Preisgefälle
Spitzenbordeaux für Jeden
Von Rolf Bichsel
2019 ist in so mancher Hinsicht kein Primeur-Jahr wie alle anderen. Doch mit zwei Monaten Verspätung konnten Barbara Schroeder und Rolf Bichsel (im Bild) schliesslich Weine prüfen, die Geschichte machen werden.
Des einen Freud ist des anderen Leid – oder umgekehrt. Der banale Satz scheint hier in Bordeaux für einmal besonders gut zu greifen. Die Situation an der Weltweinfront ist alles andere als entspannt. Das gilt auch und vielleicht ganz besonders für die grossen Weine aus der Gironde. Amerika schlägt mit Einfuhrzöllen um sich, der andere potenzielle und potente Bordeaux-Käufer, Asien, hat aktuell andere Sorgen und auf dem praktisch auf Europa reduzierten Restmarkt herrscht ein Gedränge. «Ich habe seit Wochen keine Flasche mehr verkauft», beklagte sich ein Produzent kurz vor dem Ausbrechen der Covid-Krise.
Im Gegensatz dazu stehen die erstaunlich guten Resultate des Online-Handels und – noch mehr – die hohe Akzeptanz der mit einiger Verspätung lancierten Subskription des jüngsten Bordeaux-Jahrgangs, die zwar von Gut zu Gut unterschiedlich gut verlaufen ist, aber insgesamt besser als erwartet. Das liegt nicht nur an der unbestreitbaren Qualität und dem «poppigen» Stil des 2019er (hier kommen Sie zum Guide). Die Güter haben das Richtige getan und der Situation Rechnung getragen, mit Preisnachlässen bis zu 30 Prozent.
Nun will ich nicht auch noch in die Kerbe des «teuren Bordeaux» schlagen. Seit Jahren ist nicht Bordeaux teuer, sondern eine Handvoll Marken sind es, die sich aus dem Universum der Weintrinker verabschiedet haben und sich stattdessen in der Welt des absoluten Luxus sonnen. Ihr hoher Preis ist Garant für ihren Wert, nicht der (gewiss beachtliche) Inhalt. Lassen wir diese einfach beiseite, betrachten wir sie respektvoll als Geschichtsmonumente. Zum Trinken gibt es heute mehr als genug Weine von qualitativ und stilmässig vergleichbarem Kaliber, die zu durchaus vernünftigen Preisen gehandelt werden. Wir Weinfreunde müssen einfach lernen, nicht mehr nur 10oder 20grossen Marken zu vertrauen, sondern 100 oder 200. Prozentrechnungen allein reichen da nicht. Ein Gut, das seinen Preis um 30 Prozent von 450 Euro auf 300 Euro verringert, verdient sich immer noch dumm und dämlich. Doch wer seinen Wein für 8 Euro anbietet, kann nicht ein Drittel billiger werden, ohne seine Existenz aufs Spiel zu setzen. Lob verdient, wer generell auf einem vernünftigen Preisniveau bleibt, nicht, wer seine Preise um eine bestimmte Anzahl Prozente erhöht und senkt. Wo das liegt, muss freilich jeder für sich selber entscheiden. Für mich ist ein Spitzenwein unter 20 Euro ein absolutes Schnäppchen. Liegt sein Preis zwischen 20 und 30 Euro, ist er ein Preishit, kostet er zwischen 30 und 50 Euro, bleibt er ein Top Buy, besonders in einem «offiziellen» Spitzenjahr wie 2019.
Als ich begann, mich für grosse Bordeaux zu interessieren, kostete ein Premier Cru umgerechnet rund 100 Euro. Heute, über 30 Jahre und eine volldurchlebte Weinrevolution später, die für weit terroirtreuere, präzisere, naturnäher produzierte Weine gesorgt hat, ist das etwa der Preis, den man für eine Flasche Pontet-Canet (20 Punkte) hinblättern muss. Für einen einmaligen Wein also, der eindrücklich demonstriert, dass man auch auf 80 Hektaren biologisch und biodynamisch arbeiten kann, für einen Wein, der einmal mehr zu den schönsten, betörendsten, harmonischsten Weinen des Jahres und der Region gehört, für einen Wein, dessen Schöpfer gewaltige Investitionen getätigt haben, um ihr Gut umweltgerecht betreiben zu können. Für mich ist Pontet Canet seinen Preis wert. 2019 bietet eine einmalige Möglichkeit, diesen Wein kennenzulernen.
Knapp unter der 100-Euro-Grenze bleibt ein weiterer absoluter Spitzenwein des Jahres: Château Canon (19.5 Punkte), für mich aktuell der schönste, weil stilvollste Saint-Émilion überhaupt. Nur der beste Pomerol kostet mehr: Château Trotanoy (19.5 Punkte) schlägt mit 175 Euro zu Buche. Als vollwertigen Ersatz können wir in dieser Appellation gleich zwei Weine empfehlen: den umwerfenden Beauregard (19 Punkte/45 Euro) aus biologischem Anbau und den exquisiten Clos du Clocher (19 Punkte, 38 Euro). Wem Canon zu teuer ist: Trotte-Vieille (19 Punkte/56 Euro) führt die Verfolgergruppe in Saint-Émilion an. Der verführerische Bio-Margaux Durfort Vivens (19 Punkte/45 Euro) und der vollmundige Giscours (19 Punkte/40 Euro) sind zwei unserer Lieblingsweine in Margaux. Léoville-Barton (19 Punkte/61 Euro) vertritt die Spitze von Saint-Julien und Grand Puy Lacoste (19 Punkte/50 Euro) ist der Top-Pauillac mit dem fairsten Preisniveau. In Pessac-Léognan hat uns Malartic-Lagravière (19 Punkte/ 31 Euro) buchstäblich aus den Socken gehauen, und in Sauternes lässt der so komplexe wie komplette Guiraud (19 Punkte/ 36 Euro) alle anderen Produzenten edelsüsser Weine hinter sich.
Preis-Spass-Monumente
Guiraud und Malartic sind ja eigentlich bereits echte Preis-Spass-Bomben, besonders, wenn man bedenkt, wie mikroskopisch klein die Ernte auf dem biologisch bestellten Gut in Sauternes ausfällt. Doch es kommt sogar noch besser. In Sauternes produzieren Olivier Bernard und seine Söhne (Domaine de Chevalier) einen trockenen weissen Bordeaux, der immer besser wird: Der Lunes d’Argent von Clos des Lunes (16.5 Punkte) wird aktuell für nur 9 Euro «en primeur» angeboten! Jean-Jacques Dubourdieu, der seit dem Tod seines Vaters Denis nicht nur für Doisy-Daëne in Barsac und Clos Floridène in den Graves zuständig ist, dessen Topweine in Weiss und Rot übrigens auch unter 15 Euro bleiben, bietet mit Château Haura (16 Punkte) einen roten Graves an, der schon für 10 Euro zu haben ist.
Lust auf einen Pomerol zum Freundschaftspreis? Château de Sales, das flächenmässig grösste Gut der Appellation, feiert aktuell seine Renaissance. Der sehr gelungene 2019er (16.5 Punkte) kostet keine 20 Euro. Château Ferrière (18.5 Punkte/27 Euro) fehlt fast nie in unserer Zusammenstellung der besten Preis-Spass-Weine. Doch in diesem Jahr gehört auch der zweite biologisch angebaute Wein von Claire Villars-Lurton in diese Kategorie. Der herrliche Haut-Bages Libéral aus Pauillac (18 Punkte) schlägt mit 27 Euro zu Buche. Ein echter Preishit ist ferner Prieuré-Lichine (18 Punkte/29 Euro) aus Margaux. Und zu den Weinen, die uns seit mehreren Jahren in Sauternes verblüffen, gehört Château Myrat (17.5 Punkte/21 Euro). Weitere Empfehlungen finden Sie hier. Achtung: Alle Preisangaben in dieser Ausgabe sind Richtpreise für Endverbraucher inklusive französischer Mehrwertsteuer, wie sie uns bei Redaktionsschluss bekannt waren, und ohne Gewähr. Sie können je nach Anbieter und Umrechnungskurs sowie Nachfrage variieren und bilden folglich nur einen Orientierungswert.
Kein Primeur-Jahr wie andere
Auch wenn sie nicht ganz unerwartet kam: Von der Ankündigung der Abschottung aufgrund der Covid-Krise wurden wir bei unserer allerersten Verkostung für diese Spezialausgabe Mitte März überrascht. Wir mussten fast zwei Monate warten, bis wir wussten, wie es weitergeht und ob es überhaupt zu einer Primeurkampagne kommen würde. Das hatte auch Vorteile. Die Tatsache, dass wir unsere Notizen in Kenntnis der Preise redigieren konnten, habe ich bereits angeführt: Doch wir konnten schliesslich alle Fassmuster viel später als üblich prüfen, was den Weinen eher gelegen kam, die so etwas länger im Fass ruhen durften. Damit wir alle Weine trotz der Umstände unter optimalen Bedingungen verkosten konnten, arbeiteten wir gemeinsam mit den Dachorganisationen einen genauen Verkostungsplan aus, der uns erlaubte, die auf den Gütern eingesammelten und zu uns in unseren Verkostungsraum im Süden von Bordeaux transportierten Muster jeweils innert 24 Stunden unter die sensorische Lupe zu nehmen. Kein verkostetes Muster war so älter als 36 Stunden. Das ist besonders wichtig, denn Fassmuster sind nicht stabil; Postversand war in diesem besonderen Moment erst recht nicht angebracht. Für die Effizienz und Unterstützung danken wir allen Beteiligten! Wir beschlossen aber auch und in Absprache mit den zuständigen Stellen, für alle Güter die gleichen Regeln gelten zu lassen und absolut keine Ausnahme zu machen, das heisst, keinen einzigen Wein vor Ort auf dem Gut zu verkosten. Nur einige wenige Güter (unter anderem Lafite, Margaux, Yquem, Pétrus, Las Cases, Palmer) verzichteten schliesslich auf die Teilnahme.