Die Süsse eines milden Sommerabends
Vin Doux Naturel aus Roussillon
Sagen Sie: süss. Dann flüstern Sie: doux. Doux, duuu, mit einem schön langen, sonoren U. So ganz anders als das kurze, zischende Schlangen-S in «süss». Doux, das ist die Süüüsse eines milden Sommerabends. Die Süüüsse des ersten, zaghaften Küsschens. («bisou » auf Französisch.) Merke: Wer Süsse duzen will statt siezen, tut das besser auf Französisch. Doch «doux» bedeutet nicht einfach nur «süss». «Doux» heisst auch: mild, sanft, behutsam, leise, leicht. Darum liebe ich die deutsche Sprache. Sie ist rhythmisch und vielfältig und reichhaltig und präzise. Doch wenn es um den Klang des Geniessens geht, zieht sie schon mal den Kürzeren.
Sorry für diese Sprachetüde. Doch sie ist unumgänglich und der erste Schritt zum Verständnis für alles, was gleich kommen wird. «Natürlicher Süsswein» ist nicht nur natürlich zubereitet und natürlich süss, sondern auch sanft und mild und geläutert und abgeklärt sowie leise gereift in der ewigen Ruhe immenser Kellersäle. «Süsswein» ist da missverständlich. Ich nenne ihn darum, im Zeitalter (h)eiliger Akronyme, genötigt kurz und bündig VDN, für Vin Doux (duuuuu) Naturel.
Nunc est bibendum
Arbeitet man für die Artenvielfalt, wenn man Tiere in zoologische Gärten verfrachtet, Katzen im 50. Stock eines Wolkenkratzers hält und Hunde an der Leine? Unterstützt man die Genussvielfalt, wenn man Weine geizig im Keller hortet und da vergisst? Der zweite Schritt zum Verständnis dieses Beitrags heisst: Nunc est bibendum. Wein, gerade solcher mit natürlicher Süüüsse, macht – mit Mass – genossen weder dick noch doof und steht auch nicht unter Naturschutz. Er gehört zuerst einmal ins Glas, nicht ins Kellergrab. Zum Geniesser wird man nicht auf dem Papier und erst recht nicht vor dem Computerscreen. Geniessen lernt man am lebendigen Objekt. Ideale Lehrmeister sind VDN aus dem Roussillon, aus Dörfern wie Banyuls, Collioure, Port Vendres, Rivesaltes, Thuir, Caramany, Belesta, Estagel, Latour de France und Dutzenden weiteren Gemeinden mit Namen, die Entdeckung, Abenteuer und Erlebnis versprechen in einer Ecke noch wenig berührter Natur, in der oft einzig die Rebe ein Hauch von Zivilisation vermittelt. 80 Prozent der VDN entspringen dieser grandiosen Schaubühne französischer Weinvielfalt, in zahllosen Varianten: strohblond, golden, kupferfarben, granatrot, nur selten schon wenige Monate nach der Ernte abgefüllt und meist lange, ja, sehr lange gereift. Sie geraten so vielfältig, dass kaum zwei Abfüllungen einander gleichen, versprühen herrlichen, unbändigen Duftreichtum, streicheln den Gaumen mit sanfter, runder Douceur (Duuuu-sö-r) und natürlichem, wärmendem Feuer. Vielfältig, ja, doch nie kompliziert, nie verknorzt. Jeder, auch der unbedarfte Neuling, versteht sie, mag sie, liebt sie auf den ersten Schluck. Selbst der Kenner, der vornehm die Nase rümpft, weil sie ihm zu sehr gefallen, schnappt heimlich und ungesehen nach einem zweiten Glas.
Natürlichen Regeln folgt alles an dieser Art von Wein: Terroir, Anbau, Kelterung, Ausbau, Konzentration, Süsse, Reife.
So unterschiedlich sie auch ausfallen mögen, etwas ist allen Banyuls, Maury oder de Rivesaltes gemein: Es handelt sich um Weine aus historischen, regionalen Traubensorten, die in kargen Lagen der sonnigsten, aber auch windigsten Ecke des Landes wachsen und mit Erträgen geerntet werden, deren Bescheidenheit bei Winzern anderer Regionen nur Mitleid erregt. Das ist der Preis für den nötigen hohen, natürlichen Zuckergehalt, die Aromenvielfalt, den nötigen Extrakt.
Doch nicht nur das ist mit «natürlich» gemeint. Auch der Weinbereitungsprozess – das Einmaischen, Mazerieren, Pressen, Abstoppen der Gärung durch den Prozess der Zugabe von reinem Weinalkohol zum Erhalten der natürlichen Süsse der Traubenbeere (noch auf der Maische für Weine im Vintage-Stil, auf dem gärenden Most für die anderen) – erfolgt auf möglichst einfache, erprobte, natürliche Art. Genau so wie der monate-, jahre- oder jahrzehntelange Ausbau in Eichenfässern aller Grössen, deren Wert gerade darin besteht, in ihrem Bauch bereits Generationen von Weinen getragen zu haben, die das Holz der alten Dauben mit ihrer Duftessenz bereichern.
VDN lernt man ganz einfach kennen: mit der Nase und dem Gaumen und ohne langatmige Theorie. Will man dann ihre ganze Länge, Breite und Tiefe ausloten, empfiehlt sich hingegen eine Stippvisite in der Region mit ein paar Tagen Streifzug durch die Rebberge und Keller, wo man die Nase über das vom Winzer grosszügig geöffnete Spundloch halten und seinen Erläuterungen lauschen kann. Ein weiteres «natürlich» kommt noch hinzu: das der natürlich und naturverbunden gebliebenen Menschen, die diese einzigartigen Weine keltern. Ob in den immensen Weinkathedralen der hervorragend arbeitenden Genossenschaften oder den verwinkelten Kellern der unabhängigen Winzer: Im Roussillon reifen Schätze, von denen jeder Weinfreund nur träumen kann.