World of Champagne 2021 • Vom Umgang mit Spitzenchampagner
Wie man zum Champagner-Liebhaber wird
Von Rolf Bichsel
Kein Mensch wird als Champagner-Liebhaber geboren. Doch werden kann das jedermann. Der Weg dahin führt direkt über ein paar entkorkte Flaschen. Denn nur verschlossene Champagner munden nicht.
Wie ich zum Champagnerkenner wurde? Oder besser, praktisch über Nacht vom Champagnersaulus zum Champagnerpaulus mutierte? Eine lange Geschichte. Denn auch ich gab mich diesem doofen Vorurteil hin, Champagner sei nur etwas für leichte Mädchen (was ja nur heissen würde, dass leichte Mädchen die bessere Nase haben als schwere Jungen, aber so viel Logik war meinem rotweinumnebelten Hirn vor ein paar Jahrzehnten noch nicht abzuringen).
Als ich Ende der 1980er Jahre zur ersten Recherche in die Champagne geschickt wurde, reagierte ich nicht eben enthusiastisch. Ich traf an einem kühlen, nebligen Wintertag am Bahnhof von Epernay ein, das wie ausgestorben wirkte (ein halbwegs gutes Restaurant, drei, vier Bars, die um 21.30 Uhr schlossen), und machte mich am nächsten Tag im Nieselregen auf zu einer Tour durch die Reben. Dass ich dazu erst eine gute Stunde durch graue Vororte patrouillieren musste, war auch nicht eben angetan, meine trübe Stimmung zu heben.
Mit der Praxis beginnen
Wenn ich heute mehr Champagner geniesse als jedes andere Getränk, Kaffee und Quellwasser inbegriffen, habe ich dies einem einzigen Mann zu verdanken: dem Winzer Alain Soutiran. (Ein Porträt von Tochter Valerie und Schwiegersohn Patrick Renaux folgt weiter hinten.) Er wollte gar nicht erst meine Vorurteile abbauen, mich nicht eines Besseren belehren, sondern nahm mich ganz einfach mit zu einigen der Winzer und Häuser, die sie in dieser Ausgabe finden, erläuterte mir geduldig die geografische und soziale Struktur der Champagne, erklärte mir, wie Champagner entsteht und was Champagner vor allem ist: ein grosser Wein, einem einmaligen Terroir entsprungen, das Paradebeispiel des Zusammenspiels von Natur, Inspiration und Industrie. Dafür werde ich ihm ewig dankbar sein. Er demonstrierte damit genau das, was ich jedem rate, der zum Weinfreund im Allgemeinen und zum Champagnerfreund im Speziellen werden will: Vergessen Sie die Theorie. Beginnen Sie mit der Praxis.
Entkorken Sie ungezwungen Ihre erste Flasche, schenken Sie ein, schnuppern Sie am Glas, lassen Sie sich von niemandem vorschreiben, was Sie dabei zu empfinden haben, und lassen Sie ein paar Dutzend weitere folgen. Eine kurze Reise in die Region hilft, sie besser zu verstehen: die Dreiteilung des Departements Marne – Montagne de Reims mit den besten Pinot-Noir-Lagen, die Côte des Blancs, Hochburg des Chardonnays, das Tal der Marne, wo die wichtigste Sorte der Region, der Pinot Meunier, hervorragend gelingt. Reicht die Zeit, machen Sie einen Abstecher über das Sézannais in die Aube, zum Beispiel nach Urville zu Drappier. Überzeugen Sie sich selbst von der Schönheit der Region und der Rebberge mit ihren mitunter steilen Flanken und den weissen Flecken – wie reingespült –, die belegen, dass der kreidehaltige Untergrund oft nur Zentimeter unter der dünnen Humusschicht liegt, sowie von der immer besser, immer natürlicher werdenden Rebbergsarbeit.
Die Grundlagen
Verschieben Sie den Besuch eines der beeindruckenden Kreidekeller der grossen Marken, die professionell Touristen empfangen, auf später. Melden Sie sich dafür bei einem echten Winzer an und lassen Sie sich die spannenden Etappen der Weinbereitung erklären. Merken Sie sich die paar Grundbegriffe, die es braucht, um Champagner besser zu verstehen.
Die Ernte von Hand in Kisten, damit die reifen Trauben ganz auf die Kelter kommen. Den besonders schonenden Pressvorgang, damit auch die beiden Rotweinsorten Pinot Noir und Meunier nur weissen Saft hervorbringen, in Pressen von genau definiertem Volumen, damit die Ausbeute an Cuvée Premiere (erste Pressung) und Deuxième Taille (zweiter und dritter Pressdurchgang) genau die Menge an Most ergibt, die Qualität garantiert und vorgeschrieben ist. Die erste Gärung im Tank, Fuder oder Eichenfass zur Erlangung eines weissen Stillweins von rund elf Volumenprozent. Die Assemblage, bei der gekonnt Grundweine unterschiedlicher Herkunft vermischt werden, wenn es sich nicht um einen Einzellagenwein handelt. Der Unterschied von «Brut sans Année» (Brut ohne Jahrgang, BSA) mit Zugabe von so genanntem Reservewein aus früheren Jahrgängen und «Millésimé», ausschliesslich aus Weinen eines Jahrgangs verschnitten. Die «Prise de Mousse» nach Abzug des Stillweins auf die Flasche, unter Beigabe von Hefe und wenig flüssigem Zucker, der in der Flasche vergärt und für den Schaum verantwortlich ist. Die waagerechte Lagerung «sur Lattes» (auf Latten), weil jeder Champagner auf der Hefe reifen muss, oft mehrere Jahre oder gar Jahrzehnte. Das «Rütteln», bei dem die Flasche langsam aus der waagerechten Position in die senkrechte kommt, damit der Hefesatz in der Flasche unter den Deckel oder provisorischen Kork gleitet. Die «Dégorgage», bei der dieser Satz aus der Flasche springt, die mit wenig Champagner wieder aufgefüllt und dabei «dosiert» wird, unter Beigabe von wenig Zucker. Die wichtigsten Dosagen: Brut Nature (keine Zuckerbeigabe), Extra Brut (weniger als sechs Gramm Zucker pro Liter) und Brut (heute meist sechs bis neun Gramm bei einer erlaubten Höchstmenge von unter zwölf Gramm.)
Das ist auch schon alles, was es an technischem Wissen braucht. Alles andere ist Praxis. Merken Sie sich höchstens, dass grosser Champagner nicht weniger vielfältig ausfällt als Stillwein. Suchen Sie nach Unterschieden, nicht nach dem fettesten Brocken (der hier ohnehin selten ist).
Was Champagner von Schaumweinen unterscheidet
Wenn Sie nur am Schaum interessiert sind, wählen Sie besser einen preiswerten Crémant oder einfachen Prosecco, statt sich mit traurigen, gesichtslosen Billigchampagnern herumzuschlagen. Was den grossen Champagner von allen anderen Schaumweinen unterscheidet, ist gerade seine Säure, Rasse, Struktur, Mineralität, aromatische Komplexität. Soll die zur Geltung kommen, braucht es das richtige Glas. Enge, hohe Kelche mögen hübsch aussehen, doch das Geniessen erleichtern sie nicht. Wenn Sie keine speziellen Champagnergläser anschaffen wollen, entscheiden Sie sich für eine Bordeaux-Tulpe. Bei uns stehen Dutzende unterschiedlicher Champagnerkelche herum, doch wir verkosten Champagner gemeinhin in einem recht bauchigen, sich nach oben hin verengenden Glas, das eigentlich für grosse Rhône-Rotweine geschaffen wurde!
Wenn Sie mehrere Champagner miteinander vergleichen wollen, beschränken Sie sich auf drei, vier Cuvées. Wir verkosten jährlich hunderte Champagner, doch praktisch nie mehr als sechs pro Sitzung. Champagner ist recht lichtempfindlich. Lagern Sie ihn daher im Dunkeln und liegend, wie jeden anderen Wein. Und schrecken Sie nicht davor zurück, grosse Champagner im Keller reifen zu lassen. Ich tue das seit Jahrzehnten und öffne regelmässig Cuvées, die vier bis 20 Jahre Kellerruhe auf dem Buckel haben. Einen Ausfall habe ich nur einmal erlebt.
Nicht zu lange in den Kühlschrank
Lassen Sie Champagner hingegen nicht wochenlang im Kühlschrank stehen. Das bekommt ihm nicht. Wenn es eilt, geben Sie ihn besser 15Minuten in die Tiefkühltruhe oder verwenden Rapid Ice oder Ähnliches. Auch Eiskübel stehen bei mir einige herum. Ich brauche sie nie. Ich stelle die Flasche auf den Tisch, öffne sie (nach der Lasche suchen, daran zupfen, mit etwas Glück geht die Geschenkverpackung ab, ohne dass alle Fingernägel brechen), lasse den Korken mit leichtem Daumendruck aus der Flasche gleiten und halte ihn mit der Handfläche auf den Hals gedrückt, kontrolliere die Temperatur (die ideale liegt bei acht bis zehn Grad, besser leicht kühler, dann eilt es nicht mit dem Einschenken), serviere eine Runde und stelle die Flasche zurück in den Kühlschrank, wenn sie nicht alle ist – notfalls verwende ich wieder Rapid Ice.
So wird Champagner serviert
Beim Einschenken fasse ich den Fuss des Glases zwischen Zeigefinger und Daumen, neige es um etwa 45 Grad und lasse den Wein entlang der Glaswand gleiten, dann geht auch in einem bauchigen Glas nicht der halbe Schaum flöten. Ich halte die Flasche nicht am Hals fest wie eine Keule, sondern hieve sie mit einer Hand auf die andere, platziere den Zeigefinger in die Delle im Flaschenboden und den Rest der Finger ringsum – mit einmaligem Üben geht das ganz leicht. Ich teile Champagner – am liebsten aus der Magnumflasche– bei absolut jeder Gelegenheit: in gemütlicher Runde vor dem knisternden Kaminfeuer, vor dem Mahl, nach dem Mahl und zu jeder Art von Küche. Champagner ist ein Fest!