Hanglagen mit Blick aufs Meer
Cassis
Text und Fotos: Rolf Bichsel
Kein Trip ins südliche Rhônetal, ohne einen Seitensprung nach Cassis ans Meer! Die erste Weissweinappellation Frankreichs, 1936 gegründet, gehört einfach zu den unumgänglichen Stationen des Pilgers in Sachen Wein. Trotz seiner Beliebtheit als Ferienziel hat Cassis, heute auch Produzent von Rotwein und Rosé, nichts von seiner Faszination verloren und seine raren Weissweine nichts von ihrer Frische und Mineralität, auch wenn man, um dorthin zu gelangen, sich erst einmal durch das Verkehrsgewühl der Côte d’Azur quälen muss.
Man kann Cassis von Marseille aus über die D559 erreichen und muss sich erst einmal durch ewig verstopfte Vororte kämpfen, oder über die A50, eingepfercht zwischen Sattelschleppern, Kleinlastern, Lieferwagen, Campingcars und vollgepackten Breaks. Entkommt man der Betonschlange endlich, findet man sich am anderen Ende der D559 wieder, steht hier im Stau und findet nur mit Mühe einen Parkplatz. Ich setze darum nur in den Wintermonaten einen Fuss ins Zentrum.
Die Cafés und Restaurants sind dann fast menschenleer, und man kann in aller Ruhe am Hafen entlang spazieren. Die eigentliche Faszination des Ortes, für die man das alles auf sich nimmt, liegt aber nicht in der (gewiss adretten) Fussgängerzone. Die ominöse D559 führt, von der Autobahn herkommend, auch an zwei wirklich besuchenswerten Weingütern vorbei. Da ist einmal die Domaine du Paternel: Als die Familie Santini 1943 die «Ferme du Paternel» erwirbt, wird auf dem ziemlich baufälligen Bauernhof noch Polykultur betrieben, mit Reben, Obstbäumen und Getreide. Im Heute ist die rund 50 Hektar grosse Domaine du Paternel, von den Geschwistern Jean-Christophe, Olivier und Laetitia in biologischem Anbau betrieben, ein reiner Weinbaubetrieb. Wenn es eine unumgängliche Domaine in Cassis gibt, ist es diese. Alle Weine munden hervorragend, und die weissen Cassis können sogar ein paar Jahre reifen.
Das knapp 30 Hektar grosse Fontcreuse mit seinem Anfang des 18. Jahrhunderts errichteten Schlösschen und seiner langen und spannenden Geschichte steht für die Historie und Tradition der Appellation: Doch seine ausgezeichneten Weissen illustrieren dank gut eingesetzter Technik auch die besondere Frische und Fruchtigkeit, die steinige, mit Lehm versetzte, kalkhaltige Böden in Nordlage ermöglichen. Ich spare mir die Gutsbesuche allerdings meist für den Rückweg auf, fahre ein paar hundert Meter weiter und biege links in die gut ausgeschilderte Route des Crêtes ein (D141). Sie führt im Zickzack auf die Anhöhe über dem Cap Canaille. Von den «Falaises de Cassis» geniesst man einen wirklich einmaligen Blick auf den Ort und das Meer und die Calanques, versteht urplötzlich, was Giono damit meint, wenn er behauptet, in dieser Bucht müsse Odysseus geankert haben, und möchte da gar nie mehr weg. Ein anderer guter Aussichtspunkt ist die Calanque du Port Miou auf der anderen Seite des Ortes. Der Wermutstropfen kommt zum Schluss: Angesichts der beschränkten Rebfläche gibt es Cassis nicht gerade wie Sand am Meer. Ein Grossteil wird schon mal vor Ort verputzt, auf den deutschsprachigen Märkten sind Cassis nicht immer leicht zu finden. Wenn eine französische Appellation keine Absatzprobleme kennt, ist es diese. Doch Cassis gehört zu den paar Weinen, die erst richtig munden, wenn man sie vor Ort getrunken hat, umgeben von diesem einmaligen Panorama, wenn man versteht, welchen Willen es brauchte, hier weiter Wein anzubauen. Wie viel einfacher wäre es doch gewesen, die Rebberge zu verscherbeln und von den Tantiemen zu leben! Mittlerweile hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Tatsache, dass Cassis nicht völlig vom Bauboom an der Côte d’Azur verunstaltet wurde, gerade den Winzern zu verdanken ist. Allein schon darum lohnt sich der Besuch des Ortes, und allein schon darum gehört Cassis zu den Weinen, die jeder Geniesser kennen sollte.
www.ot-cassis.com
Diese ausgezeichnet gemachte, auch in Deutsch verfügbare Webpage des örtlichen Tourismusbüros gibt nicht nur einen guten Überblick über alle Facetten des Ortes. Man kann hier auch direkt Übernachtungen und Besuche (etwa auf den geöffneten Weingütern) buchen.