Erntetagebuch 2019
J. Vignier
von Nathalie Vignier
Erntezeit, Wonnezeit? Nicht nur! Für die rührige Firmenchefin Nathalie Vignier in Cramant sind diese hektischen und alles entscheidenden Wochen ein einziges Hindernisrennen und ein Kampf an allen Fronten. Hier ihr spannendes und unverfälschtes Protokoll der jüngsten Ernte.
9. August. Indré, verantwortlich für die litauische Ernteequipe, fragt nach dem definitiven Erntedatum. Doch heute ist über den Reben im Sézannais der Hagel niedergegangen. Wir kennen weder das Ausmass des Schadens noch die Auswirkungen auf den Lesebeginn in den davon betroffenen Parzellen.
26. August. Reservieren des Sattelschleppers für den Transport der Erntekisten. Messung der Traubenreife.
27. August. Pressung zur Kontrolle der Reife und der Säure. Wie befürchtet, gibt es Probleme mit der Reife der verhagelten Parzellen im Sézannais. Wir legen den Beginn der Lese trotzdem auf den 9. September fest. Ich informiere Indré und ihren Kollegen Linas per Mail und Vincent und Jean-Luc, die bei der Ernte mithelfen, per Telefon. Bestelle eine Palette Mineralwasser und Fruchtsaft, das Material für die Ernteküche und mehrere Reiseapotheken.
31. August. Mail von Linas: Probleme mit ihrem Mietautoservice, der seine Tarife von 28 auf 45 Euro pro Tag erhöht hat. Weiss nicht, was ich da tun kann. Schliesslich die beruhigende Info: Sie haben eine Lösung und werden teils mit Privatautos, teils mit dem Flieger anreisen. Die gemieteten Traktoren und Anhänger sind eingetroffen.
3. September. Alain, unser Rebarbeiter und Traktorführer, ist aus den Ferien zurück. Vorbereiten und Testen des Überreihen-Traktors. Endloser Papierkram: Deklarierung des Erntepersonals, Dokumente für den Traubentransport, Durchschlagspapier-Heftchen für die Ernteequipen zur Erfassung der Arbeit, Einsatzplan für Paletten, Lastwagen, Equipen. Cédric, zum ersten Mal bei uns, fixiert die Gabel für den Palettentransport. Kauf von Toilettenpapier und Kehrichtsäcken. Neue Reifekontrolle. Die verhagelten Reben haben ihren Rückstand noch nicht wettgemacht. Wir üben uns im Ausfüllen der Reifestatistiken auf der Internetseite des regionalen Winzerrats CIVC, was ab 2020 obligatorisch wird. Ich habe Mühe einzuschlafen, rekapituliere mehrmals, ob ich auch wirklich nichts vergessen habe.
4. September. Die Equipen kommen an. Austeilen und Signieren der Verträge. Erneute Tests des gesamten Materials, von den Schubkarren für den Transport der Kisten über die Laster bis zur Traubenwaage. Test und Einsatz der Waschstrasse für die 1300 Lesekisten, Reinigung und Desinfizierung. Laden und Festhaken der Kisten in vier mal neun Reihen auf drei Eisenpaletten. Reinigen und Desinfizieren der Pressen, der Stahltanks und Fässer.
«Hier in der Champagne passiert die Lese obligatorisch von Hand. Ein echt menschliches Abenteuer, manchmal ganz schön stressig und immer mit minutiöser Organisation verbunden, denn die Trauben warten nicht auf uns! Wir arbeiten mit Equipen aus Polen und Litauen, die ganze Arbeit leisten.»
Nathalie Vignier
7. September. Wochenende. Ausnahmegesuch für die Ernte einer Parzelle junger Reben meiner Schwiegereltern in Pierry für den Sonntag. Sie ist bereits sehr reif und sollte rasch eingebracht werden. Nieselregen zum Erntebeginn.
8. September. Lese mit der ganzen Familie in Pierry bei gutem Wetter. Testläufe und erster Einsatz unserer Pressen. Wir beladen den Lastwagen von Jean-Luc für die Ernte der Parzelle Beaunay bei Etoges (zwischen Vertus in der Côtes des Blancs und der Region des Sézannais gelegen), die morgen beginnt.
9. September. 6.30 Uhr: Empfang von Jean-Luc und Gérard, dem anderen Chauffeur. Sie fahren den Laster aus dem Hangar. Die Equipen trudeln ein. Kleine Willkommensrede. Verteilen der Rebscheren, Kübel und Handschuhe, der Wasserbehälter zum Waschen der Hände, der Reiseapotheken. Eine Stunde später Verteilen der Kisten und Beginn der Lese. Die Trauben sind gesund, reif und süss. Das Wetter spielt mit: strahlende Sonne! Am Nachmittag Ernte in Pierry, alles läuft wie am Schnürchen. Auf den Parzellen Barbonne und Saudoy im Sézannais sondern die Erntehelfer von der Sonne verbrannte Trauben aus, bevor sie mit der eigentlichen Lese beginnen. Alain entblättert einen Hektar Reben, damit die Leseequipen leichter vorankommen. Gemeinsames Nachtessen um 23 Uhr, im Bett um 2 Uhr, trotzdem Mühe mit Einschlafen: Es wirbelt zu sehr in meinem Kopf.
10. September. Alain entblättert eine weitere Parzelle. Ich habe noch gerade rechtzeitig daran gedacht, die Karten für die Anschrift der Paletten auszufüllen. Ein Wagen mit Erntehelfern ist nicht eingetroffen. Ich versuche sie anzurufen, kein Netz. Ich fahre aufs Geratewohl los und treffe auf das Grüppchen vor der Dorfkneipe. Reifenpanne! Sie schaffen es, den Reifen notdürftig zu reparieren. Zurück in den Reben, Verteilen der Equipe auf die Ränge. Es ist ungewöhnlich heiss und trocken, wir dürfen keine Minute verlieren mit der Lese und nehmen eine weitere Parzelle in Angriff. Der Sattelschlepper trifft um 11 Uhr ein. Vincent füllt die Transportdokumente aus und kümmert sich um das Laden der vollen Paletten. Cédric amtet zum ersten Mal als Chauffeur bei uns, doch er leistet ganze Arbeit. Ich atme auf: Die Equipen arbeiten Hand in Hand.
11. September. Verkostung der ersten Presssäfte. Sie schmecken fruchtig und sehr süss, zeigen aber auch gute Säurewerte. Ich fahre so schnell als möglich zurück zur Ernteequipe im Sézannais, versuche die Radarfallen zu vermeiden. Alina hat Schmerzen, sie hat sich an der Kochplatte die Finger verbrannt. Ich verarzte sie, so gut ich kann. Zwei Erntehelfer haben kleine Stühle mitgebracht. Zuerst lachen die anderen darüber, doch dann beklagen sie sich: Die beiden Witzbolde verzögern die ganze Arbeit. Ich versuche es mit Diplomatie. Kaum läuft alles wieder einigermassen, das nächste Problem: Die leeren Kisten wurden schlecht verteilt, was die Ernte erneut verlangsamt und die Equipe ermüdet. Ich komme mir vor wie in der Grundschule. Zurück in Cramant wartet Grégory schon ungeduldig auf mich, um den Ernteplan für Cramant und Chouilly festzulegen, damit er rechtzeitig mit dem Entblättern beginnen kann.
12. September. Die Toiletten in der Unterkunft der Equipen sind verstopft. Alle Güllefahrzeuge der Umgebung scheinen im Einsatz. Erst nach mehreren Anrufen findet Vincent einen einsatzbereiten Güllewagen. Der Chauffeur wartet auf meinen Rückruf. Ich versuche erneut verzweifelt, hier im einsamen Sézannais einen Ort zu finden, wo mein Handy funktioniert. Wenigstens eine gute Nachricht dann: Die verhagelten Reben haben den Reifetest bestanden, wir können auch da mit der Lese beginnen. Ich sause zurück nach Cramant. Jean-Luc hat vergeblich versucht, mich zu erreichen. Eine Persönlichkeit aus dem Dorf hat ihn wissen lassen, dass wir eine Parzelle in einer Zone in Angriff nahmen, die erst ab dem 14. geerntet werden dürfe. Sicherheitshalber hat Jean-Luc die Lese stoppen lassen. Mist! Wir haben alles doppelt und dreifach verifiziert und sogar die schriftliche Erlaubnis des INAO vorliegen, die uns erlaubt, diese Parzelle zu lesen! Die Equipe ist sauer, sie steht untätig herum, statt zu arbeiten. Ich spiele einmal mehr Vermittler. Ich möchte nicht, dass die Leute wegen einer Fehlinformation das Weite suchen und anderswo zu arbeiten beginnen, das wäre eine Katastrophe. Glücklicherweise kommt alles wieder ins Lot.
13. September. Rendezvous mit den Erntehelfern um 6.30 Uhr. Ein Trüppchen französischer Studenten hat sich verfahren. Nach langer Suche treibe ich sie auf: Das hat fast eine Stunde gekostet. Kaum sind wir in den Reben, kommt Alina angelaufen, mit bleichem Gesicht und geschwollener Hand. Sie wurde von einer Wespe gestochen und ist allergisch. Ich fahre sie zum Notarzt. Als ich zurück bin, fehlt einer der Studenten. Er hatte einen Termin beim Ohrenarzt und ist einfach auf und davon. Im Keller ziehen die Mitarbeiter lange Gesichter, eine Presse ist ausgefallen, ein wichtiges Teil ist kaputt. Kein verfügbarer Reparateur weit und breit. Wir finden eine provisorische Lösung.
«Ernte in einem Winzerbetrieb? Papierkram, Unvorhersehbares, viel Arbeit und schlaflose Nächte, doch auch echtes Teamwork und am Schluss, beim Verkosten des ersten Mostes, ein positives Resultat, und nur das zählt.»
Nathalie Vignier
14. September. Wochenende. Die Presse ist repariert. Keiner der Studenten taucht auf. Einer habe eine leichtere Arbeit gefunden, einer sei auf Wildschweinjagd, und von den anderen fehlt jede Spur. Der Keller ist voller unangemeldeter Besucher, um die sich niemand kümmert. Ich erfahre, dass mein Mann einen Unfall hatte. Ein Laster ist ihm über den Fuss gefahren. Für ihn ist die Ernte zu Ende.
15. September. Sonnenschein, über dreissig Grad heiss, kein Mineralwasser mehr. Wo zum Teufel soll ich am Sonntag eine Palette kostbares Nass auftreiben? Damit nicht genug: Im Keller warten 15 schwedische Besucher auf mich, die seit Monaten angemeldet sind, sowie eine ganze Anzahl Touristen, vom Ernterummel angelockt, und die Familien der Kellerarbeiter, die Kaffee und Kuchen mit mir teilen wollen, Kinder galoppieren übermütig durch die Keller und der Fotograf für das Porträt streunt herum wie ein Löwe im Käfig. Noch eine schlaflose Nacht.
16. September. Trotz der Hitze gibt es Sauerkraut mit Wurst und Speck zum Mittagessen. Na ja. Wir finden Kisten ohne Palettenkarten, vermutlich, weil wir den Leseplan kurzfristig angepasst haben und die Ernteequipen, die seit Tagen pausenlos im Einsatz sind, doch langsam müde werden. Ich lasse alles neu kontrollieren. Schliesslich finden alle Kisten zu ihrer Karte.
17. September. Ernte der verhagelten Parzelle. Instruktion der Erntehelfer, nur eine Seite zu lesen und unreife oder faulige Beeren auszusondern, und Demonstration, wie im Innern angefaulte Trauben riechen. Die tüchtigen Litauer leisten ganze Arbeit. Was im Keller eintrifft, ist weit besser als erwartet: Die Messwerte bestätigen das auch.
18. September. Letzter Erntetag. Ich kümmere mich um die Geschenke der Erntehelfer und die Geschenkflaschen mit personifiziertem Etikett und bereite die Abrechnung vor. Ein Teil der Equipe hilft beim Aufräumen, Einmotten des nicht mehr benötigten Materials und Putzen mit.
19. September. Zahltag. Wir organisieren ein kleines Fest, alle strahlen zufrieden. Zum Abschied gibt es Umarmungen und auch ein paar Tränen. Irgendwie ist es, als würde ein Teil der Familie für ein Jahr verreisen. Ich räume den ganzen Papierkram weg und ziehe erste Bilanz: Wir haben die Ernte 2019 heil überstanden. Mengenmässig ist sie zwar bescheiden, doch qualitativ überraschend, und das ist doch wirklich alles, was zählt.