KULINARIK
Weinvariationen zu: Steinpilzen!
Text: Ursula Heinzelmann, Fotos: Manuel Krug
Pilze gehören in den Herbst? Ja, auch. Doch die ersten Steinpilze gibt es bereits im Sommer, wenn warmer Regen sie aus dem Boden lockt. Und uns erst in den Wald – unter Buchen musst du suchen! – und dann in den Keller, um die richtige Flasche zu diesen duftenden Verführern zu finden.
Steinpilze vereinen derart viele Widersprüche in sich, dass sie allerbeste Chancen auf den Titel «weltköstlichstes Paradoxon» haben. Sie duften betörend und schmecken doch kräftig und erdig. Sie wachsen frei für quasi jedermann im Wald – und werden doch teuer gehandelt. Von alters her ist neben dem lateinischen Boletus der aufschlussreiche Begriff Herrenpilze für die festfleischigen Schwergewichte gebräuchlich. Obwohl – der steht zugleich für den Kaiserling. Womit wir bei der Pilz-Nomenklatur angelangt wären, deren verwirrende Überschneidungen und Doppelungen weder nüchtern noch weinbeseelt richtig zu durchschauen sind. Nur ein weinnahes Beispiel: In Frankreich heisst der uns geläufigste Vertreter der Boletus-Familie, Boletus edulis, «cèpe de Bordeaux» und wird – wie könnte es anders sein? – mit grossem Vergnügen zu Pauillac & Co. verzehrt. Ist er jedoch noch ganz jung und hat sich gerade eben aus dem Waldboden gewagt, dann bezeichnet man ihn aufgrund seiner gedrungenen, geschlossenen Form als «bouchon de Champagne», Champagnerkorken.
Womit auch für die Suche nach der «richtigen» Flasche bereits alles gesagt ist: Hier gibt es keine festen Richtlinien, sondern ein ständiges Schwingen zwischen zwei Extremen. Da ist einerseits der ätherische Duft, der für manche ebenso verführerisch und dabei noch eleganter wirkt als der frischer Trüffeln und gelegentlich mangels besserer Einfälle mit Haselnüssen verglichen wird – die dann aber vom Allerfeinsten sein müssen, leicht geröstet, von den besten Piemonteser Erzeugern. Auch Walnussschalen schwingen mit und etwas Süssliches, in einer Ahnung von Marzipan wie in den besten Rancio-Weinen (was uns direkt zu einem unserer Boletus-Lieblingsbegleiter führt: Madeira – mehr dazu auf der nächsten Seite). Diese geheimnisvolle, nahezu unergründlich komplexe Aromatik der Steinpilze freut sich im Glas über alles, was den grossen Duftrausch mitträgt und vielleicht sogar einen zusätzlichen Kick beisteuert. Unter einer prinzipiellen Voraussetzung: Ein gewisser Körper und eine bestimmte Reife sind unabdingbar, um es mit den dickstämmigen Waldbewohnern aufzunehmen. Schlanke, trockene Säuerlinge aus Notstandsjahrgängen sind hier nicht gefragt.
Doch dann: Pilze in Scheiben panieren und frittieren, guten Champagner mit klassischer Brioche-Nase ploppen lassen. Mit wenig Butter und einem Hauch Knoblauch sautieren (der den Pilzduft noch verstärkt), deutlich gereiften restsüssen Riesling vom Rhein einschenken. Wenn ein kleiner Schuss Sahne dazukommt und die so eingecremten Pilze unter frische Eiernudeln gehoben werden, darf eleganter, holzgereifter Chardonnay ins Glas, gerne aus dem Burgund. Wird gar nicht gekocht, sondern lediglich in dünne Scheiben zum Carpaccio geschnitten und gewürzt (nein, Steinpilze müssen nicht zwangsläufig mit Hitze gegart werden, sondern sind tatsächlich auch roh sehr bekömmlich), dann ist komplexer, ausgesprochen mineralischer, quasi trockener Riesling von Mosel und Saar angesagt.
Hoher Umami-Gehalt
Und die andere Seite, auf der das Pendel zur Umami-Kraft schwingt? Wie so viele Pilze wachsen auch unsere «steinigen» Freunde in enger Symbiose mit bestimmten Baumarten, vor allem Eichen, Buchen, Kiefern und Fichten. Es sollte nicht überraschen, dass die innige, im wahrsten Sinne des Wortes tiefwurzelnde Verbundenheit zu diesen Nachbarn ihren Geschmack beeinflusst. Ihr auffallend hoher Umami-Gehalt – eine Aminosäure, die uns neben süss, sauer, bitter und salzig das «Herzhafte» beschert – scheint wie eine Übertragung mächtiger Bäume in geschmackliche Intensität, was sich durch den Vorgang des Trocknens noch verstärkt. Bereiten wir Risotto mit frischen Steinpilzen zu, schenken wir mittelschweren Grünen Veltliner ein. Verwenden wir getrocknete Ware, darf es gerne Nebbiolo sein. Auf der Pizza (ja, ein italienischer Klassiker!) vereint sich ihre Power mit Mozzarella oder auch Taleggio und freut sich über die saftige Frucht von Blaufränkisch und Barbera. Mit Tomaten geschmort (die ihrerseits auch grosse Umami-Helden sind) und mediterranen Kräutern darf Sangiovese der gestandenen Art ins Spiel kommen.
Wer sich jetzt fragt, warum hier nicht längst der Pinot Noir, der grosse Pilzfreund unter den Rotweinen, den ihm gebührenden Platz bekommen hat: weil der Pinot Noir, liebe VINUM-Leser, auf geschmacklicher Ebene den Steinpilzen ebenso symbiotisch verbunden ist wie diese den Waldbäumen. Weil er in seinen vielen Formen ihre Widersprüche nicht nur versteht, sondern selbst in sich trägt. Weil er wie sie nach Waldboden und Unterholz und so viel mehr duften kann... Weil er also eigentlich an dieser Stelle eine Selbstverständlichkeit darstellt. Es lebe der Widerspruch!
DIE WEINE
Unsere Weinauswahl reicht von selbstverständlich (Pinot Noir) über viel zu häufig übersehen (Neuburger) bis zu sehr ungewöhnlich (Madeira) – probieren Sie selbst.
Neuburger 2012
Erwin Tinhof, Eisenstadt, Burgenland (A)
13,5 Vol.-% | 2016 bis 2024
Nussige, getrocknete gelbe Frucht, frisch und streichelweich zugleich, mit einer fein abgestimmten Alkohol-Säure-Balance – Neuburger ist ein unglaublich vielseitiger, immer wieder unterschätzter Essensbegleiter von enormer Toleranzbreite, unaufdringlich und selbstbewusst zugleich. Überlässt den Pilzen gerne das Rampenlicht.
Shelter Winery Pinot Noir 2013
Hans-Bert Espe und Silke Wolf, Kenzingen, Baden (D)
13 Vol.-% | 2016 bis 2023
Sehr fein, transparent und duftig steigen Holz und Frucht vollkommen gleichberechtigt aus dem Glas auf; die Tannine reif, in einer tragenden Nebenrolle. Espe und Wolf haben eine neue Art badischen Spätburgunders entwickelt, die zugleich seriös und vergnüglich ist und die Pilze an ihre Waldheimat erinnert.
Barbeito Sercial Reserva
Ricardo Diogo Vasconcelos de Freitas, Câmara de Lobos, Madeira (PT)
19 Vol.-% | 2016 bis 2030
Sercial ist die säurebetonteste unter den Madeira-Rebsorten, so dass die Süsse nach fünf Jahren Reife im Holzfass zu geschmeidiger Dichte integriert ist. Das Aroma gerösteter Walnüsse und superreifer kleiner Bananen geht in die frische Erdigkeit einer grünen Landschaft nach einem warmen Gewitterregen über.