Die Heimat des Merlot überrascht immer wieder

Fabelhafte ­Weine aus dem Tessin

Fotos: Siffert / weinweltfoto.ch

Mit einem Anteil von 80% Merlot in seinen Weinbergen ist das Tessin der Schweizer Kanton, der es am besten verstanden hat, seine Produktion an eine von den Kunden beliebte und nachgefragte Rebsorte anzupassen. Mit dieser Strategie gelingt es, Weinliebhaber mit qualitativ hochwertigen Weinen zu verblüffen. Aber vergessen wir nicht die restlichen 20% und die Kreativität der Tessiner Winzerinnen und Winzer, die mit ihrer Hauptrebsorte oder anderen Sorten überraschen. Innovationsgeist könnte sich in einer schnell verändernden Weinbranche als vorteilhaft erweisen.

Wie in vielen Schweizer Weinbaugebieten wird auch im Tessin schon seit langer Zeit Wein angebaut. Man nimmt an, dass es dort bereits vor zweitausend Jahren Weinreben gab. Ob unsere Vorfahren den Tessiner Wein damals schon so geschätzt haben wie wir heute, ist schwer zu sagen ... Ihr vergorenes Getränk aus Trauben hatte jedenfalls nichts mit dem Wein zu tun, den wir heute so lieben. Was wir mit Sicherheit wissen und die meisten Konsumenten erstaunt, ist, dass es im Tessin damals keine einzige Merlot-Traube gab! Es dauerte Jahrhunderte, bis eine bemerkenswerte qualitative Entwicklung eintrat und mit ihr die Einführung der Merlot-Traube. Diese ursprünglich aus Bordeaux stammende Rebsorte tauchte erst 1906 im Kanton auf. Visionäre waren schon damals überzeugt, dass sie sich an das Klima und die Böden des Tessins sehr gut anpassen würde. Ihnen verdanken wir einige unserer besten Schweizer Rotweine!

Wenig tun, aber es gut tun

Der Merlot hat sich im Tessin derart gut eingelebt und wird von den Konsumenten geschätzt, dass man fast vergisst, dass es sich nicht um eine einheimische Rebsorte handelt. In einer Zeit, in der regionale Produkte und traditionelle Rezepte immer beliebter werden, klingt es fast schon wie eine Beleidigung, von internationalen Rebsorten zu sprechen. Und dennoch schafft der Chardonnay in Graubünden Wunder, der Pinot Noir gedeiht in vielen Schweizer Regionen und der Merlot macht das Tessin berühmt. Wie kein anderes Weinbaugebiet des Landes hat es der italienischsprachige Kanton verstanden, sich auf eine Rebsorte zu spezialisieren – eine zudem sehr bekannte und beliebte –, sie zu bändigen und perfekt zu beherrschen. Wenig tun, aber dafür umso besser.

Platz für Fantasie!

Angehende Ampelografen finden im Tessin alles, um ihre Neugier zu befriedigen. Einheimische Rebsorten, allen voran Bondola, gewinnen wieder an Bedeutung. Andere bekanntere Sorten wie Chardonnay und Sauvignon Blanc bringen sehr gute Weissweine hervor. Und die Kreativität der Tessiner Winzerinnen und Winzer kennt keine Grenzen ... Einige Jahrzehnte nach dem Aufkommen des Merlot Bianco (wie der Name schon sagt, ein Blanc de Noirs aus Merlot) erlebt der Kanton Tessin einen Boom bei Schaumweinen, Naturweinen, Orange Weinen, Pét Nat (natürlicher Schaumwein) usw. Kurz gesagt, wie überall sonst geben sich die Winzerinnen und Winzer im Tessin grösste Mühe, ihre Kundschaft zu überraschen.

Heute ... und morgen?

Wie sieht das Tessiner Weinbaugebiet heute aus und wie wird es sich entwickeln? Im Gegensatz zu den grossen europäischen Regionen, die oft aufgrund ihrer Grösse deutlich unbeweglicher sind, haben kleinere Weinbaugebiete wie das Tessin den Vorteil, flexibel und dynamisch zu sein. Weltweit macht man sich Gedanken über die Folgen des Klimawandels. Das Tessin ist da keine Ausnahme. Vielleicht sogar noch mehr als andere Regionen, denn als sonnigste und zugleich regenreichste Region der Schweiz ist sie besonders von der Klimaerwärmung betroffen. Eine dramatische Situation, vor allem für biologisch bewirtschaftete Weingüter. Liegt die Lösung in den Weinbautechniken oder in der Wahl der Rebsorten? Diese Frage stellt sich die gesamte Branche. Man kann jedoch fast sicher sein, dass das Tessin immer die Heimat des Merlot bleiben wird, auch wenn vielleicht andere Rebsorten etwas mehr Platz bekommen.