitativ viel Besseres. Und muss doch zugeben, dass dieses Bessere einem längst nicht immer den Kick von damals zurückbringen kann.

Immer besser, seltener und teurer

In diesem Stadium der Weinliebhaberei entwickelt sich bei vielen Weinfreaks ein gefährlicher Mechanismus, nämlich die permanente Jagd nach dem noch Besseren, worunter meist das noch Teurere zu verstehen ist. Wer das nötige Kleingeld hat, geniesst nun vorzugsweise Topweine, lieber noch Kultweine und schliesslich die vermeintlich besten Weine der Welt. Ganz ähnlich wie bei der nach oben offenen Richterskala, die Erdbeben misst, bestehen diesbezüglich preislich kaum noch Limits, wenn man bedenkt, dass der aktuelle Jahrgang eines Musigny Grand Cru von der Domaine Leroy leicht 20 000 Euro kosten kann. Und selbst wer damit durch ist, ist noch nicht am Ende, lässt sich doch das ganze Prozedere auch noch mit Magnum- oder Jeroboam-Flaschen durchspielen. Bleibt zu hoffen, dass es bei diesen Raritäten dann wirklich die sensorische Qualität des Weines ist, die den Kick auslöst, und nicht der Preis, den man für die Flasche bezahlt hat.



Das hier beschriebene Phänomen spielt sich natürlich nicht nur in der Weinszene ab. Ein Sammler von Auto-Oldtimern offenbarte kürzlich in einer TV-Sendung, dass er sein beeindruckendstes Fahrerlebnis kurz nach der Autoprüfung hatte, mit einem Simca 1000, den er damals von seinen Eltern geschenkt bekommen habe. Auf die Frage, welches Auto ihm den heute womöglich ein ähnliches Hochgefühl bereiten könnte, nannte er den Gulf-Porsche 917, den Steve McQueen im Jahr 1970 im Film «Le Mans» fuhr. Auch nicht gerade ein billiges Auto.

Auf der Suche nach dem sensorischen Reset

Schon seit längerem stelle ich mir die Frage, wie wir die frühere, vielleicht naive, aber auf jeden Fall pure Freude an vorgeblich einfachen Weinen zurückgewinnen können. Wenn sich technische Geräte in ihrer Komplexität verheddern, können wir einfach den Reset-Knopf drücken, der das Gerät wieder in einen vordefinierten Anfangszustand zurückversetzt. Das ist bei uns Menschen nicht so leicht möglich. Oder doch?

In den frühen Jahren des Restaurants «El Bulli» von Jahrhundertkoch Ferran Adrià bekamen die Gäste beim Eintritt ins Lokal manchmal eine frisch gepflückte Rose überreicht. Sie sollten sich für einige Sekunden ganz auf diese ästhetisch vollkommene Blüte und ihren einzigartigen Duft konzentrieren und sich damit «reinigen» und öffnen für das darauf folgende sensorische Spektakel. Es ist ein Mechanismus, der auch beim Weingenuss funktionieren kann. Das Bewusstsein um die individuelle, sensorische Wahrnehmung und deren permanente Pflege ist diesbezüglich so etwas wie der Schlüssel zum Glück. In besonderen Situationen, alleine oder zusammen mit besonderen Menschen genossen, kann so ein vergleichsweise einfacher Wein erneut zum ganz besonderen Gewächs werden. Und plötzlich ist er wieder da: der Kick von damals…