Alles am Fluss

Rauzan-Ségla

mit Nicolas Audebert

Besucher empfängt die Equipe von Rauzan-Ségla seit jüngstem in einer aus Holz gezimmerten, einfachen Fischerhütte am Ufer der Gironde. Nicolas Audebert, Naturmensch und Verwalter des Gutes, fühlt sich hier wie zuhause.

Es ist schon seltsam. In Bordeaux werden die Flüsse – Gironde, Garonne, Dordogne – oft ausgeklammert. Dabei sind die Flüsse genau das, was uns verbindet. Im weiteren wie im engsten Sinn. Ich verwalte im Auftrag der Chanel-Gruppe je ein Classé-Gut sowohl am rechten als auch am linken Ufer. Das Premier-Cru-Château Canon liegt rechts der Dordogne, auf dem Kalkplateau von Saint-Émilion, das Deuxième-Cru-Château Rauzan-Ségla in Margaux, links der Gironde.

«Den Flüssen verdanken wir alles. Sie sind das, was uns verbindet.»

Nicolas Audebert

Um dieser Tatsache Rechnung zu tragen, haben wir in der Nähe von Rauzan-Ségla ein traditionelles Carrelet, eine aus Holz gezimmerte Fischerhütte auf Pfählen, errichten lassen, mitten in einer Naturzone. Vom Gut aus kommt man zu Fuss hin oder per Fahrrad. Unsere Besuchertouren beginnen wir oft hier. In Bordeaux gibt es einen versteckten Konkurrenzkampf zwischen rechtem und linkem Ufer. Die Flüsse bilden eine regelrechte Mauer. Wir schlagen lieber Brücken, als Mauern hochzuziehen. Unser Carrelet ist eine solche Brücke, buchstäblich. Wenn die Zeit es uns erlaubt, nehmen wir sogar das Schiff, um von einem Gut zum anderen zu gelangen. Noch einmal: Der Fluss ist unser Verbindungsglied.

Hier am Fluss, in unserer Hütte, in dieser Exklave von Rauzan-Ségla, geniesst man die Ruhe, die Zeitlosigkeit. Erlebt Wein als Naturprodukt. Die Natur ist allgegenwärtig. Ein Rebberg ist Teil der Natur, auch wenn man das nur zu oft vergisst. Er soll sich nahtlos in diese einfügen. Auch das gehört zu unserer Philosophie. Dem Fluss verdankt Bordeaux alles. Er hat das geschaffen, was wir heute achtlos Terroir nennen und dabei nur zu oft vergessen, dass Terroir keine Marketingfloskel ist, sondern wirklich existiert, ob es sich dabei um Anhäufungen von Kies handelt, die von der Garonne aus den Pyrenäen bis ins Médoc transportiert worden sind und die wir heute Croupes de Graves nennen, oder Ablagerungen von Lehm oder Sand, über denen sie liegen. Der Fluss hat es ermöglicht, unsere Weine schon früh in die ganze Welt zu verschiffen. Im Sommer und Frühherbst fördert der Fluss den Reifezyklus der Trauben. Im Winter und Frühling bleibt das Wasser wärmer als die Luft. Nebel steigt auf, umgibt die Reben mit einem luftigen Kokon und schützt sie vor Frost.

Hier in unserem Carrelet wird Theorie zur Praxis. Hier erfasst man die Spezifität unserer Ecke weit besser als im Keller oder im Verkostungsraum. Wer den Weg zurück zum Gut zu Fuss geht, streift zuerst durch die fetten, zu Zeiten des Hochwassers überschwemmten so genannten Palus am Rande der Gironde, die keine Reben tragen, wandert dann über die ersten Terrassen von Lehm, die nur ein paar Meter höher unter den ominösen Kieshügeln verschwinden. Letztlich ist der Fluss sogar für die Vielfalt unserer Böden zuständig. Auf Canon in Saint-Émilion kennen wir einen einzigen Terroirtypus: Merlot und Cabernet Franc wachsen auf einem breiten Sockel von Kalk. Im Gegensatz zu dieser Vertikalität sind die Böden von Rauzan-Ségla horizontal. Unser Margaux entsteht auf einem wahren geologischen Mosaik. Hier fussen vier verschiedene Sorten auf insgesamt 21 unterschiedlichen Bodenformationen. Das sorgt für die Komplexität der Assemblage und damit für die Vielschichtigkeit des Weins. Auf Canon dirigiere ich ein Streichquartett, auf Rauzan-Ségla ein Symphonieorchester. Beiden Gütern gemeinsam ist die Equipe, die sich um sie kümmert. Die völlig unterschiedlichen Vorgaben, die wir voll und ganz respektieren, werden mit der gleichen Philosophie zum fertigen Produkt: Wille zur Exzellenz, grösstmögliche Präzision der Arbeit, Trachten nach absoluter Frische, Subtilität und Harmonie.