Klartext
Der Reiz der guten, reifen Weine
Text: Rudolf Knoll rudi.knoll@vinum.de, Foto: VINUM
Guten Wein zu geniessen kann gelegentlich förmlich abenteuerlich sein. Immer wieder mal wird man – gegen die Lehrmeinung – angenehm überrascht. Zunächst ungeniessbar anmutende Tropfen erleben einen erstaunlichen Wandel. Andere bleiben im Anbruch lange Zeit stabil und werden dabei vielleicht sogar noch besser.
Letztes Jahr an einem Septemberabend schnappte sich der Schreiber dieser Zeilen aus seinem Privatkeller einen trockenen 2017er-Riesling aus dem Weingut Geheimer Rat Dr. von Bassermann-Jordan aus Deidesheim in der Pfalz. Es war eine Premiumselektion anlässlich des 300-jährigen Betriebsjubiläums im Jahr 2018. Entkorkt wurde der exzellente Wein, weil man sich noch etwas besonders Gutes gönnen wollte. Denn am nächsten Morgen stand bereits früh um 8 Uhr ein Operationstermin wegen einer doch marode gewordenen Hüfte an. Der Riesling begeisterte, aber Vorsicht war geboten. Restalkohol in der Klinik musste nicht sein. Also kam die halb geleerte Flasche schweren Herzens in den Kühlschrank. Vier Wochen gingen mit Krankenhaus-Aufenthalt und anschliessender Reha ins Land. Bei der Rückkunft ein trauriger Blick auf die Buddel, deren Inhalt eigentlich nach der Lehrmeinung abgestanden sein musste und nicht mehr trinkbar sein konnte. Aber Neugierde durfte sein. Der Probeschluck war eine Offenbarung, der Wein schmeckte taufrisch und mindestens genauso gut wie im Vormonat, und das ohne jede Manipulation mit Stickstoff oder sonstigen Wundermitteln.
Das zeigt auf, dass uns Wein immer wieder positiv überraschen kann. Wir Journalisten stellen gern mal nach Verkostungen besonders gute Weine auf die Seite und nehmen uns vor, sie bei passender Gelegenheit zu trinken und nicht nur auszuspucken. Sie geraten für ein Weilchen in Vergessenheit, so dass wir nach der Wiederentdeckung zunächst glauben, sie seien nicht mehr geniessbar. Aber das genaue Gegenteil ist oft der Fall. Wir würden am liebsten die Note um einen Punkt nach oben korrigieren, doch das Heft ist längst erschienen…
Natürlich funktioniert so etwas nur, wenn es sich um einen sehr guten Wein handelt. Bei den schlichten, billigen Weinchen aus dem Supermarktregal ist schnell die Luft raus. Hier steht meist die gekühlte Vergärung im Stahltank Pate, die dafür sorgt, dass das Getränk aus der Traube schon kurz nach der Abfüllung frisch und lebhaft anmutet (was oft dazu führt, dass solche Tropfen bei Prämierungen mit Medaillen belohnt werden, die ein Jahr später sehr merkwürdig anmuten).
Das Gegenteil von solchen Turbo-Weinen präsentieren wir schon geraume Zeit mit unserer Rubrik «Entkorkt». Hier werden Gewächse vorgestellt, die nach landläufiger Meinung eigentlich längst hinüber sein müssten, aber immer noch entzücken können. Die Rede ist dabei nicht von endlos haltbaren süssen Konzentraten oder von bedeutenden Rotweinen, sondern von eher normalen, vom Namen her unscheinbaren Weinen. Solche Senioren im Glas verdienen auch Geduld. Gerade bei alten Bordeaux hat man nach dem Öffnen oft den Eindruck von Moder und Schimmel und ist versucht, die Flasche zu entsorgen. Aber nach einigen Stunden Kontakt mit Luft ist aus dem hässlichen Entlein ein stolzer Schwan geworden…
Senioren, die begeistern
Auch mit Weisswein kann man solche Erlebnisse haben. Ewig in Erinnerung bleibt ein Besuch mit einer kleinen deutschen Delegation im Weingut Retzl in Zöbing im österreichischen Kamptal. Winzer Erwin Retzl hat Zugriff auf eine Schatzkammer in einem optimal temperierten Keller neben der Toplage Zöbinger Heiligenstein, in die schon um 1900 die ersten Weine eingelagert wurden. Was hier aufbewahrt wird, ist unverkäuflich. Für uns öffnete er einige Jahrzehnte alte Senioren vom Riesling, die allesamt begeisterten. Dann griff er ganz tief hinein ins Archiv und holte eine von drei Flaschen aus dem Jahrgang 1903 heraus. Ob diese Flasche jemals neu verkorkt wurde, war nicht bekannt, der Korken wirkte auf jeden Fall stabil. Auch die Füllhöhe war gut. Der Winzer goss einen Schluck in ein Glas und liess es in der Gruppe herumgehen. Die vorher fröhlichen Mienen wurden traurig. «Feuchte Kellertreppe, modrig, ungeniessbar» waren die ersten kundgetanen Eindrücke. Die Flasche wurde zunächst einmal auf die Seite gestellt und eine Stunde später nochmal überprüft. «Sensationell», murmelte jemand in der Geniesserrunde. Denn jetzt strahlte der Wein eine tolle Mineralität und
Frische aus und war ein Hochgenuss. Das bisschen Geduld mit ihm hatte sich gelohnt…