Noch mehr Power
Verkostet: Bordeaux en Primeur 2020
Wie bereits angeführt, vereint die drei letzten Bordeaux- Jahrgänge auf den ersten Schluck mehr als sie trennt. Auf manchen Gütern ist 2020 der beste, auf anderen trifft dies auf den 2019er zu, doch gelungen sind alle drei.
Stilmässig bleibt auch 2020 vom schnell wechselnden, doch immer hitzigen Klima geprägt. Der Winter 2020 fand praktisch nicht statt, und bereits der März war frühlingshaft warm. Die Rebe trieb rund drei Wochen früher aus als im langjährigen Schnitt. Der April war mild, aber regnerisch, mit ersten Gewittern, der Mai trocken und warm: Die Blüte erfolgte Ende Mai unter idealen Bedingungen. Der Juni war ähnlich regnerisch wie 2018, doch mit grösseren Variationen von Gemeinde zu Gemeinde. Die Winzer hatten einmal mehr alle Hände voll damit zu tun, Pilzkrankheiten im Zaum zu halten. Die Sommermonate waren heiss und sehr trocken, doch aufgrund des frühen Austriebs und der Wasserreserven im Boden kam es kaum zum Wachstumsstopp. Das schöne, trockene Wetter hielt bis Mitte September an.
Die Trauben für die trockenen Weissen wurden in den letzten Augusttagen geerntet, Merlot- und die ersten Cabernettrauben ab dem 10. September. Der regnerische Herbst zwang die Winzer jedoch dazu, ihre Rotweintrauben rasch und bis Ende September zu lesen. Die Trauben der kühleren Lagen für den Cabernet Sauvignon reiften folglich nicht immer hundertprozentig aus. Die Trauben für die edelsüssen Weine wurden bereits Anfang September reif, doch die Edelfäule stellte sich nur langsam ein und litt später unter dem Regen. Sauternes- und Barsactrauben mussten relativ rasch gelesen werden: Das Resultat ist vielleicht nicht auf der Höhe der absoluten Spitzenjahre, doch besser als erwartet. Ausgezeichnet geraten sind einmal mehr auch die trockenen Weissen, auch wenn sie nicht ganz die aromatische Frische der 2019 besitzen.
Sieger nach Punkten unter den Rotweinecken ist Saint-Émilion, gefolgt von Pessac-Léognan und Pomerol. Im Médoc ist der Jahrgang etwas komplexer, mit vielen ausgezeichneten, doch ab und an auch etwas eckig wirkenden Weinen: hier sollte man unsere Verkostungsnotizen besonders genau studieren. Mit gut ausbalanciertem Feuer, Rasse, Gehalt und Tiefe erinnern die Rotweine stilmässig erneut etwas an die besten Kreszenzen der Toskana. Wer zeitgemässe, hervorragend gemachte, echt fröhliche, mitunter gar freche, temperamentvolle Weine schätzt, die schon in ein paar Jahren Freude machen werden, aber auch lange reifen können, Weine, die direkt den Bauch ansprechen, kommt in Bordeaux zurzeit voll auf seine Rechnung.
Wir haben es in unserer Einleitung am Anfang dieser Ausgabe angetönt: Auf dem Primeurmarkt wird der Jahrgang aktuell leicht teurer angeboten als der 2019er, aber meist preiswerter als der 2018er. Angesichts des hohen Niveaus der Weine verdient der 2020er dennoch eine Kaufempfehlung, ob «en primeur» oder fertig abgefüllt.
Die verkosteten Weine auf einen Blick