Weltklasse für jedes Budget
Bordeaux lebt
Text: Rolf Bichsel
Die Spitzenweine aus Bordeaux waren noch nie so gut wie heute, und es gab noch nie so viele davon. Doch die grossen historischen Güter der Region werden auch als Lebensraum immer attraktiver.
Krisen haben auch ihr Gutes. Sie verlangen Reflektion. Kommt dazu der Lockdown, die Quarantäne, zwingt dass regelrecht zur Auseinandersetzung mit sich selbst. «Wer in die Ferne schweift, vergisst nur zu oft, dass Gutes doch so nahe liegen kann», erklärt ein Gutsleiter in einem der Porträts in dieser Ausgabe, und fährt fort: «Weil wir nicht reisen und teils nicht mal Besucher empfangen konnten, waren wir auf uns angewiesen und entdeckten unser Umfeld neu. Dabei wurde uns bewusst, wie privilegiert wir hier in Bordeaux eigentlich sind.»
Ja, Bordeaux ist und bleibt eine verwöhnte Weinregion, jedenfalls in der Kategorie der Spitzenweine. Man mag die grossen Güter kritisieren, ihnen genau ihre Grösse und damit ihre Macht und Präsenz auf dem Weltweinmarkt vorhalten, ihre Preispolitik in Frage stellen. Ich habe mich dazu so oft geäussert, dass ich das hier nicht noch einmal tun will. Ich zähle mich ganz dreist zu den konstruktiv vorwärtsdenkenden Individuen. Was gestern war, interessiert mich nur insofern, als es das Heute und Morgen beeinflusst. Ich hasse Polarisierung und unproduktive Motzerei und strebe lieber Lösungen an. Ich suche selbst im Schlechten nach dem Guten und unterstütze es, so gut ich kann. Bordeaux ist weinmässig nicht nur eine Weltmacht, sondern zählt auch zu den innovativsten Weinregionen, ob das gefällt oder nicht. Bordeaux ist später auf den Zug der Ökologiebewegung gestiegen als etwa das Burgund (was nicht zuletzt mit der Grösse vieler Güter zu tun hat), aber heute arbeitet es konsequent ökologisch. Dutzende neue, so funktionelle wie ästhetische, aber auch fortschrittlichsten Umweltnormen gehorchende Keller sind in den letzten Jahren entstanden und entstehen weiter. Das Wohl und der Arbeitskomfort der Mitarbeiter werden immer wichtiger. Der Empfang auf den Gütern wird dank neuer touristischer Infrastrukturen laufend verbessert. Die krisenbedingte Reduzierung auf den eigenen Lebensraum hat auf vielen Gütern dazu geführt, dass Besitzer, Verantwortliche und Personal diesen vielleicht zum ersten Mal richtig wahrgenommen haben. Die Spitzengüter sind nicht nur historische Monumente. Sie sind auch eigentliche Lebensräume, erhaltenswerte Biotope, die der Mensch mit Flora und Fauna teilt. So mancher Weinmacher hat entdeckt, dass zu seinem Gut auch ein Park, Wiesen und Wald gehören, grüne Lungen, die Abwechslung in die sonst recht eintönige Reblandschaft bringen. Waldpfade werden wieder begehbar und damit für Wanderer und Radler zugänglich gemacht. Hecken und Bäume werden neu gepflanzt, um die Artenvielfalt zu erhalten oder zu erhöhen. Enten und Gänse schnattern, Hühner gackern rund um den entschlammten Teich, Schafherden und Pferde weiden auf den Wiesen, der alte Gemüsegarten wird wieder flott gemacht, all das zur Freude der immer zahlreicher werdenden Besucher. Das heisst noch lange nicht, dass Bordeaux zum Freilichtmuseum verkommt. Die eigentliche Weinregion wird einfach interessanter. Eilten Touristen früher von der attraktiven Grossstadt direkt an den Atlantik, machen sie heute auf dem Weg dorthin Halt. Und Wein wird wieder das, was er sein sollte: ein in seine Umgebung integriertes Gesamtwerk des Geniessens, entstanden im möglichst harmonischen Zusammenspiel von Mensch und Umwelt.
Nicht ganz von ungefähr hat sich das auch auf den Stil der grossen Bordeaux ausgewirkt. Ein harmonisches Umfeld führt fast automatisch zu harmonischeren Weinen. Qualitativ sind die Spitzen-Bordeaux seit längerem tadellos (und nicht nur diese, auch die Qualität der so genannten einfacheren Weine nimmt weiter zu), nicht nur dank erstklassiger technischer Installationen, sondern auch und gerade durch die drastisch verbesserte Rebarbeit. Bis vor fünf, zehn Jahren waren die wichtigsten Massstäbe für die Weinqualität Masse, Extrakt, Fülle und Dichte. Die Trinkigkeit blieb oft auf der Strecke. Kritik daran wurde mit dem Argument beiseite gewischt, grosse Bordeaux müssten Jahrzehnte reifen, das sei normal. Die Klimaerwärmung hat wenigstens ein Gutes: Zuckerreichtum und Extrakt kann heute jeder. Der Unterschied liegt (wieder) in der Frische, der Eleganz, dem Schliff der Tannine und der aromatischen Vielschichtigkeit, in genau den Eigenschaften, mit denen Bordeaux einst zu Weltruhm gelangt ist. Bordeaux hat noch nie bessere Weine gekeltert als heute und noch nie so viele davon. Nur ein Beispiel: Die Qualität der Grands Crus Classés aus Saint-Émilion, die zum Grossteil der Vereinigung AGCCSE (Association de Grands Crus Classés de Saint-Émilion) angehören und denen wir in dieser Ausgabe ein spezielles Dossier widmen, ist schlicht sensationell. Hier findet der Weinfreund aktuell grossartige, terroirtreue Saint-Émilion, die nicht ein Vermögen kosten.
Trotz leichtem Preisanstieg für den ausgezeichneten Primeurjahrgang 2020 gibt es ihren Preis werte Weine quer durch alle Kategorien. Im Schnitt unter 20 Euro etwa Fonréaud (Listrac/Médoc) oder de Malleret (Haut-Médoc); unter 30 Euro etwa Monbrison (Margaux), Olivier (Pessac-Léognan), de Sales, Laroque, Larose oder Franc Mayne (Saint-Émilion); unter 40 Euro etwa La Lagune (Haut-Médoc), Prieuré-Lichine, Lafon-Rochet oder Carbonnieux. Unter 50 Euro werden selbst absolute Spitzenweine wie Branaire–Ducru und Langoa-Barton (Saint-Julien), Beauregard oder Clos du Clocher (Pomerol) gehandelt. Und das sind wirklich nur ein paar Beispiele.
Spitzenweine zeichnen sich dadurch aus, dass sie über einen langen Zeitraum hinweg ausgezeichnet geraten. Wir haben uns daher eine amüsante Rechenübung ausgedacht und die Noten der wichtigsten 200 Bordeaux der letzten zehn Verkostungen («en primeur» und abgefüllte Weine) zusammengezählt und durch Zwei geteilt. Das ergibt eine Note auf der Hundert-Punkte-Skala. Das Resultat (von dem jeder selber wissen muss, wie ernst er es nehmen will) folgt auf der nächsten Seite.