Im siebten Schlemmerhimmel
Bistro Bordeaux
Fotos: Logis de la Cadène (www.logisdelacadene.fr.), La Chapelle de Guiraud (www.lachapelledeguiraud.com)
Bordeaux ist nicht Lyon. Oder doch? Mehr und mehr Grand-Cru-Güter lancieren Schlemmertempel und blasen so in die Glut der auflodernden Küchenszene der wichtigsten Weinregion der Welt.
Wer kennt sie nicht, die Geschichte! Nach der grossen Pest von 1665 und der Feuersbrunst im folgenden Jahr erstand London wie ein Phönix aus der Asche auf, dynamischer, schöner und strahlender denn je, und entthronte Paris rasch als die Kulturhauptstadt der westlichen Welt. Ein Vertreter der Bordelaiser Weinaristokratie erkannte die Gunst der Stunde: Arnaud III. de Pontac, Besitzer von Château Haut Brion im heutigen Bordeaux-Vorort Pessac, sandte seinen Sohn François-Auguste in die sich im Wiederaufbau befindliche Kapitale, damit dieser daselbst eine Taverne eröffne: «Pontac’s Head». Dort wurden bald nicht nur Speisen der französischen Küche serviert, sondern auch die Weine des Gutes. Was Marinesekretär Samuel Pepys schon drei Jahre zuvor überrascht in sein vielzitiertes Tagebuch notierte – dass ein neuer Wein namens Haut Brion einen «guten und ganz besonderen Geschmack» besitze –, wurde so rasch stadtbekannt, Haut Brion zum Lieblingsgetränk der britischen Intelligenzija und zum Vater der modernen Bordeaux-Grands-Crus.
Dass Wein erst durch mehr oder weniger raffinierte Speisen so richtig zur Geltung kommt und auf die Tafel gehört, ist eine zwar vielzitierte, aber offenbar nicht immer voll gewürdigte Tatsache, besonders in Bordeaux, das mehr als einmal in seiner langen Erfolgsgeschichte als kulinarische Wüste angeprangert wurde. Im Gegensatz zu anderen Hafenstädten schien Bordeaux, was die Küchenkunst anbelangt, kaum vom internationalen Austausch zu profitieren. Bordeaux sitzt zwar im Zentrum einer Region, in der so gut wie alles an Spitzenprodukten kreucht, fleucht, flösselt und gedeiht: von Tomate, Kartoffel, Spargel oder Artischocke bis zu Fisch aus Fluss und Meer, Krevetten, Austern oder Kaviar; von erstklassigem Geflügel über Lamm bis zu Rind. Doch zu echten eigenen Spezialitäten hat es Bordeaux nie gebracht, sieht man vom unsäglich langweiligen Touristengebäck Cannellé ab oder vom von portugiesischen Hausangestellten importierten Neunauge in Weintunke (Lamperoie à la Bordelaise). Selbst das Schmoren einer Rinderrippe über alten Fassringen aus Kastanie in einer Kellerecke (Entrecôte à la Bordelaise) kann kaum als kulinarische Grosstat gewertet werden. Der armselige Zustand der Bordelaiser Küche brachte Alcide Bontou, Besitzer des besten Restaurants der Stadt, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gar dazu, den Damen der gehobenen Gesellschaft gratis Kochkurse zu erteilen. Er tat dies im geschneiderten Massanzug, um zu demonstrieren, dass Kochen keine schmutzige Sache ist, sondern gehobenes Kunsthandwerk. Pikantes Detail: Er unterrichtete die Hausherrinnen auch im richtigen Umgang mit dem Wein.
Leider schien das nur beschränkt zu nützen. Verglichen mit anderen grossen französischen Städten blieb Bordeaux’ Gastroszene praktisch bis zur Jahrtausendwende eine ziemlich öde Angelegenheit. Schuld an der Misere, behaupteten Lästerzungen, waren einmal mehr die schnöden Grand-Crus-Châteaux, die ihre zahlreichen Gäste lieber in den sorgfältig renovierten, mit Antiquitäten vollgestopften eigenen vier Château-Wänden bewirteten, statt sie ins Restaurant auszuführen, denen es so an Gästen mangelte. Bis heute beschäftigen viele wichtige Güter Küchenpersonal oder lassen Speisen vom «Traiteur», das heisst vom Partyservice, kommen.
Doch die Wende kam ausgerechnet von den bösen Châteaux, deren Exponenten wohl wussten, dass gehobene französische Lebensart und Service von raren Spitzenweinen ohne kulinarische Entsprechung undenkbar sind. Vorläufer war die Familie Cazes, die auf Cordeillan Bages in Pauillac schon Mitte der 1990er Jahre ein Luxushotel mit Sternetempel eröffnete. Hier brachte es Molekularküchenkünstler Thierry Marx zu Ruhm und wurde zum Star der französischen Kochszene, auch wenn man ihm immer mal wieder vorwarf, seine kunterbunte Küche dränge den Wein in den Hintergrund. Bald hatte Cordeillan auch einen Ableger in der Stadt selber: Die Cazes erwarben den legendären Jugendstiltempel «Le Chapon Fin». Frischen Wind in die festgefahrene Küchenszene der Gironde brachten sie ferner mit dem «Café Lavinal» im Weiler Bages, gleich hinter Lynch Bages, wo sich heute die Bordelaiser Weinszene täglich ihr Stelldichein gibt. Zur Initialzündung trugen auch die Cathiard auf Smith Haut Lafitte bei, die einen so kitschig-originellen wie luxuriösen Hotelkomplex aus dem Boden stampften («Les Sources de Caudalie»), zu dem auch zwei Restaurants gehören, «La Grand’ Vigne» (Sternenküche) und «La Table du Lavoir» (Bistroküche).
Und heute? Heute scheint die Bordelaiser Küchenszene regelrecht zu explodieren. Neue Küchentempel öffnen in einem solchen Tempo, dass selbst nimmermüde Gourmands es nicht mehr schaffen, ständig up to date zu sein. Getragen wird diese Bewegung (aber nicht nur) ausgerechnet von den grossen Châteaux, die alle in Weinerlebnis, Weintourismus und Empfang auf dem Gut investieren.
Restaurant «La Chapelle» auf Château Guiraud in Sauternes: regional schlemmen, was der Bauch hält!
Ein paar Beispiele nur: «La Grande Maison» von Weintausendsassa Bernard Magrez (Pape Clément und andere) greift mitten in der Stadt zu den Sternen; auf La Dominque in Saint-Émilion erlaubt die «Terrasse rouge» Gästen einen Blick über die bekanntesten Güter von Pomerol und Saint-Émilion; ein Restaurant mit Aussicht gehört seit längerem zu Troplong Mondot; Luxusgastronomie lässt Unternehmer Silvio Denz auf Lafaurie Peyraguey in Sauternes zelebrieren; und auf Château Marquis de Terme sorgt der rührige Direktor Ludovic David dafür, dass endlich echte Bewegung in die Küchenszene des friedlich dahindösenden Ortes Margaux kommt: Das Restaurant des Gutes mit insgesamt fast 200 Plätzen öffnet im Juni 2018.
Lokale Wurzeln verstärken
Wer auf dem Gut selber nicht den Platz findet, ein Restaurant zu eröffnen, erwirbt einfach ein solches. Pavie-Besitzer Gérard Perse liefert seinen Beitrag zur Küchenszene der Gironde seit längerem mit dem Relais-Châteaux Hostellerie de Plaisance in Saint-Émilion und mit «L’Envers du Décors», dem ersten Weinbistro des Ortes. Château Angélus hat 2013 das alteingesessene Familienrestaurant «Logis de la Cadène» erworben und zum Speisetempel für gehobene Küche umfunktioniert. «Der Kauf des Logis war eine Herzenssache. Unsere Familie ist seit 1782 in Saint-Émilion ansässig. Das Logis gehört zu den ältesten Restaurants des Städtchens», erzählt Stéphanie de Boüard-Rivoal.
«So konnten wir unsere Wurzeln verstärken, unsere Verbindung zum Ort, konnten zur Attraktivität von Saint-Émilion beitragen und einen Ableger von Angélus, das ja etwas ausserhalb liegt, im Herzen des Ortes schaffen.» Zum Entschluss beigetragen hat auch die Tatsache, dass Wein und Gastronomie ein Gesamterlebnis darstellen. «Ich versetze mich in einen Besucher. Er fährt an weltbekannten Châteaux vorbei – irgendwie soll er sie doch nicht nur anschauen, sondern deren Weine auch geniessen können, in dem passenden Ambiente, mit passenden Speisen! Erst so wird ein Besuch in unserer Region zum unvergesslichen Erlebnis!»
Ein anderes Gut trägt vielleicht mehr noch als alle anderen dazu bei, Wurzeln zu verstärken, eine ganze Region attraktiver zu machen, Besucher aus aller Welt in eine Ecke zu locken, die lange zu Unrecht verkannt war, und nun langsam, aber sicher regelrecht zu boomen beginnt: Château Guiraud in Sauternes. Mit der Eröffnung des Restaurants «La Chapelle» hat das erste zertifiziert biologisch arbeitende Premier Cru, geleitet von Xavier Planty und seiner Familie, einen weiteren Stein zum Gesamtwerk «Weinchâteau als Ort der Erlebnisse» hinzugefügt. Heute kann man nicht nur durch die Reben spazieren, Blumen- und Gemüsegarten bewundern, den Bienen beim Honigsammeln zusehen oder sich in der Boutique kompetent beraten lassen, sondern im Restaurant in ungezwungener Atmosphäre sehr professionell und effizient gebrutzelte, schmackhafte Speisen aus regionalen Produkten geniessen.