On the road

Zu Besuch bei Hipstern, Legenden und Visionären

Text: Thomas Vaterlaus, Foto: John William at Crush Wine Photos, Thomas Vaterlaus

Ein Wine-Tasting mit dem quirligen Javier San Pedro Ortega in seinem dunklen Neo-Gothic-Tempel in Laguardia. Exquisite Abstecher in die Grandezza ikonischer Weingüter wie Marqués de Murrieta oder Ramón Bilbao. Frauenpower mit Biodynamie bei Sandra Bravo in Villabuena de Alava. Und zum Schluss viel Terroir und Mysterium in San Vicente de la Sonsierra – die Rioja 2024 ist ein Schmelztiegel aus zeitlos überzeugenden Konzepten und neuen Wein-Ideen.

Bei der Fahrt nach Laguardia, der Hügelstadt, die majestätisch in der Rioja Alavesa thront, sehen wir ihn bei der Arbeit: den «Wolken-Fänger». Gemeint ist der Bergkamm der Sierra de Cantabria, der die feuchten Wolken, die vom Atlantik herkommen, zurückhält. Wer dieses Wetterphänomen mal gesehen hat, weiss schon viel über das besondere Klima, in dem hier die Trauben reifen. Denn nördlich der Berge regnet es bis zu dreimal mehr als in der Rioja, die in den südlichen Ausläufern dieses Bergzuges dem Ebro-Fluss folgt. Die 2018 eröffnete Bodega von Javier San Pedro Ortega ist leicht zu finden. Sie liegt gleich neben der wohl architektonisch spektakulärsten Kellerei der Rioja Alavesa, Bodegas Ysios, entworfen von Stararchitekt Santiago Calatrava. Aber auch das Weingut des 36-jährigen Newcomers hat optisch einiges zu bieten. Im Rasen vor dem Eingang steckt ein alter Traktor aus dem Jahr 1952, als wäre er vom Himmel gestürzt. Drinnen an der Tasting-Bar wird rasch klar, dass ein paar Tattoos sicher nicht schaden, wenn man sich hier um einen Job bewerben möchte. Die mit der Auszeichnung «Best of Wine Tourism» prämierte Foodpairing-Tour durch den Keller beginnt in einem extrovertierten Neobarock-Ambiente mit einem fröhlichen Tempranillo aus Macération Carbonique zu einer sämigen Steinpilzemulsion mit gerösteten Brotkrumen.

Etwas später folgt dann neben der Flaschenabfüllanlage die «Bitter­sweet-Symphony», bestehend aus dem «Todo el Rato»-Wermut, serviert in einer knallgrünen Einwegspritze. Dazu gibt es Toast mit Sardinen und karamellisierten Zwiebeln. Wer nun denkt, hier stehe das Spektakel im Vordergrund, der irrt. Alles ist minuziös durchdacht und führt ein junges Publikum aus Bilbao, ­Madrid, London oder Zürich direkt zu den Top-Crus der Rioja. Denn deren rare Selektionen zeigen, wohin der Weg in der Rioja geht. Erstens zu mehr Frische, zweitens zu mehr Terroir-Ausdruck.

Javier San Pedro Ortega betreut nicht nur Rebparzellen in Laguardia, seiner Heimat, sondern auch im benachbarten Lanciego, wo seine Frau Maria, die mit ihm das Weingut betreibt, herkommt. Der Vergleich im Glas zeigt: Lanciego bringt eher floral subtile Weine hervor, während die Crus aus Laguardia für mehr gerbstoffbetonte Kraft stehen. Eine Klasse für sich ist La Taconera, das Paradebeispiel eines Viñedos Singulares aus einer 1920 bepflanzten Kleinstparzelle, der mit viel frischer Frucht und noch mehr Spannkraft begeistert.

367 Monate im Keller gereift!

Die Rioja hat viele Gesichter. Viele lernen sie auf dem Pilgerweg nach Santiago de Compostela kennen, der in leicht südwestlicher Richtung durch die Weinberge und den Hauptort Logroño führt. Kirchen, Kapellen und mächtige Klöster mit ihren Heiligenbildern und Altaraufbauten säumen den Weg. Doch nicht weniger eindrucksvoll sind die mächtigen Bodegas. Denn mögen etwa die beiden fast tausendjährigen Klöster Yuso und Suso, wo die ersten Texte in kastilischer Sprache geschrieben wurden, als Wiege der spanischen Kultur gelten, so finden wir in der nicht weniger erhaben im offenen Land thronenden Bodegas Marqués de Murrieta die Essenz dessen, was die Rioja auf höchstem Niveau zu bieten hat. Im neuen, 2021 eingeweihten Kellergebäude einer zeitlos wirkenden Kathedrale des Weins, dessen gewaltiges Volumen (mehr als 25 000 Quadratmeter) sich dank architektonischer Finesse perfekt ins weitläufige Anwesen einfügt, reifen teilweise über Jahrzehnte jene Selektionen, die sich stilistischen Einordnungen souverän entziehen.

Und wie bei der anderen ­Rioja-Legende, López de Heredia in Haro, deren bekanntester Wein die weisse Gran Reserva Viña Tondonia ist, geniesst auch hier ein weisser Cru, nämlich der Castillo Ygay Blanco Gran Reserva Especial, besonderen Kultstatus. Der aktuelle Jahrgang ist der 1986er. Die Trauben stammen von der 1945 bepflanzten Parzelle Pago Capellania im höchsten Bereich der Finca Ygay nahe der Kellerei. Das Elixier reifte 252 Monate in Barriques, dann 67 Monate im Beton und schliesslich nochmals 48 Monate in der Flasche, bis es für trinkreif befunden wurde. «Hinter diesem Wein steht die grösstmögliche Verpflichtung, denn du machst ihn nicht für dich und deine Generation, sondern für die kommende. Mein Vorgänger hat diesen Wein eingekellert, ich habe ihn weiter gepflegt und schliesslich abgefüllt», sagt Maria Vargas, die technische Direktorin von Marqués de Murrieta. 1995 begann sie hier zu arbeiten, seit dem Jahr 2000 ist sie für Anbau und Ausbau der Weine verantwortlich. Niemand hat den besonderen Esprit dieses Weingutes so verinnerlicht wie sie. Das weiss auch Vicente Dalmau Cebrián-Sagarriga von der Besitzerfamilie, der nach dem frühen Tod seines Vaters Mitte der 1990er die Verantwortung für das Gut übernahm, fast zur gleichen Zeit, als auch Maria Vargas hier zu arbeiten begann. Seither bilden der in Madrid lebende Adelige und die Kellermeisterin ein sich ideal ergänzendes Gespann, das dieses Vorzeigegut nochmals weiterentwickelt hat. Die kontinuierliche Erfassung aller Daten einer jeden Parzelle und der Sorten, die dort wachsen, ist der Schlüssel zu ikonenhaften Weinen, zu denen selbstverständlich auch der rote Castillo Ygay, der selbst nach 20 Jahren Flaschenreife noch eine fast jugendliche Spannkraft offenbart, sowie der etwas schmeichlerische Dalmau gehören.

Mehr Granit, weniger Holz

El Barrio de la Estación, das Bahnhofsviertel von Haro, von wo die Rioja-Weine nach dem Ausbruch der Reblauskrise in Frankreich einst direkt aus den Bodegas per Güterzug nach Frankreich transportiert wurden und wo heute noch so legendäre Kellereien wie López de Heredia, La Rioja Alta oder Muga ansässig sind, ist das Herz der Rioja-Weinkultur und ein Magnet für Weinfreaks aus aller Welt. Aber aktuelle Weinbaugeschichte wird auch ausserhalb des Stadtzentrums geschrieben.

«Hinter diesem Wein steht die grösstmögliche Verpflichtung, denn du machst ihn nicht für dich und deine Generation, sondern für die kommende.»

Maria Vargas, Technische Direktorin von Marqués de Murrieta

Im Eingangsbereich von Bodegas Ramón Bilbao im Weinbaustädtchen Haro steht ein knallrotes Tandem-Fahrrad mit Picknickkorb auf dem Gepäckträger, darüber der Slogan «100 years inspired by curiosity». Die Kellerei darf ihr Jubiläum mit viel Selbstbewusstsein feiern, denn in den letzten 25 Jahren hat hier Kellermeister Rodolfo Bastida mit viel Dynamik die neue Rioja-Geschichte mitgeschrieben. Ein Meilenstein war vor zehn Jahren die Eröffnung der Lalomba Winery mit den über 20 speziell für die Kellerei gebauten Tanks aus innen unbehandeltem Beton, von denen die grössten 10 000 Liter fassen.

Hier werden nun unter anderem die Lalomba-Crus aus drei minuziös ausgewählten kühlen Höhenlagen vinifiziert. Die Finca Valhonta liegt in der Rioja Alta rund 650 Meter über Meer, während sich die anderen beiden Fincas Lalinde und Ladero in der östlichen Subregion Rioja Oriental am Monte Yerga zwischen 600 und 800 Metern über Meer befinden. Die Trauben aus diesen kühlen Lagen und die Vergärung im Beton, in den die Rotweine dann oft nach der Holzreife nochmals zum «Finishing» zurückkehren, ergeben Weine, die deutlich mehr kühle Frische und Temperament aufweisen als früher. Das beste Beispiel dafür ist der Lalomba Finca Valhonta 2018, ein reinsortiger Tempranillo, der mit seiner rotbeerigen Finesse fast ein bisschen an einen Pinot Noir erinnert.

Eine Frau bringt frischen Wind

Wer nun glaubt, die Rioja sei fest in den Händen der mächtigen Bodegas und der alteingesessenen Winzerfamilien, der irrt. Es gibt auch Zuzügler, die viel frischen Wind in die Szene bringen. Die 41-jährige Sandra Bravo etwa arbeitete im Priorat, bevor sie im Jahr 2012 in die Rioja kam, genauer ins Winzerdorf Villabuena de Alava, um hier ihre Bodega Sierra de Toloño zu gründen. Heute bewirtschaftet sie in Höhenlagen nach dem Prinzip der Biodynamie rund 25 Parzellen, von denen die meisten mit sehr alten Reben im Mischsatz bepflanzt sind. «Am Anfang war’s nicht einfach. Die Leute im Dorf beobachten Zuzügler argwöhnisch. Inzwischen gehöre ich dazu, auch wenn ich etwas Abstand halte. Aber wenn du hier nicht akzeptiert bist, kannst du auch keine Reben kaufen», sagt sie. Auch den Sinn ihrer vielfältigen Begrünung, die Teil ihres biodynamischen Konzepts ist, verstünden viele der alten Winzer im Dorf immer noch nicht. Doch Sprüche wie «Soll ich dir jetzt nicht endlich mal das ganze Unkraut wegmachen?» quittiert sie inzwischen mit einem souveränen Lächeln. Auch sie strebt trinkig beschwingte, eigenständige Weine mit kaum spürbarem Holzeinsatz an. Perfekt gelungen ist ihr dies etwa mit ihrem La Dula, einem ausgesprochen frischfruchtigen, reinsortigen Garnacha, der in einer Höhenlage im kühlen atlantischen Klima reift.

Dynamische Genossen

Was das Winzerdorf San Vicente de la Sonsierra so besonders macht? Nun, es thront majestätisch über dem Ebro. Zudem gibt es hier ein paar gute Bars und Restaurants. Vor allem aber sehr viele Parzellen mit alten, über 50-jährigen Reben. International renommierte Bodegas wie Contador oder Sierra Cantabria sind beste Botschafter dieses Terroirs. Und jetzt setzt auch die örtliche Genossenschaft, die Bodegas Sonsierra, starke Akzente. Trauben von 500 Hektar werden hier vinifiziert, wobei 65 Prozent dieser Rebfläche einer Familie gehören.

«Am Anfang war’s nicht einfach. Erst als ich mich im Dorf eingelebt hatte, konnte ich Rebparzellen kaufen.»

Sandra Bravo, Winzerin und Gründerin von Bodega Sierra de Toloño

Und dank dieser Familie werden hier Visionen dynamisch umgesetzt. Im Jahr 2017 hat der Consejo Regulador DOCa Rioja eine neue Klassifikation geschaffen, die Viñedos Singulares, für Weine aus klar definierten Lagen, deren Rebstöcke mindestens 35 Jahre alt sind. Keine andere Kellerei setzt diese neue Klassifikation so konsequent um wie die Bodegas Sonsierra. Zwölf Viñedos Singulares will die Kellerei künftig produzieren, neun davon sind entsprechend regis­triert und sechs Weine sind bereits auf dem Markt.

Und nicht nur das: Für die Einzellagen-Crus ist die bestehende Kellerei eigens mit einer Boutique Winery erweitert worden. Die bereits abgefüllten Crus wie El Muérdago (rotbeerig und temperamentvoll), ­Duermealmas (kräftig und würzig) oder El Rincón de los Galos (floral und finessenreich) beweisen, dass dieses Konzept grosses Potenzial hat. Es sind authentische, kernige Weine mit viel Spannkraft, die sich aber doch in Nuancen unterscheiden. Übrigens: Wer etwas länger in diesem Winzerdorf verweilt, wird in den Bars, den Bodegas oder in der «Casa Toni», dem besten Restaurant am Platz, etwas über die Cofradía de la Santa Vera Cruz erfahren, einer Bruderschaft, die besonders in der Semana Santa ihre Prozessionen durchführt, Selbstkasteiung inbegriffen. Aber das ist dann wieder eine andere Geschichte. Und der Wein hat hier genug spannende Storys zu erzählen.