Angélus ist ein Phänomen mit Kultstatus

Château Angélus: Qualität und Emotion

Text & Fotos: Rolf Bichsel

Angélus ist ein Phänomen. Kein anderes Gut hat es in so kurzer Zeit geschafft, Kultstatus zu erreichen. Vielleicht, weil hinter Angélus Menschen stehen, die wissen, dass im Wein auch die emotionelle Seite zählt.

«Wein ist ein multidimensionales Produkt,» sagt Stéphanie de Boüard Rivoal, die Besitzerin von Château Angélus. «Ich mag daran nicht nur den eigentlichen Rebensaft, den Nektar im Glas, sondern auch sein ganz besonderes Umfeld, die emotionale, affektbezogene Seite, die Freude am Teilen und Weitergeben der Emotionen, die Wein auslöst. Wenn ich im Restaurant eine Flasche Wein bestelle, werde ich bei der Wahl durch seine Geschichte, seine Herkunft, und seine Schöpfer ebenso beeinflusst wie durch den eigentlichen Geschmack, den ich von ihm erwarte.»

Die Geschichte von Angélus illustriert sehr gut diese These. Als Stéphanies Vater Hubert de Boüard Mitte der 1980er Jahre seine Arbeit auf dem Familiengut in Saint-Émilion aufnahm, musste er zuerst einmal den Stil von Angélus weiterentwickeln – basierend auf dem Terroir, seinem Wissen und Können als Weintechniker mit abgeschlossenem Önologiestudium, aber auch auf grossen Weinen, wie er sie bei Nachbarn verkosten konnte. In Rekordzeit wurde aus dem durchschnittlich guten Saint-Émilion für die Sonntagstafel so ein Spitzenwein für besondere Gelegenheiten, ein Spitzenwein der Sinnlichkeit und der Gefühle. 1988 ist der erste echt grosse Jahrgang von Angélus und bleibt ein solcher bis heute, wie unsere Vertikale auf der nächsten Seite illustriert. Auffallend an 1988 ist die grosse Leichtigkeit, die Frische, die er bis heute bewahrt. Spätere Jahrgänge besitzen grössere Wucht und Dichte und beeindrucken durch ihre technische Präzision, doch 1988 ist und bleibt ein Wein von besonderem Charme. Stéphanie: «Da haben wir genau diese emotionale Seite. Wir haben zweifellos viel erreicht in den letzten 30 Jahren. Doch Spielraum für Verbesserungen gibt es immer. Seit dem Jahrgang 2016 suchen wir mehr und mehr die Eleganz.» Hubert de Boüard pflichtet ihr bei: «Man könnte sogar sagen, dass wir einen Schritt vorwärts in Richtung des 1988ers mit seiner besonders geschmeidigen Art machen.» Merke: Auf Angélus bleibt alles in Bewegung.

30 Jahre Angélus

Vertikalverkostung

Stéphanie de Boüard verfolgt besonders aufmerksam die Entwicklung ihres Weins über die letzten Jahrzehnte. «Vertikalen helfen mit, Weichen für die Zukunft zu stellen, denn verbessern kann man immer», sagt die Angélus–Besitzerin bestimmt.

Rolf Bichsels zweiter Gutsbesuch in Bordeaux galt (von Ausone herkommend) Château Angélus, wo Mitbesitzer Jean Bernard Grenié ihm den eben erst abgefüllten 1986er zur Verkostung reichte – verblüffend gut gemacht, etwas herb und sehr verschlossen. Ein Jahr später präsentierte ein stiller, junger Mann, der sich als der Weinmacher Hubert de Boüard vorstellte, ihm an gleicher Stelle den blutjungen 1988er. «Ich habe vergessen, wer von uns beiden der Schüchternere war. Doch an eines erinnere ich mich glasklar: Der Rebensaft im Glas hatte absolute Klasse, auf der Höhe der besten Bordeaux. Ab diesem Tag wusste ich: Hier entsteht ein grosser Wein», fasst Rolf Bichsel seine erste Begegnung mit Angélus zusammen. Der 1988er legte den Grundstein für den Erfolg dieses aussergewöhnlichen Gutes, das in nur 40 Jahren vom «einfachen» Grand Cru Classé zum Premier Grand Cru A aufstieg. Er gilt mit dem 1998er stilmässig bis heute als Vorbild. Der 2008er und der 2018er illustrieren ideal seine weitere Entwicklung.

1988

Der erste grosse Angélus-Jahrgang und der erste der ungewöhnlichen Trilogie 1988/1989/1990, die man getrost als fundamental für den Erfolg von Bordeaux bezeichnen kann, stand lange im Schatten seiner vollmundigeren, gefälligeren, ja, pompöseren Nachfolger. Er besitzt bis heute grosse Finesse und schon fast mentholige Frische, aber auch Rasse und erstaunliche Kraft. Die seidigen Gerbstoffe vermitteln besondere Delikatesse. Dafür – und für die besondere aromatische Komplexität – sorgt der verhältnismässig hohe Anteil an Cabernet Franc (45%). Stéphanie de Boüard: «Ich habe 2008 geheiratet und bat meinen Vater, dafür ein paar Flaschen 1988er zu opfern. Ein unvergesslicher Moment!»

1998

Vollmundig und doch subtil, fleischig und doch elegant ist 1998 der nächste Meilenstein in der Angélus-Entwicklung. 1998 gehört bis heute zu den grössten Jahrgängen des rechten Ufers. Angélus 1998 ist verblüffend jugendlich geblieben und beeindruckt durch seine besondere Fruchtigkeit, sein Fleisch und seine Tiefe ohne jede Schwerfälligkeit. Stoffiger als der 1988, doch keinesfalls überkonzentriert verrät er besondere Präzision. Der Wein macht heute enorm grossen Spass und kann doch weiter reifen. Ein vorbildlicher Angélus in jeder Hinsicht!

2008

«Das Jahr meiner Hochzeit! Ich bin da vielleicht nicht sehr objektiv. Die emotionale Seite ist da besonders hoch. Für mich ist unser 2008er ein absoluter Klassiker», kommentiert Stéphanie. Doch auch die anderen Verkoster reagieren begeistert. Wie der 1988er hat auch der 2008er unter seinen wuchtigeren Nachfolgern gelitten, und wie dieser verrät er besondere Frische und Finesse. Das Holz ist perfekt abgestimmt, die fruchtige, trinkige Seite steht im Vordergrund. Resultat einer relativ bescheidenen, durch schwierige Bedingungen während der Blüte geschmälerten Ernte. Man notiert nicht die kleinste Spur von Überreife oder Opulenz. Macht bereits Freude und kann doch weiter reifen.

2018

Ausgerechnet dieser erste Jahrgang der Umstellung auf biologischen Anbau auf Angélus, mit neuem Rebmeister, gehörte zu den klimatisch kompliziertesten der letzten Jahre. Besonders zahlreiche Probleme mit falschem Mehltau hielten die Equipen fast pausenlos in Atem. «Wir glaubten den Jahrgang schon verloren, doch das heisse und trockene Sommerwetter sorgte für einen völligen Umschwung der Situation. Der 2018er stieg gleichsam wie der Phönix aus der Asche! Wir zollten dem Rechnung, indem wir einen Phönix auf die Flasche gravieren liessen», erzählt Stéphanie. Der 2018er präsentiert sich aktuell besonders vollmundig und fleischig, doch dank seiner besonderen Fruchtigkeit und erstaunlichen Spannkraft auch saftig und knackig. Er kann lange reifen, doch wird auch in jungen Jahren bereits Freude machen.

Angélus – Das Interview

Nachdem das Gut die Hürde der höchsten Stufe geschafft hat, dreht Angélus der Klassierung den Rücken. Was hat Besitzerin und Verwalterin Stéphanie de Boüard Rivoal zu diesem Schritt bewogen?

Interview: Barbara Schroeder

Stéphanie, Sie haben sich dazu entschlossen, der Klassierung von Saint-Émilion den Rücken zu kehren, wie das schon Ausone und Cheval Blanc getan haben, die beiden historischen Grand Cru Classés A. Ein mutiger, aber auch ein gewagter Entscheid, nachdem Angélus 2012 als Premier Grand Cru Classé A in die höchste Kategorie aufgenommen wurde.

Lassen sie mich vorab eines klarstellen: Mein Vater und ich (wir vertreten die 7. und 8. Generation der Familie) haben nicht die gleiche Beziehung zur Klassierung. Für meinen Vater war die Klassierung eine Art Heiliger Gral, ein Objektiv, das er sich gesetzt hatte und um jeden Preis erreichen wollte. Ich bin damit gross geworden, doch ich sah in der Klassierung eher ein Mittel, der Arbeit früherer Generationen die Krone aufzusetzen. Für mich stand Angélus im Zentrum, nicht die Klassierung. Ich wollte den bestmöglichen Wein erzeugen, Klassierung hin oder her. Verstehen wir uns richtig: Es handelt sich hier nicht um einen Generationenkonflikt. Wir handeln in gegenseitigem Vertrauen und bestem Einvernehmen. Ich bin mir absolut bewusst, dass ich von dem profitiere, was mein Vater erreicht und geleistet hat. Er ist und bleibt mein bester Berater.

Das soll aber nicht heissen, dass Sie von Anfang weg gegen die Klassierung waren?

Nein, ganz und gar nicht. Im Gegenteil. Die Tatsache, dass man sich die Klassierung alle zehn Jahre neu verdienen musste, mit der Folge, dass man sich immer wieder in Frage stellen musste, fand ich absolut motivierend.

Doch das hat sich offenbar geändert.

Ja, leider. Wie sie wissen, wurde die Klassierung von 2006 annulliert und bis heute nicht anerkannt. Gegen die Klassierung von 2012 bestehen weiter Einsprachen, auch sie ist nicht endgültig ratifiziert. Und auch gegen den Modus der Neuauflage von 2022 gibt es bereits Einsprachen durch drei Güter.

Der einstige Qualitätsmotor scheint folglich gefährlich ins Stottern zu kommen.

Das ist leider richtig. Es kommt dazu, dass auch Angélus, die Familie und mein Vater nicht eben freundlich behandelt wurden. Ich will nicht auf Details eingehen. Sagen wir einfach, dass ich immer weniger Lust hatte, mich diesem ganzen unnötigen Lärm auszusetzen. Ich war absolut bereit, alle offiziellen Vorgaben und Regeln rund um die Klassierung zu akzeptieren wie jeder andere, nicht aber, meine Zeit damit zu verlieren, mich mit Anwälten herumzuschlagen und unaufhörlich ungerechte Angriffe parieren zu müssen. Noch einmal: Mein erstes Ziel ist die Qualität unserer Arbeit. Solange die Klassierung dieser Qualität förderlich war, war ich voll dabei. Doch mehr und mehr war das Gegenteil der Fall. Die Klassierung wurde zum Klotz am Bein, der uns daran hinderte, gelöst und vertrauensvoll in die Zukunft zu blicken.

Dieser Meinung waren auch wir mehr und mehr. «Klassirrung» nannten wir das ganze Theater vor einem Jahr. Dennoch: Setzen sie sich nicht der Gefahr aus, sich in Saint-Émilion noch mehr zu isolieren?

In aller Bescheidenheit: Wir sind das einzige Gut, das jede Stufe der Klassierung geschafft hat. Ich sage das nicht, weil ich uns für besser halte als die anderen, sondern weil ich weiss, welche Arbeit dahinter stand. Den Stellenwert dieser Arbeit und deren eigentliches Resultat, der Stil und die Qualität der Weine sowie deren hohe Akzeptanz durch den Markt, durch die Weinfreunde in aller Welt, das alles kann uns niemand streitig machen. Ich will einfach weg von dem ganzen Rummel.

Wie hat Ihr Umfeld, die Familie, auf den Entschluss reagiert? Was meinten die Angestellten dazu?

Positiv und aufgeschlossen. Ein Mitarbeiter meinte gar, die letzte Stufe, die Angélus nach der Klassierung als Premier Grand Cru Classé A noch nehmen könne, sei doch genau, auf die Klassierung zu verzichten. Auch Familie, Verwaltungsrat und Aktionäre zeigten sich empfänglich für meine Argumente und stimmten dem Entschluss schliesslich zu. Ich habe ferner vorab auch mehrere Vertreter der lokalen und regionalen Institutionen sowie der nationalen Weinbaubehörde INAO ins Vertrauen gezogen. Niemand hat bis jetzt diesen Entscheid beanstandet.

Angélus gehört zu den Lokomotiven des modernen Saint-Émilion und hat sich in den letzten 30 Jahren auch immer enorm für das Kollektiv eingesetzt. Davon hat das Gut offenbar nicht besonders profitiert. Fühlen Sie sich da nicht etwas frustriert?

Vielleicht gehört das zum Preis, den man für den Erfolg bezahlen muss. Doch noch einmal: Was passé ist, ist passé. Mich interessiert die Zukunft. Wir bleiben Saint-Émilion, den Produzenten und ihren Weinen weiter verbunden.

Sie steigen aus der Klassierung aus, und mehr und mehr Küchenchefs verzichten auf Michelin-Sterne. Sie betrieben auch zwei Sternerestaurants in Bordeaux und in Saint-Émilion. Verzichten Sie bald auch auf diese Auszeichnungen?

Daran habe ich gar nicht gedacht. Ja, wir haben einen jungen und sehr talentierten Chef. Er hat die Sterne erarbeitet, nicht wir! Wir sind Neulinge in der Gastronomie. Die Sterne macht uns bisher niemand streitig. Ganz ehrlich: Ich hatte nicht die geringste Absicht, Sterne zu erwerben. Doch natürlich freue ich mich über diese Anerkennung. Noch einmal: Wenn Auszeichnungen nützlich sind, und damit meine ich, wenn sie besondere Talente fördern und zu qualitativ hochstehender Arbeit anregen, bin ich voll dafür. Wenn sie kontraproduktiv werden und Neid und Feindschaft auslösen, wende ich mich nicht dagegen, sondern nehme mir einfach die Freiheit, meinen eigenen Weg zu gehen. Das gilt für Angélus so gut wie für alle unsere Unternehmungen.

Stéphanie, danke für das Gespräch.